19

ELOHIM

Flügel peitschten die nächtliche Luft, während Lucien mit geschlossenen Augen dahinflog und der komplizierten Arie lauschte, die in seinem Herzen und seinem Kopf erklang und ein dunkles Muster aus Informationen in sein Bewusstsein webte. Er wusste jetzt, wer der Sänger war, wie weit er gereist war – und warum.

Also blieb Lucien stumm und sein eigenes Wybrcathl ungesungen. Er weigerte sich, irgendetwas mit dem zu teilen, der da in den nächtlichen Himmel von New Orleans sang.

Kühle, klamme Luft schlug ihm entgegen und ließ Perlen aus mondlichtgetränktem Tau auf seinem Gesicht entstehen. Lucien schmeckte noch immer Dantes Blut auf den Lippen, geheimnisvoll und süß. Er spürte noch immer dessen Zögern und Frustration, roch seine Enttäuschung, die scharf und bitter gewesen war.

Du warst immer für mich da. Was es auch immer sein mag – lass mich diesmal für dich da sein.

Nein. Wappne dich. Sperr es aus. Versprich mir, mir nicht zu folgen.

Mann!

Versprich es.

Lucien öffnete die Augen und verbannte jeden Gedanken an Dante aus seinem Bewusstsein. Sein Lied war nicht das Einzige, was er sich zu teilen weigerte. Seine Flügel rauschten durch die Nacht und brachten ihm den Boden näher, bis er auf St. Louis Nr. 3 landete. Totes Laub wirbelte unter seinem Flügelschlag über den Friedhofspfad. Seine nackten Füße berührten den kalten Steinweg.

Ein Aingeal saß auf einem nebelverhangenen Grab, auf dem der Name BARONNE zu lesen war, seine schwarzen ledrigen Flügel umschlossen seinen Körper und verhüllten diesen bis auf seine Krallenfüße vor neugierigen Blicken. Silbernes Filigran, das nur im Sternenlicht zu sehen waren, zierte seine Flügel. Sein Geruch, Ozon, brachliegende Erde und nächtlicher Tau, durchwehte die Stadt der Toten.

Jähe, ungeahnte Sehnsucht loderte in Luciens Adern auf, und er vermochte einen Moment lang kaum mehr zu atmen. Sein Puls schlug im gleichen Takt wie der unheimliche Rhythmus des Wybrcathls. Verlassenheit breitete sich in seinem Herzen aus. Es war schon so lang her. Aber ach, es war seine eigene Entscheidung gewesen.

»Sei gegrüßt, Loki. Gut gesungen«, sagte Lucien. »Ich habe deine Einladung erhalten.«

Der Wybrcathl endete abrupt, und eine schwere Stille, in der nicht einmal das Summen von Insekten zu hören war, legte sich auf den Friedhof.

»Aber nicht beantwortet. Über alle Maßen eigenartig, Bruder. « Die Flügel des Aingeals öffneten sich leicht, um den gesenkten Kopf zu enthüllen.

Silberne Zeichen und Markierungen drehten und wanden sich über die rechte Seite von Lokis nacktem Körper – über seinen Hals, seinen Oberkörper und seine Krallenhand. Golddurchwirkte Bänder waren um seine Handgelenke und seinen rechten Oberarm gewickelt. Ein schwerer goldener Ring lag ihm um den Hals. Langes rotes Haar verbarg sein Gesicht, wobei einige Strähnen im Wind wehten.

Loki hob den Kopf. Goldene Augen blitzten im Dunkeln. »Erwartest du, um deinen Horst kämpfen zu müssen?«

»Kämpfen?«, schnaubte Lucien und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mit dir?« Seine Flügel reckten sich hinter ihm empor. »Soll ich mich etwa totlachen, Bruder?«

Loki faltete mit Leidensmiene die Flügel hinter sich und blickte zum Mond auf. »Pah! Der gleiche alte Samael. Kein Sinn für Humor.«

»Zumindest habe ich mehr als Lilith.« Sogar nach mehr als tausend Jahren verspürte er noch einen Stich im Herzen, wenn er ihren Namen aussprach.

