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NÄHER ALS JE ZUVOR

Ihr nackter Körper lag mit dem Gesicht nach oben auf dem zerknüllten Bett, die Hände an die Bettpfosten gefesselt, die Beine gespreizt, einen schwarzen Strumpf um den Hals gelegt und zugezogen. Stichwunden übersäten ihre Brüste und ihren Bauch. Langes, dunkles Haar verbarg zum Teil ihr Gesicht, das der Tür zugewandt war. Blut und Schaum befleckten ihre Lippen, und ihre Zunge hing leicht heraus. Wimperntusche, Kajal und getrocknete Tränen waren über ihre Wangen verschmiert. Ihre halb geschlossenen Augen schienen auf Heather zu blicken.

In beide milchweißen Innenseiten der Schenkel war das Anarchiezeichen geschnitten.

Blut troff auf den Teppich. Heathers Augen folgten ihm zu den durchtränkten Leintüchern, den blutverschmierten Oberarmen bis zu den vertikal aufgeschlitzten Handgelenken. Jetzt sah sie nur noch die herabfallenden Blutstropfen. Gerade erst gestorben. Vor Minuten? Höchstens vor einer halben Stunde.

An der Wand hinter dem Bett stand in Blut eine Nachricht – in unregelmäßigen, schrägen Buchstaben, die fast die ganze Wand bedeckten.

 

WACH AUF S

»Gina«, wisperte Dante.

Heather sah ihn scharf an. »Sie kannten die Frau?«, fragte sie.

Dante nickte, und Zweifel, Schock und etwas, das Heather nicht genau benennen konnte, standen ihm ins Gesicht geschrieben. Er tastete nach seiner Sonnenbrille, die er auf den Kopf hochgeschoben hatte, und setzte sie sich wieder auf die Nase.

Heather nahm ihre Achtunddreißiger in die linke Hand und zog ihr Handy aus der Tasche. Hastig wählte sie die Nummer des achten Distrikts. »Hier Agent Wallace«, meldete sie sich, als jemand abnahm. »Im Club Hell in der St. Peter Street 666 hat es einen Mord gegeben.«

Heather legte auf, ließ das Mobiltelefon wieder in die Tasche gleiten und richtete den Blick auf die regenfeuchten Vorhänge, die neben der offenen Balkontür herabhingen.

Vielleicht war der Killer verschwunden, als sie den Club betreten hatten. Oder …

Heather schob Dante beiseite, um eintreten zu können. »Bleiben Sie hier.«

Oder vielleicht hatte er gar nicht mehr die Gelegenheit dazu gehabt.

Die Achtunddreißiger wieder mit beiden Händen festhaltend, schlich Heather durchs Zimmer, vorbei an dem Bett mit der Ermordeten, zur Balkontür hinüber. Dort trat sie auf den Balkon hinaus, wobei sie in die Hocke ging und die Pistole auf das andere Ende richtete. Der nasse, glitschige Balkon war leer. Sie lehnte sich an das schwarze Eisengeländer und senkte die Waffe.

Dann sah sie auf die Straße hinunter. Einige frühzeitig eingetroffene Mardi-Gras-Besucher wankten über den feuchten Gehsteig. Gelächter schlängelte sich zu ihr herauf wie Rauch.

Heather wischte sich den Regen aus dem Gesicht und schloss für einen Augenblick die Augen. Zwei Morde an einem Ort. Noch eine Veränderung im Muster. Die Gewalt wurde schlimmer. Warum gerade jetzt und warum hier?

Motorengeräusche ließen Heather die Augen wieder öffnen. Zwei Polizeiwagen kamen die enge Straße entlanggerast, gefolgt von einem Zivilfahrzeug mit Blaulicht. Alle drei kamen mit quietschenden Reifen vor dem Club zum Stehen. Als die uniformierten Polizisten ausgestiegen waren, machte sich Heather durch ein Handzeichen bemerkbar.

