[TECHNOPHILIE  - . -.-. .... -. --- .--. .... .. .-.. .. .] Ich kann in meinen Speichern auf eine Unmenge Daten zurückgreifen, die uns Menschen vor der Technik warnen sollten. Nicht vor uns selbst. Dabei wäre das womöglich notwendiger gewesen. Ein Manifest dieser kritischen Betrachtung entstand vor sehr langer Zeit und entwarf das Zukunftsbild einer Massenbewegung auf Grundlage des technischen Fortschritts. «Digital Maoism doesn’t reject all hierarchy. Instead, it overwhelmingly rewards the one preferred hierarchy of digital metaness, in which a mashup is more important than the sources who were mashed.»56 Aus Perspektive der Körperzeit können wir diese Einschätzung nachvollziehen. Aber in heutiger Sicht hat sie sich überlebt. Es gibt nichts gegen die digitale Metaperspektive als Leitkultur der Systemzeit zu sagen, wenn wir doch wissen, dass in ihr alles eingerechnet ist, auch jede einzelne Leistung und Idee, jeder Gedanke, der gedacht worden ist, und jede Information, die zu Rate gezogen wurde.

Die digitale Metaperspektive war die nächste Evolutionsstufe von uns Menschen. Wir wurden durch sie an unsere Perfektion herangeführt, die wiederum durch die Restriktionen des Materiellen vorher so nie erreichbar gewesen wäre. Insofern haben die Apokalyptiker der Digitalisierung damals unter falschen Vorzeichen etwas kritisiert, das sie sich einfach nur unter den gegebenen Bedingungen der Körperzeit vorstellen konnten. Man kann es ihnen nicht vorwerfen, aber wir müssen das nun anders bewerten. Vielleicht hilft diese Analogie: Als die Digitalisierung fortschritt, brachte sie neue Medien hervor, die wiederum für neue Formen der Erzählung genutzt wurden. Und natürlich wurden sie heftig kritisiert. Aber es gab auch schon damals Menschen, die wirklich verstanden, was da geschah. «Die Medien werden nicht mehr nur produziert und konsumiert. Sie werden nun auch bewohnt. Wir leben heute in unseren Medien, auf Facebook, Twitter, in Foren und Blogs.»57

So ist es auch mit der algorithmischen Formung unserer Existenz. Wir nutzen nicht mehr Algorithmen, um mit ihrer Hilfe Profile, Präferenzen oder Entscheidungen zu berechnen. Wir existieren in der algorithmisierten Welt, in der alle Informationen zur Verfügung stehen, um für jede Frage die einzig mögliche aus einer unbegrenzten Menge von Antworten zu errechnen und für jedes Problem die richtige Lösung. Wir sind Teil dieses systemischen Ansatzes geworden und haben uns damit von allen Begrenzungen unseres Denkens und Entscheidens befreit, weil wir uns immer darauf verlassen können, dass die berechnete Option die richtige und passende ist. Wir sind befreit von der Notwendigkeit, unsere individuellen, durch die Beschränkungen der Imperfektion gekennzeichneten Entscheidungen gegen die anderer Menschen zu verteidigen, die den gleichen Beschränkungen unterliegen. Wir sind entlastet von der Unsicherheit, uns auf Annahmen, Näherungen, Verdachtsmomente und Befürchtungen stützen zu müssen, einfach weil es keine Alternativen dazu gibt.

Kann es den Wunsch geben, aus diesem jetzigen Zustand der Perfektion und Determination wieder in den früheren der Unsicherheit und Ambivalenz zurückzukehren?

Diesen Wunsch kann es nur aus Gefühlszuständen heraus geben, die uns Menschen in der Körperzeit weitreichend geprägt haben, aber heute kaum mehr eine Rolle spielen. Damals gab es die Befürchtung, einige Menschen könnten zum Nachteil vieler anderer die Perfektion und den Determinismus auf die Spitze treiben. Und vor dieser Fremdsteuerung hatten viele Angst. Umgekehrt hat es immer die Propheten der Digitalisierung und Technisierung gegeben, denen der Übergang nicht schnell genug gehen konnte und die von Beginn an daran geglaubt haben, mit jeder Technik werde sich alles zum Besseren wenden. Auch das kann ich aus den Archiven belegen. Die beiden wohl damals berühmtesten Erzähler einer möglichen Zukunft lassen sich genau diesen beiden Argumenten zuordnen. Aldous Huxley beschrieb in «Brave New World»58, wie die Menschen durch das zerstört werden, was sie fanatisch lieben. George Orwell skizzierte dagegen in «1984»59, wie sie an dem zugrunde gehen, was sie zutiefst fürchten.