»Und das sagt ihr früherer Geliebter.«

Lucien trat einen Schritt vor, packte Loki am Fuß und riss daran. Loki sah ihn überrascht an. Seine Flügel begannen zu flattern, während er von dem Grabstein fiel.

»Hat sie dir diese ›Engel-Moroni‹-Geschichte schon vergeben? «, fragte Lucien.

»Na ja, mehr oder weniger«, brummte Loki. Er kniete auf dem nebelverhüllten Boden und sah Lucien missbilligend an. »War das nötig?«

»Aber ja. Sag, herrscht sie immer noch über Gehenna?« Ein Gesicht mit wallendem dunklen Haar, dunklen Augen und einer milchweißen Haut tauchte vor Lucien auf. Ihm lief es kalt über den Rücken, als ihm klarwurde, wie sehr Genevieve ihr geähnelt hatte. Hatte?

Noch immer kniend zog Loki einige gelbe Nelken aus der Vase, die vor dem Tor des Mausoleums stand, das mit einem schwarzen Vorhängeschloss verschlossen war. »Es überrascht mich ein wenig, dass dich das nach all den Jahrhunderten in der Welt der Sterblichen interessiert«, antwortete er. »Aber die Antwort lautet Ja, und Gabriel hat sich mit dem Morgenstern zusammengetan, um einen weiteren Feldzug gegen sie zu starten.«

Lucien ging vor Loki in die Hocke. »Klar, und du versuchst natürlich wieder mal, es beiden Seiten recht zu machen.«

Loki atmete den süßen Duft der Nelken ein, seine Augen schlossen sich genüsslich. Nebel waberte um seine nackte Gestalt und hing in seinen Flügeln. »Mhm. Klar. Aber deswegen bin ich nicht hier.«

Lucien berührte mit einer Klaue den X-Anhänger um seinen Hals. Der Wind wehte ihm einige Haarsträhnen ins Gesicht. »Das weiß ich. Du suchst eine Linie der Elohim, die nicht mehr existiert. Eine Linie, die mit Jahwe gestorben ist.«

Loki öffnete die Augen und sah ihn nachdenklich an. »Sie soll nicht mehr existieren? Also bitte! Wir wissen doch beide, dass es hier einen Schöpfer gibt.« Er knabberte mit scharfen Zähnen an den Blütenblättern. »Ich habe sein Anhrefncathl gehört, Bruder – wild, jugendfrisch, männlich. Er ist mächtig. Du musst sein Chaoslied doch auch gehört haben.«

Lucien hielt dem Blick des Aingeals stand und schwieg. Er hatte geglaubt – hatte gehofft –, die Elohim hätten sich schon so lange aus der Welt der Sterblichen zurückgezogen, dass Dantes Lied ungehört verklingen würde. Dass der erste Creawdwr, der seit Jahwe geboren worden war – und der erste Schöpfer gemischter Herkunft –, irgendwie unentdeckt bleiben würde.

Eine törichte Hoffnung. Ein verzweifelter Glaube.

Loki ließ die Nelken sinken und sah Lucien eine Weile an. »Ich hätte aber nie erwartet, dich zu finden. Von dir spricht man noch immer nur hinter vorgehaltener Hand.«

Lucien schüttelte den Kopf. Er war angewidert. Hinter vorgehaltener Hand. Weil er versucht hatte, einen gepeinigten Creawdwr zu befreien. Jahwes gequälte Stimme und seine verängstigten Worten hallten nach all der Zeit noch immer in seinen Ohren wider.

Lass mich. Sollen sie mich haben.

Seine Gedanken wanderten zu Dante zurück. Um sein Herz legte sich eine kalte Faust. Er sah Loki an, der ihn aufmerksam beobachtete. Der Aingeal zupfte ein Blütenblatt ab und schob es in den Mund. Sternenlicht schillerte auf seinen Stammeszeichen.