»Hier oben!«, rief sie. »Die Tür ist offen.«

Sie schob den Vorhang beiseite und trat wieder ins Zimmer. Dante war nicht stehen geblieben, wie sie ihm befohlen hatte. Er saß auf der blutdurchtränkten Matratze neben der Leiche des Mädchens. Seine Lederjacke hatte er über den Körper des Opfers gebreitet.

»Gina – er hat gesagt, sie heiße Gina«, dachte sie.

Heather konnte Dantes Gesicht nicht sehen; seine Aufmerksamkeit galt den aufgeschnittenen Handgelenken des Opfers. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt. Der Blutgestank, das Echo von Gewalt und Angst, das noch im Raum widerhallte, der verschleierte Blick – nichts davon schien Dante zu ängstigen. Die meisten Menschen wären nicht in der Lage gewesen, im gleichen Zimmer mit dem Leichnam einer Freundin zu sein, geschweige denn an ihrem blutdurchtränkten Bett zu sitzen.

Aber Dante hatte alles, was er wahrscheinlich empfand, beiseitegeschoben, um sie zu bedecken, um ihr zumindest einen letzten Rest von Würde zurückzugeben.

»Sie ist noch warm«, sagte er.

Heather ging neben dem Bett in die Hocke und berührte Dantes Arm. »Ich weiß, das ist schwer«, erklärte sie. »Ich weiß es wirklich. Aber Sie müssen die Jacke wieder wegnehmen. Wir müssen den Tatort sichern.«

Dante wandte sich ihr zu und sah sie an, seine Augen waren hinter seiner Sonnenbrille nicht zu erkennen. »Er hat ihr alles genommen«, sagte er mit sanfter, heiserer Stimme. »Die Jacke bleibt.«

»Ich verstehe Sie«, antwortete Heather. Hatte jemand dasselbe für ihre Mutter getan? Oder war überhaupt auf die Idee gekommen? »Ich wünschte, ich könnte sie tatsächlich dort liegen lassen. Aber Sie könnten damit Beweise zerstören.«

Draußen waren die Schritte der Polizisten zu hören, die die Treppe heraufkamen. Dante stand auf. Heather streckte die Hand aus und hob seine Jacke vom Körper der Toten.

»Es tut mir leid«, sagte sie.

Dante nahm die Jacke. »Das glaube ich Ihnen sogar.«

Heather berührte ihn behutsam am Ellbogen. »Sprechen wir draußen im Flur weiter«, antwortete sie mit leiser und – wie sie hoffte – tröstender Stimme. »Sie dürfen hier nicht bleiben, und ich würde Ihnen noch gern einige Fragen stellen.«

Sie wünschte, er würde die Sonnenbrille abnehmen. Unfähig, seinen Blick zu lesen war es ihr auch unmöglich, seine Empfindungen einzuschätzen. Aber sein angespannter Kiefer und seine fahrigen Gesten sprachen Bände. Sie wollte ihn nicht aus dem Zimmer drängen, würde es aber tun müssen, falls er es nicht anders verlassen wollte.

Doch Dante trat mit einem knappen Nicken über die Schwelle in den Gang hinaus. Dort blickte er in Richtung Treppe. Beruhigt folgte ihm Heather.

»Welche Fragen?«

»Wann haben Sie Gina das letzte Mal gesehen?«, wollte sie wissen.

»Gestern.«

Heather starrte Dante entgeistert an. Sie hatte das Gefühl, gerade hätte jemand einen Kübel Eis über ihrem Kopf ausgeschüttet. »Gestern? Sind Sie da ganz sicher?«

Noch ein Muster, das er durchbrochen hatte. Der CCK — falls es überhaupt der CCK war – hatte seine Opfer bisher immer einige Tage lang gefangen gehalten. Ihr Bauchgefühl flüsterte ihr jedoch zu: Er ist es, er ist es.

»Natürlich«, antwortete Dante. »Wir waren zusammen in diesem Zimmer.«

Kein Zufall. Dante hatte sie finden sollen. Heather warf einen Blick auf die blutverschmierte Wand hinter dem Bett. WACH AUF S. Beim letzten Mal hatte es nur »Wach auf« geheißen. Wofür stand das S?