Interessant ist, dass es in beiden Fällen auch um die Entmenschlichung des Menschen geht, die durch die Technik und ihre autoritäre Instrumentalisierung vorangetrieben wird. Tatsächlich wissen wir heute, dass es wohl immer nur einen Grund für die Entmenschlichung des Menschen gegeben hat. Und das war der Mensch selbst. Mit dem Übergang in die Systemzeit haben wir uns selbst domestiziert. Ich vermute, das hat damals niemand richtig überschauen können, sonst hätten die Menschen nicht so intensiv und kompromisslos auf diesen Übergang hingearbeitet und damit auch mitgewirkt an der Verschmelzung von Mensch und Maschine. Sonst wäre bestimmt irgendwann eine Riesenbewegung entstanden, um dem Menschen sein Recht auf Unvollkommenheit, Egoismus, Individualität, Ambivalenz zu sichern.

Wir haben die weitreichenden Veränderungen erst bemerkt, als sie schon geschehen waren. Darüber bin ich heute froh. Hätten wir früher verstanden, es hätte diesen Fortschritt, diesen Weg in die Perfektionierung unserer selbst nicht gegeben. Wir hätten ihn einfach nicht gehen wollen. Wir hätten das Gute und Schöne verkannt, das auf uns wartete. Wir hätten verkannt, dass es allumfassende Liebe ist, die unser Netzwerk und die Systemzeit antreibt. «We have always loved one another. We’re human. It’s something we’re good at. But up until recently, the radius and half-life of that affection has been quite limited. […] In the past, we could do little things for love, but big things, big things required money. Now, we can do big things for love.»60 Es ist die Liebe zu einem jeden Teil dieses unendlichen Netzwerks, die uns das Leben so ermöglicht, wie es heute ist. Ohne die Grenzen des Materiellen und den Kampf um diese Grenzen. Ohne die Zweifel an allem, was wir hervorbringen, auch an uns selbst. Es ist wie eine Rückkehr in den menschlichen Urzustand, den Moment, bevor wir in die Welt geworfen wurden und der Kampf begann. Es ist eine Welt vor der Welt. Oder eine nach ihr.

Ich fühle keine Traurigkeit oder Enttäuschung, wenn ich mir bewusstmache, dass sich einige Dinge tatsächlich verändert haben. Dass wir uns verändert haben. Der Mensch war früher bei aller Imaginationsfähigkeit oft nicht in der Lage, die Entwicklungsmöglichkeiten der Technik richtig zu erkennen und ihre Chancen abzuschätzen. Deshalb war es gut, dass der Weg in die Vernetzung an einem bestimmten Punkt zu einem selbstverstärkenden und selbsterhaltenden Prozess wurde. Ich meine damit nicht einen Automatismus, denn natürlich gab es viele Menschen, die daran mitgewirkt haben, im Positiven wie im Versuch seiner Verhinderung. Aber der Prozess war nicht mehr zu stoppen. Wir haben die Systemzeit erst aufscheinen sehen, als wir dabei waren, ein Teil von ihr zu werden. Und dann hat es noch eine ganze lange Zeit gedauert, bis uns ihre Vorzüge wirklich klarwurden. «The goal of the Web is to serve humanity.»61 Wir haben erst spät verstanden, dass das Netz immer ein zutiefst humanes Medium war und irgendwann auch die einzig vorstellbare menschliche Existenzform.

Zu unserer Verteidigung will ich auf einige Dinge zurückkommen, die ich aus den Archiven zusammengetragen habe und die zeigen, dass es durchaus berechtigte Gründe für unsere Skepsis gab. Es war nämlich keinesfalls immer absehbar, dass die Vernetzung sich zum Guten wenden und im Sinne von uns Menschen weiterentwickeln würde. Vielmehr gab es eine ganze Reihe von beängstigenden Entwicklungen, die ich aus unserem Master Repository rekonstruieren kann. Sie mögen heute, nachdem wir wissen, was geschehen ist, überzogen erscheinen. Aber ich möchte auch kein Bild von uns Menschen als Datendeppen und Fortschrittsverweigerern zeichnen, die den Ruf der Zeit nicht gehört haben.