»Gemeinsam könnten wir diesen Creawdwr binden«, sagte Loki. »Wir könnten ihn vor dem Wahnsinn retten. Wir könnten ihn fesseln und ausbilden. Wir könnten die Elohim vereinigen, und du könntest wieder über Gehenna herrschen. «

»Herrschen«, spie Lucien. »Überlege es dir genau, bevor du mich ein zweites Mal beleidigst.« Er stand auf, die Hände zu Fäusten geballt. »Ich werde nie zulassen, dass dieser Creawdwr an den Willen der Elohim gebunden wird. Hör genau zu: Lieber töte ich ihn.«

Lokis Gesichtsausdruck erstarrte. Er sah auf die Blumen, die er in der Hand hielt. »Du kannst ihn nicht davor bewahren, den Verstand zu verlieren, Bruder. Nicht allein«, sagte er nachdenklich. »Wenn du ihn nicht bindest, wäre der Tod möglicherweise wirklich das Beste für ihn.«

»Ich kann ihn nicht allein binden.« In Luciens Stimme lag Bitterkeit, eine Bitterkeit, die ihn selbst überraschte. Er wandte den Blick ab.

»Du brauchst mich.«

Lucien lachte. »Bis jetzt bin ich gut allein zurechtgekommen. « Er sah in Lokis goldene Augen. »Ausgerechnet du willst mir mit der Wahrheit kommen?«

Loki strich sich den Blütenstaub von den Lippen und versuchte, nicht zu zeigen, dass er lächelte. »Unser Geheimnis«, sagte er. »Lilith und der Morgenstern werden es nie erfahren. Niemand wird es erfahren. Du kannst mir trauen.« Er sah Lucien mit gespielter Aufrichtigkeit an. »Ich schwöre es, Samael. Bei meinem Namen.«

»Ah.« Lucien hob die Hände und betrachtete das Blut, das aus den Wunden quoll, die er sich durch seine Krallen zugefügt hatte.

»Dein Anhänger gefällt mir«, sagte Loki und schob sich weitere Nelken in den Mund. »Ein Zeichen für Freundschaft. Ein Geschenk?«

»Ja. Von meinem Sohn. Ein ganz besonderes Kind.«

Loki verschluckte sich vor Sprachlosigkeit, hustete eine Weile und lächelte schließlich. »Du hast einen Sohn? Ich gratuliere …«

Lucien hielt seine blutenden Hände über Lokis Haupt. Blasses, ätherisches Licht floss aus seiner Haut und vermischte sich mit dem Nebel. Blut tropfte auf die rote Mähne des Aingeals und dann auf die nebelverhangene Erde, mit der es sich vermischte.

Lokis Augen weiteten sich, als ihm bewusst wurde, was er gerade gehört hatte. »Ein besonderes Kind … der Creawdwr!« Unfähig, sich von der Stelle zu rühren, schlug er schützend seine Flügel nach vorn. Der blasse Nebel wickelte sich um den hockenden Aingeal und wob allmählich ein festes Netz um ihn.

»Gebunden durch Erde, Blut, Luft und die Kraft deines wahren Namens, Drwg von den Elohim, fessle ich dich an deinen Schwur und versiegle dich in Stein«, sagte Lucien mit einer tiefen Stimme, die in der Nacht widerhallte. »Keine Stimme, kein Blick, kein Odem, bis ich das Siegel breche und dich wieder zu Fleisch zurückverwandle. Bei meinem Namen, so soll es geschehen.«

Zutiefst erschöpft ließ sich Lucien auf ein Knie nieder und zeichnete eine goldene Glyphe auf Lokis steinerne Stirn. Dann musterte er die hockende Gestalt. Die Flügel nach vorn gelegt, den Mund weit aufgerissen in einem endlosen Schrei, zum Teil verschlungene Blumen in einer Krallenhand – so bewachte Loki das Mausoleum mit dem Eisentor, ein unwilliger Wächter der Ewigkeit.