Konnte eine auf Dante bezogene Obsession der Grund für das veränderte Muster sein? Galten die Botschaften ihm? Lafayette. Das mit dem Anzünder eingebrannte Symbol auf Daniel Spurrells Brust … die Bilder von Dante mit dem Anarchiezeichen um Hals und Handgelenk … wenn er derjenige war, der die Leiche finden sollte … Heathers Puls begann zu rasen.

Er kommuniziert. Mit Dante.

Sie war ganz nahe an ihm dran. Viel näher als jemals zuvor.

»Bedeutet Ihnen ›Wach auf S‹ etwas?«, erkundigte sie sich.

In diesem Moment kamen zwei uniformierte Beamte um die Ecke. »Special Agent Wallace, FBI«, sagte sie. »Ich hole jetzt meine Marke heraus.« Als sie die Hand in die Tasche schob, richtete einer der beiden Polizisten, der vor Aufregung und Adrenalin rote Wangen hatte, den Blick auf Dante und legte eine Hand an sein Pistolenholster.

»Sie!«, fauchte er Dante hasserfüllt an. »Auf den Boden! Los!«

»Sagen Sie Ihrem Partner, er soll das lassen«, mischte sich Heather ein und zeigte dem zweiten Beamten ihre Marke. Der Mann war älter, beleibter und wirkte sicherer als der kläffende Terrier neben ihm. »Er ist der Besitzer dieses Clubs. Er kennt das Opfer.«

»Jefferson«, seufzte der Polizist. »Es reicht. Lass es.« Kopfschüttelnd trat er vor Heather. »Manning«, stellte er sich vor und nickte in Richtung seines Kollegen. »Dieser Anfänger hier ist hinter den Ohren noch so grün wie ein Alligator.«

Heather schmunzelte. »Ehrlich? Wäre mir gar nicht aufgefallen. «

Sie warf einen Blick zu Dante. Er stand locker da und schien den inzwischen verstummten Polizeineuling nicht zu bemerken. Er gähnte sogar. Doch sie ließ sich davon nicht ins Bockshorn jagen. Deutlich konnte sie die Spannung in seinen Schultern sehen und bemerkte die bis zum Zerreißen gehende Angespanntheit seiner Muskeln.

»Gütiger Himmel.«

Heather blickte zu Jefferson, der unter die Tür getreten war. Er stand wie erstarrt da und starrte auf die gefesselte Tote und die Botschaft an der Wand. Sein Mund öffnete sich, während er die Ausdünstung des Blutes und des Todes in sich aufsog. Er wurde kreidebleich und schluckte mehrfach hörbar.

»Kotz bloß nicht da rein, du Idiot«, sagte eine Stimme.

Zwei weitere Männer stießen zu ihnen. Der, der gesprochen hatte, drängte an Jefferson vorbei und betrat das Zimmer. Seine Zurechtweisung, der zerknitterte Anzug und der lockere, selbstbewusste Gang signalisierten Heather, dass dieser Kerl Detective war – ebenso wie der Mann, der ihm folgte. Zweifellos Partner. Sein gelangweilter Blick wanderte über den Tatort, seine Lider waren wie zwei Kameraverschlüsse, nahmen jedes Detail wahr, sogen jeden Schatten und jede Blutspur in sein Gedächtnis.

Sein Partner nickte Heather zu, ein unangezündete Zigarette zwischen den Lippen, eine Kamera in den Händen. Er betrat das Zimmer mit der Toten, blieb aber gleich neben der Tür stehen. Die Kamera klickte, als er zu knipsen begann.

Manning und sein blutjunger Partner stellten sich auf beiden Seiten der Tür auf, um den Tatort zu bewachen. Jefferson wirkte grün um die Nase. Er hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet.

»Sie müssen die FBI-Agentin sein, von der mir Collins erzählt hat«, sagte der erste Detective.

