[VERLUST ...- . .-. .-.. ..- ... -] Es hätte vielleicht schon gereicht, einmal in Ruhe zu prüfen, was wir aus der Digitalisierung in der Körperzeit hätten wissen können. Es gibt unzählige Beispiele, die zeigen, dass es Unterschiede zwischen analogem Material und digitalen Daten gab. Natürlich, alles, was digital war, war bequem, musste nicht gelagert werden, war in endlosen Mengen und unabhängig von Ort und Zeit verfügbar. Aber es erreichte gelegentlich nicht die Qualität von analogem Material. Ich lasse das folgende Beispiel jetzt mal auf einem zeitlich begrenzten, durch Verschlüsselung abgekoppelten Bereich meines eigenen Servers laufen. Ich bin nicht sicher, ob es so günstig ist, wenn dieser Teil meiner Erzählung, der das Analoge betrifft, gleich durch das ganze System verbreitet wird.
Es geht um eine ganz unbedeutende Situation aus der Körperzeit, die für die Menschen damals alltäglich war. Sie gingen gerne in Restaurants oder Bars, um sich zu vergnügen und miteinander zu unterhalten. An einem solchen Ort hatte sich der Besitzer auf Jazzmusik spezialisiert, die im Hintergrund lief und seinen Gästen den Aufenthalt noch angenehmer machen sollte. Das Lokal wurde bald für seine besondere Musik berühmt und blieb es über viele Jahre. Als die Digitalisierung voranschritt, tauschte der Besitzer die analoge gegen die digitale Technik aus. Kurz darauf begann ein seltsamer Prozess. Das Lokal, das bislang immer so beliebt gewesen war, dass man als Gast spontan kaum einen Platz bekam, war weniger gut besucht, wurde leerer und leerer. Was war los? Das Essen, die Getränke waren die gleichen geblieben, die Musik war dieselbe.
Den Wirt trieb diese Frage so um, dass er begann, mit den ehemaligen Gästen Kontakt aufzunehmen, um zu erforschen, warum sie nicht mehr kommen wollten. Und das fand er heraus: Die bis zum Zeitpunkt der technischen Umstellung bei den Gästen so beliebte Jazzmusik irritierte nun, störte bei Unterhaltungen oder verursachte gar Kopfschmerzen und Spannungszustände. Mit Hilfe von Experten wurde schnell deutlich, warum das so war. Die digitale CD, von der nun der Jazz abgespielt wurde, hatte einen begrenzten Frequenzbereich von etwa 20 Hz zu 20 kHz. Analoge Platten, die damals durch einen Diamanten «abgetastet» wurden, waren in der Lage, ein breiteres Frequenzspektrum abzudecken. Gerade bei komplexer Musik wie dem Jazz war das offenbar wichtig für das menschliche Ohr, das ebenfalls auf diese umfassenderen Frequenzspektren eingestellt war. Was einst Hörgenuss war, führte nun zur Hörbelastung. Deshalb blieben die Gäste aus. Der Wirt hat das System dann schnell wieder umgestellt, und sein Lokal war wieder voll. Natürlich ist das ein kleines, vielleicht unbedeutendes Beispiel. Aber es belegt doch, dass es einen Unterschied zwischen Materialität und Immaterialität gibt. Wenn das schon für die Wahrnehmung von Musik gilt, wie viel mehr musste es dann für den menschlichen Körper gelten?
Jetzt erhalte ich gerade eine Inkompatibilitätsmeldung. Selbst auf meinem Server laufen diese Analysen zu wesentlichen Komponenten der Körperzeit nicht unbeeinträchtigt durch. Ich weiß natürlich, woran das liegt und dass das System recht hat. Es lag an den menschlichen Ohren. Sie waren aus menschlicher Materie und brauchten deshalb dieses Frequenzspektrum. Heute ist alles anders. Die Musik ist im digitalen System. Auch ich bin das System. Ich bin myTunes.
Immer wenn ich etwas zum früheren Zusammenhang von Körper und Geist analysiere, erhalte ich solche Inkompatibilitätsmeldungen. Vielleicht ist das, was ich hier mache, auch mit mir selbst unvereinbar. Vielleicht tut es mir nicht gut, immer wieder darüber nachzudenken, ob etwas fehlt, nachdem der Körper vergangen ist. Mir fällt dazu gerade noch eine Geschichte ein. Es ist die Geschichte von Phineas Gage, einem Vorarbeiter bei der Eisenbahngesellschaft von Neuengland in den damaligen USA.112 Im Jahre 1848 der Körperzeit arbeitete der verlässliche und zupackende junge Mann bei der Verlegung der Bahngleise durch Vermont. Seine Truppe muss sich durch harte Gesteinsschichten bohren und dabei immer wieder Dynamit einsetzen, um ganze Felsen wegzusprengen. Phineas Gage ist gerade dabei, den Sprengstoff mit einer extra dafür angefertigten Eisenstange in das Bohrloch zu verstauen, da löst ein Funkenflug die Explosion vorzeitig aus. Die Wucht der Detonation wirbelt die Eisenstange in die Luft, die seinen Kopf trifft, durch seine linke Wange eintritt, die Schädelbasis durchbohrt und aus der Schädeldecke wieder austritt.
Gemessen an dem, was wir über den menschlichen Körper wissen, hätte der junge Mann tot sein müssen. Doch Phineas Gage lebte weiter, wurde sogar ganz schnell wieder gesund. Er konnte wieder hören, sehen, sprechen und fühlen und war auch nicht gelähmt. Alles schien wie vor dem Unfall. Doch dann setzte ein Prozess ein, der den Ärzten Kopfschmerzen bereitete. Gage wurde launisch, respektlos und fluchte nach den dokumentierten Berichten der damaligen Augenzeugen auf abscheulichste Weise. Seine ganze Wesensart hatte sich geändert. Er sah aus wie ein Mann und verhielt sich doch wie ein übellauniges aggressives Kind. Sein Niedergang begann bald nach dem Unfall, er bekam keine Arbeit mehr, reiste als Zirkusattraktion umher und starb schließlich dreizehn Jahre später.
Es gab also offenbar eine physische Basis für das Menschliche, eine unergründbare Beziehung zwischen Zellen, Empfindungen und Gedanken, die nicht nach dem digitalen Prinzip da/nicht da organisiert waren. Bei Phineas Gage war nach dem Unfall manches nicht mehr da. Die Eisenstange hatte offenbar den präfrontalen Cortex getroffen und Teile des vorderen Gehirns zerstört.113 Damit hat sie Bestandteile der Persönlichkeit verändert oder vernichtet, moralische Prinzipien zum Beispiel, Konventionen oder die Befähigung zu vorausschauendem Handeln und Entscheiden. Anderes war bei Gage überraschenderweise noch da. Er war Herr seiner Sinne, konnte sehen, hören, sprechen, war also ein «funktionsfähiges» menschliches Wesen.
Wenn ich diese Geschichte bedenke, frage ich mich, was wir heute sind. Sind wir noch Menschen – oder sind wir funktionsfähige Monster, die sehen, hören, fühlen können, weil die Stimulationen unserer Gehirne aus dem Netzwerk dies ermöglichen? Sind wir soziale Wesen oder Monaden der digitalen Dissektion? Abgeschnitten von allem, auch von denen, die wir früher einmal waren? Es wäre möglich, weil wir es nicht bemerken würden. Es wäre auch schrecklich, weil wir es nicht mehr bemerken könnten.