»Jetzt vertraue ich dir, Bruder.«

Luciens Flügel trugen ihn in die Nacht. Er drehte sich über der leuchtenden Stadt mehrfach um die eigene Achse, während er den breiten, sich dahin schlängelnden Fluss in der Ferne sah. Tief sog er die eiskalte Luft ein. Dennoch lag ihm die Furcht dunkel und schwer wie Marmor im Magen.

Dantes Anhrefncathl – das einzigartige Lied eines Creawdwrs – hatte die dünne Mauer zwischen Gehenna und der Welt der Sterblichen durchdrungen.

Hatte nur Loki Dantes Lied gehört? War er aus eigener Entscheidung gekommen? Oder hatte ihn jemand geschickt?

Weit über Lucien dröhnte ein Flugzeug durch die Nacht. Seine Scheinwerfer durchdrangen das Dunkel. Nach einer Weile wurde das Brausen seiner Motoren allmählich leiser und verklang.

Wie lange konnte er sein Kind noch vor den Elohim verstecken? Wie konnte er Dante davon abhalten, seine Gaben als Creawdwr zu nutzen? Gaben? Seit wann war Wahnsinn eine Gabe? Der letzte Creawdwr hatte sein Gesicht in eine brennende Lichtsäule verwandelt und mit einem Blick Bäume in Brand gesteckt.

Ich bin.

Alter Schmerz schnürte Lucien den Hals zu. Es hatte Jahwe nicht vor den höfischen Intrigen der Elohim und seinem eigenen zerfallendem Bewusstsein retten können.

Auch Jahwe hatte ihn Freund genannt.

Luciens Finger schlossen sich um den kalten Anhänger um seinen Hals. Es war Zeit, Dante die Wahrheit zu sagen. Es war Zeit, Dante seinen Namen zu geben. Seine Gedanken wandten sich erneut Genevieve zu, der schönen jungen Sterblichen, die eine kurze Zeit geliebt hatte. Dante war ein Blutgeborener, ein Vampir von Geburt an. Was bedeutete, dass jemand Genevieve während ihrer Schwangerschaft gezeugt haben musste.

Lucien ließ den Anhänger los. Wo war Genevieve? Ob sterblich oder Nachtgeschöpf – sie hätte ihren gemeinsamen Sohn nie aus eigenem Antrieb im Stich gelassen. Nicht, solange sie lebte.

In seinem Herzen schwelte düstere Gewissheit. Genevieve, die lachende, wissbegierige Absolventin der Ursulinenakademie, atmete nicht mehr. Er erinnerte sich an den Geißblattduft ihres dunklen Haars, die Wärme ihrer Umarmung, die Fragen in ihren dunklen Augen.

Wenn es dich gibt, Lucien, muss es auch Gott geben.

Jahwe ist tot, meine Kleine. Die Sterblichen müssen ihre eigenen Götter werden.

Die Kirche will Gott sein. Aber sie ist leer. Ich habe es gespürt, als ich zum ersten Mal in einer Kirchenbank kniete. Aber Liebe existiert. Liebe und Glaube.

Glaube an einen toten Gott?

Nein, ma chérie. Aneinander.

Kalter Wind stach Lucien in die Augen und vereiste die Nässe auf seinem Gesicht. Dante würde ihm nie verzeihen. Weil er nichts gesagt hatte. Weil er ihn getäuscht hatte. Weil er nicht gewusst hatte, dass es ihn gab. Wäre das Buße genug, geliebte Genevieve? Wenn ich den Hass unseres Sohnes auf mich ziehe, er dafür aber lebt und bei Verstand bleibt? Wird das reichen?

Ich wollte immer zu dir zurückkehren …

Lucien öffnete seine Verbindung zu Dante durch einen Energieblitz. Ein scharfer, kristallklarer Schmerz detonierte in seinem Inneren. Wut, untröstlich und allumfassend, heulte durch seinen Kern. Dantes innere Schilde waren gefallen und zerstört.

Fassungslos und überwältigt von der Kakophonie, die ihm entgegenschlug, kam Lucien ins Taumeln und jagte auf die glitzernde Stadt unter ihm zu.