»Die bin ich«, antwortete Heather. Sie kam ins Zimmer und drängte sich an dem Mann mit der Kamera vorbei. »Special Agent Heather Wallace – und Sie?«

»LaRousse«, sagte er und wandte sich Heather zu. »Morddezernat. « Er wies mit dem Kopf in Richtung seines Partners. »Das ist Davis.«

»Hi«, sagte Davis und klemmte die Kippe hinter sein Ohr. Er hängte sich die Kamera um den Hals, fasste in die Hosentasche und holte einen Notizblock mit einem daran geklemmten Kugelschreiber heraus. Als er sich Notizen zu machen begann, konnte Heather den Stift über das Papier kratzen hören.

LaRousse musterte Heather von Kopf bis Fuß, wobei er mehrfach blinzelte. »Collins hat gar nicht erwähnt, dass Sie ein ganz schöner Hingucker sind.« Er zwinkerte. »Schätze, er wollte das für sich behalten.« Grinsend schüttelte er den Kopf, so dass ihm das braune Haar in die Augen fiel.

»Das muss der Profi in ihm sein«, entgegnete Heather ruhig. »Könnte auch sein, dass er sich mehr dafür interessiert, einen Mörder zu fassen, als jemanden anzumachen.«

LaRousses Lachen verschwand. Er wies mit dem Daumen in Dantes Richtung. »Würde sich der Rockgott für die Rolle des Mörders eignen?«

Heather sah Dante an. Er stand in der Tür, seine Jacke in einer Hand, den verdeckten Blick auf sie und LaRousse gerichtet. Hätte er das Mädchen töten können, ehe ihn De Noir im Van nach Hause brachte? Konnte das der Grund sein, weshalb De Noir hinsichtlich seiner Anwesenheit im Club gelogen hatte?

Sie ist noch warm.

Blut, das auf den Teppich troff.

Der bestürzte Ausdruck seines bleichen, bleichen Gesichts.

Zu viel Zeit war seit Dantes Eintreffen in dem Plantagenhaus und ihrer gemeinsamen Rückkehr zum Club vergangen. Die Balkontür hatte offen gestanden. Kalte Luft hätte den Körper ausgekühlt. Das Blut wäre inzwischen geronnen. Nein – Gina war getötet worden, als Heather Dante nach Orleans gefahren hatte.

Ihr Blick wanderte zu LaRousse und seinen traurigen Augen. Seine übertriebene Freundlichkeit war verflogen und hatte einer eisigen Kälte in seinen blassblauen Pupillen Platz gemacht.

»Nein«, entgegnete sie. »Aber ich will ihn noch befragen.«

Sie zog ein kleines Aufnahmegerät aus der Handtasche und steckte es an den Kragen ihres Trenchcoats. »Dante, warum warten Sie nicht unten? Ich will …«

»Das können wir besser«, unterbrach LaRousse sie und wies mit dem Finger auf Dante. »Manning, bringen Sie Prejean aufs Revier. Ich bin sicher, dass wir noch ein paar alte Haftbefehle ausgraben können.«

»Was zum Teufel haben Sie vor?« Heather starrte LaRousse ungläubig an.

»Hausfriedensbruch. Vandalismus«, sagte der, den Blick auf Dante gerichtet. Ein hässliches Lächeln zuckte um seine Lippen. »Der sprüht doch überall dieses verdammte Anarchiezeichen hin.«

Dante ließ seine Jacke fallen. Ein leises Klirren von Metall war zu hören, als sie auf dem Boden auftraf. »Es ist doch immer wieder erfreulich, erleben zu dürfen, wie effizient die Polizei arbeitet«, sagte er spöttisch. Seine Hand, die noch immer in dem Lederhandschuh steckte, ballte sich zu einer Faust.

»Einen Augenblick mal …«, begann Heather, aber LaRousse nickte bereits Manning zu. Der uniformierte Polizist nahm die Handschellen von seinem Gürtel und wollte Dante am Arm packen.

Dante bewegte sich.

Zumindest nahm Heather eine Bewegung wahr; dann flog Manning quer durchs Zimmer und knallte gegen die Wand. Sein Kopf prallte gegen den Putz und hinterließ eine Delle. Die Handschellen fielen ihm aus den Fingern. Mit überraschter, schmerzverzerrter Miene tastete er nach seinem Pistolenholster.

Dante stand unter der Tür, eine Hand noch immer gehoben, die Muskeln angespannt.

»Rühr dich nicht von der Stelle, Scheißkerl!«, donnerte Jefferson und riss die Waffe hoch.

Dante richtete seine Augen hinter der Sonnenbrille auf den jungen Mann. Er ließ die Hand sinken und ballte beide Hände erneut zu Fäusten. Nur leicht senkte er den Kopf. Heather hatte genügend Straßenkämpfe miterlebt, um zu wissen, dass er sich jeden Augenblick auf den Polizeineuling stürzen würde.

Heather streckte eine Hand aus und rief: »Nein! Warten Sie!« Sie wusste selbst nicht so recht, ob sie Jefferson, Dante oder beide meinte.

Sie stürmte auf die Männer zu. Alles schien sich zu verlangsamen, als sich ihre Perspektive allein auf Jeffersons Pistole zu verengen begann. Sein Zeigefinger krümmte sich. Drückte ab. Noch während sie am Rand ihres Blickfelds eine Bewegung bemerkte – Davis und LaRousse, die helfen wollten? Oder sie abhalten? –, stürzte sich Heather auf die Waffe.

Schon während sie es tat, wusste sie, dass sie es niemals schaffen würde.

Jefferson schoss.

E nahm einen weiteren Schluck Whisky und stellte dann das gekühlte Glas auf den Nachttisch neben die halbleere Flasche Canadian Hunter. Eiswürfel klirrten. Er streckte sich auf dem Bett aus und drückte Kopf und Schultern in den Kissenberg, bis er sich eine bequeme Mulde gemacht hatte.

Er schlug die Beine übereinander, nahm seinen blutbefleckten Gedichtband, »Im Herzen des Monsters und andere Gedichte« von Juan Alejandro Navarro, zur Hand und las weiter. Er las immer wieder dieselben Verse, ohne sie wahrzunehmen. Nach einigen Minuten, die damit vergingen, dass er auf die Zeilen starrte, klappte er das Buch zu und warf es aufs Bett.

Er brauchte Schlaf, fand aber keinen. Er war zu aufgedreht. Er brannte darauf, kreativ zu sein. Immer wieder hörte er ihre Stimme – wie sie ihn anflehte, ihr doch weiter vorzulesen, und das hatte er auch getan. Mit einer sanften Stimme.

… von Frost verbrannt und Zeit markiert zieht dieses Herz seine schwarzen Ränder an sich wie eine tote Spinne ihre Beine …

Dennoch hatte sie weitergeschluchzt.

E fasste in die Tasche seiner Cordhose und holte sein neuestes Souvenir heraus. Er schloss die Augen und rieb sich mit dem schwarzen Strumpf genüsslich über das Gesicht. Er knisterte, als er über seine Bartstoppeln strich. Er konnte sie noch riechen, Schwarzkirschen und moschusartiger Schweiß. Er öffnete die Augen und starrte in eine schwarz übermalte Welt.

Hatte sie ihn gebeten weiterzulesen, nur um ihn daran zu hindern, in seine Tasche mit den scharfen Instrumenten zu fassen? Oder hatte sie wirklich seine Stimme, die Melodie des geschriebenen Wortes, hören wollen?

Bitte, nein, nein, lesen Sie mir vor, bitte … lesen Sie weiter.

E starrte in das schwarz übertünchte Licht und lauschte erneut dem Flüstern; er hörte wieder ihre Stimme – leise, bebend und verführerisch.

Lesen Sie mir vor, bitte … bitte …

Einen Augenblick lang war es in seiner Brust warm geworden, als er Gina vorgelesen hatte. Als er von dem Buch aufblickte, hatte er ein goldenes Band gesehen, das von seinem Herzen zu ihrem gereicht hatte. Dieses goldene Band hatte gezittert und sich in einen blassen Nebel aus Licht verwandelt, der sich wie flüssiger Honig zwischen Ginas Lippen schob.

Als sie die Augen wieder geöffnet hatte, waren sie ebenfalls golden.

Bitte … Lesen Sie mir vor …

Seien Sie mein Gott …

Gut, den letzten Satz hatte sie vielleicht nie gesagt. Trotzdem hatte er ihn in ihren verwandelten Augen deutlich gesehen.

 

E legt das Buch beiseite, ohne Lesezeichen, kniet sich neben das Bett und küsst sie auf die nackte Schulter. Sie erbebt, ihr Atem stockt. Als er aufblickt, entdeckt er ein hartes, hinterhältiges Lächeln hinter dem goldenen Licht, er sieht, dass sich diese honigbenetzten Lippen verlogen verziehen und das Strahlen ihres Blicks schwächen.

Eis breitet sich in seinem Inneren aus, gefriert seine Eingeweide und löscht die Glut in seinen Adern.

»Wie heißt der, den du liebst?«, fragt er, lehnt sich zurück und beobachtet ihr Gesicht.

Ihre Augen wandern von links nach rechts, suchen seine Miene nach Hinweisen ab, wie sie reagieren soll. Er bleibt ausdruckslos und gibt ihr keinerlei Tipp.

»Er wird mich holen«, haucht sie schließlich. »Er ist ein Nachtgeschöpf.«

E schiebt eine zitternde Hand in die Tasche. Kalter Stahl bleibt an seiner eiskalten Haut kleben. Er legt die Finger um den Griff seiner Klinge.

»Sag seinen Namen.«

Sie schluchzt. Schließt die Augen. Weiß vielleicht, dass er hineinblicken und ihre Lügen sehen kann. Ihren Verrat. »Er wird kommen …«

»Um deinetwillen?«, fragt E. »Nein.« Er holt die Klinge hervor. Das Licht der aufgehenden Sonne lässt sie aufblitzen. »Du bist Dante egal. Warum solltest du ihm etwas bedeuten? Du bist doch nur ein Stück Fleisch.«

Als sie den Namen hört, den sie nicht ausgesprochen hat, reißt sie die Augen auf. In diesem Moment rammt ihr E das Messer in den Bauch.

 

E rollte sich auf die Seite, Ginas Strumpf in der Hand – ein Souvenir, um über die Mysterien dieser verlogenen Schlampen nachzudenken, die sich Frauen nannten.

Sie hatte ihm mit ihrem goldenen Blick Liebe geboten, wollte ihn mit Bewunderung und flehendem Bitten verführen. Aber er war klüger und willensstärker gewesen. Er hatte die Heuchelei gesehen, die sich unter ihrer glatten Haut wand, und unter ihrem Schwarzkirschenduft hatte er Treulosigkeit gerochen – überreif und modrig.

Er hätte ihr so viel geben können. Er hätte ihr Gott sein können.

Was ihn zu einem spannenden weiteren Punkt brachte: Wenn er ein Gott war, warum brauchte er dann einen Blutsauger wie Ronin, der ihn führte … ihn kontrollierte?

Er hatte S schließlich ganz allein und ohne Hilfe geweckt.

 

Die Kugel schoss aus der Mündung. Der laute Knall hallte im Raum wider, brach sich an den Wänden und zersprengte den engen Tunnel, auf den sich Heathers Blickfeld reduziert hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde blieb ihr Herz stehen, dann verlor sich alles in rasender Geschwindigkeit.

Sie rammte Jefferson gegen die Wand. Mit einer Hand packte sie ihn am Handgelenk und riss die Waffe hoch. Davis entwand ihm die Pistole.

»Heilige Scheiße«, sagte er mit rauer Stimme. »Willst du uns alle umbringen, du Arschloch?«

»Keine Angst«, sagte LaRousse. »Er hat das Arschloch eh nicht getroffen.«

Heather sah zur Tür. Dante war nicht mehr da. Stattdessen stand er mitten im Zimmer. Sie sah zu, wie er zur Tür zurückkehrte, die Arme an die Seiten gepresst. Er wirkte bereit, sich auf Jefferson zu stürzen. Schon wieder.

Heather spürte, wie sich ihre Muskeln wieder lockerten. Sie holte tief Luft und atmete dann langsam aus, spürte, wie die Erleichterung Kräfte zehrte und sie weiche Knie bekam.

Sie fing Dantes Blick von hinter der Brille auf – oder zumindest glaubte sie das. Sie schüttelte unmerklich den Kopf. Keine Bewegung. Keine weiteren Dummheiten. Er blieb unter der Tür stehen, die Arme verschränkt, der Körper angespannt. Fast glaubte sie das Adrenalin und die Wut riechen zu können, den er ausstrahlte – und das Testosteron. Vergiss das nicht. Die vielen Männer im Zimmer brachten die Luft vor Testosteron nur so zum Knistern.

Heather wandte sich an Jefferson. »Was zum Teufel sollte das?«

Jefferson sah sie an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder. Betreten sah er zu Boden.

»Er hat seinen Partner beschützt, Agent Wallace«, mischte sich LaRousse ein. »Oder tun Sie beim FBI so etwas nicht? Hier tun wir jedenfalls alles, was nötig ist, um einem Partner zur Seite zu stehen.«

Heather schloss einen Augenblick lang die Augen und drehte sich dann um. LaRousse kniete neben Manning, eine Hand auf dessen Schulter.

»Prejean war unbewaffnet«, sagte sie gepresst. »Es gab keinen Anlass, die Waffe zu ziehen und abzudrücken, das wissen Sie genau.«

LaRousse schnaubte. Er schüttelte den Kopf und half Manning auf.

»Bring ihn zu einem Arzt«, sagte er zu Jefferson, »und schreib einen Bericht.«

»Es geht mir gut«, sagte Manning mit geröteten Wangen. »Mensch!«

Jefferson legte einen Arm um seinen Partner und führte den protestierenden Manning zur Tür. Dort stand noch immer Dante, die Hände gefaltet. Ein spöttisches Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. Er ließ die Arme sinken und trat wieder ins Zimmer.

»Je va te voir plus tard«, sagte er laut und deutlich zu Jefferson.

Aus dessen Gesicht wich alle Farbe. »Ich verstehe dieses Cajun-Gerede nicht«, stotterte er unsicher. Hastig schob er Manning durch die Tür und eilte den Flur entlang zur Treppe.

Heather blies sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht und starrte Dante verärgert an. »Sie haben wohl keine Witze gemacht, was Ihr Kooperationsproblem angeht, was?«

»Er hat zu Jefferson gesagt, er würde ihn später wiedersehen«, meinte LaRousse. »Klingt für mich nach Drohung. «

»Keine Drohung«, sagte Dante. »Wir werden uns nur zweifellos wiedersehen.«

Heather drehte sich um und sagte zu LaRousse: »Prejean ist kein Verdächtiger. Ich glaube vielmehr, er sollte in Schutzhaft genommen werden.«

»Nein danke«, sagte Dante. »Ich heiße übrigens nicht Prejean. «

»Halten Sie den Mund«, sagte Heather. »Sie sind nicht gerade hilfreich.«

»Oh, wir werden ihn ganz bestimmt in Schutzhaft nehmen«, erklärte LaRousse. Ein schmales Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen. »Im Knast. Weil er einen Beamten angegriffen hat und sich seiner Verhaftung widersetzen wollte.«

»Wir sollten mal ein paar Dinge klären, LaRousse«, verkündete Heather und trat auf den Detective zu, die Muskeln gespannt, die Fäuste geballt. »Ich leite hier die Ermittlungen …«

LaRousse beugte sich vor und fixierte sie kalt. »Da irren Sie sich, Agent Wallace«, antwortete er. »Sie leiten hier gar nichts. Sie haben nur eine beratende Funktion inne. Sie haben uns ja noch nicht einmal gesagt, ob wir es mit dem Cross-Country-Killer zu tun haben oder nicht.«

LaRousses Antwort traf Heather wie ein Schlag. Ihre Wangen brannten, doch sie wandte weder den Blick ab, noch sah sie zu Boden. Stattdessen vergrub sie die Nägel in ihren Handballen.

»Ich warte auf das Ergebnis der DNS-Analyse«, entgegnete sie mit ruhiger Stimme.

»Selbst wenn er hier ist und Sie diesen Fall übernehmen, wäre mir das scheißegal«, erklärte LaRousse. »Dieses Arschloch …«, er zeigte mit dem Finger auf Dante, »… hat einen meiner Beamten angegriffen.«

Ohne den Blick von Heather zu wenden, rief LaRousse: »Davis, legen Sie diesem Drecksack Handschellen an und bringen Sie ihn nach unten zu den uniformierten Kollegen.«

Davis ging vorsichtig auf Dante zu, die Handschellen locker in der Hand. »Ganz ruhig«, sagte er, als ob er es mit einem tollwütigen Hund zu tun hätte. »Wir können das hier vernünftig regeln. Das ist doch nicht so schwer, Prejean.«

Dantes misstrauische Miene und sein angespannter Körper signalisierten das genaue Gegenteil.

Hören Sie. Wir müssen das nicht auf die harte Tour machen.

Das ist die einzige, die ich kenne.

»Warten Sie. Zurück«, mischte sich Heather ein. »Ich werde ihm die Handschellen anlegen.«

Davis hob die Hände, um ihr zu bedeuten, dass sie seine Zustimmung hatte, behielt Dante aber im Auge, während er sagte: »Gut. Er gehört ganz Ihnen.«

Heather wusste, dass LaRousse sie genau beobachtete, als sie Davis die Handschellen abnahm und auf Dante zuging. Dante sah ihr entgegen, seine Miene wirkte wachsam, und er hatte die Fäuste geballt.

»Was haben Sie getan?«, flüsterte Heather, als sie vor ihm stehen blieb. »LaRousse keinen Tanz auf dem Abschlussball gegönnt?«

Die Andeutung eines Lächelns zeigte sich einen Augenblick lang auf seinen Lippen. Seine Hände lösten sich, auch wenn seine behandschuhten Finger weiterhin leicht gekrümmt waren, als sei er noch nicht sicher, wie er sich verhalten sollte.

Erst jetzt wurde Heather bewusst, dass sie großes Verlangen auf Dantes Gesicht gesehen hatte, als er Ginas Leichnam betrachtete, vermischt mit Schock und der Unfähigkeit zu glauben, was er da sah.

Im Zimmer stank es nach Blut. Das Bett war durchtränkt. Er glaubte, ein Vampir zu sein … war es das Verlangen eines Vampirs nach Blut gewesen, das sie gesehen hatte? Oder etwas noch Düsteres?

»Entspannen Sie sich, okay?«, sagte sie. »Vertrauen Sie mir. Ich werde das alles hier so schnell wie möglich klären.«

Schweiß rann ihm über die Schläfen, und er biss die Zähne zusammen. War es wieder ein Migräneanfall? Annie hatte oft ähnlich ausgesehen, wenn sie eine Attacke erlitt.

»Ich habe noch nie einem Bullen vertraut«, erklärte Dante heiser.

»Ich will ja auch nicht, dass Sie einem Bullen vertrauen«, antwortete sie. »Ich möchte, dass Sie mir vertrauen.«

Dante schaute sie lange an. Plötzlich wurde ihr schwindelig, und sie glaubte, sich um ihre eigene Achse zu drehen. Gerade als sie begann, panisch zu werden, ließ das Gefühl nach.

Ohne ein weiteres Wort zog Dante seine Handschuhe aus und warf sie auf einen Sessel. Dann drehte er sich um, die Hände auf dem Rücken.