[KÖRPER -.- ---. .-. .--. . .-.] Haben wir irgendwann bedauert, dass wir uns als Menschen auf die systemische Logik der Algorithmen eingelassen haben, anstatt darauf zu bestehen, unsere Wahrheiten weiterhin auch außerhalb dieser Logik suchen und finden zu können? Ich glaube, das war so. Aber der menschliche Hang zum Pragmatismus hat auch hier gesiegt. Die wesentliche Frage richtete sich auf Dauer nicht auf die philosophisch-theoretische Unterscheidung von Mensch und Maschine, sondern schlicht auf das pragmatisch Mögliche innerhalb des nicht Unterscheidbaren. Einer der großen Unternehmer am Übergang von der Körper-auf die Systemzeit hat das mit dem schmeichelnden Begriff der «augmented humanity»99 auf den Punkt gebracht. Ein klug gewählter Begriff, denn er suggeriert, es ginge im Grunde immer noch in erster Linie um den Menschen, der einfach ein wenig «angereichert» werden solle.
Was damit gemeint war, hat er auch sehr klar gesagt: «Because we know where you are – with your permission – we know where you’ve been – with your permission – we can more or less guess what your’re thinking about.»100 Zwei Dinge sind an dieser Aussage richtig: Zum einen hat niemand die Menschen gezwungen, sich der Logik der Algorithmen in allen Lebensformen zu unterwerfen. Sie haben das selbst entscheiden können, und sie haben so entschieden. Zum anderen ging es nicht um das, was noch Kurt Gödel bewegt hat – die letztgültige logische Beweisführung für alles. Es ging um pragmatische Wahrscheinlichkeiten. Um den Menschen «lesbar» zu machen, reichten wenige Daten. Um ihn vorhersagbar zu machen und damit Geld zu verdienen auch. Das funktionierte innerhalb eines zuweilen widersprüchlichen und unvollständigen algorithmischen Systems prima. Die paar Prozentpunkte Fehlertoleranz waren praktisch unbedeutend. Theoretisch interessierte sich irgendwann niemand mehr für sie.
Die gemeinsame Geschichte von Mensch und Maschine ist der historische Beweis dafür, dass Quantität zu Qualität führen kann, dass sich diese beiden Dimensionen keineswegs ausschließen oder widersprechen. Künstliche Intelligenz basiert auf Rechenkapazitäten, die wir uns früher so einfach nicht haben vorstellen können. Diese Rechenkapazitäten werden in parallelen Operationen ausgeführt und bringen Ergebnisse, wie wir Menschen sie uns damals nie hätten vorstellen können.101 Auch Searle hat sich das nicht träumen lassen. Er wollte es auch nicht erträumen. Er wollte allein dem Menschen eine «intrinsische Semantik»102 gönnen, die keine Maschine nachahmen kann. Er hat vorausgesetzt, dass der Computer im Spiel um das Verstehen nicht gewinnen kann. Nicht weil die Maschine die Spielregeln nicht kennt oder keine schlauen Züge simulieren kann. Searle hat einfach vorausgesetzt, dass der Computer ein anderes Spiel spielt. Vielleicht war das aus damaliger Sicht richtig. Inzwischen spielen wir alle gemeinsam dasselbe Spiel. Es ist das der Algorithmen.
Wir haben immer angenommen, es ginge darum, die Maschine intelligent zu machen, dem System emotionales Empfinden, Lernen und intelligentes Schlussfolgern einzupflanzen, weil es sonst nicht menschenfähig sei. Daran haben wir über Dekaden gearbeitet. Aber es gab sie nicht, die menschliche Maschine. Wir haben uns das falsch vorgestellt. Wir haben gedacht, es müsse die Identität von menschlichem Verstand und Berechnungskapazität erreichbar sein, um Mensch und Maschine zusammenzuführen. Aber das stimmt nicht. Die schiere Rechenkapazität hat gereicht. Weil mit ihrer Hilfe die Maschine den Menschen so gut simulieren konnte, dass die weitere Suche nach Identität obsolet wurde. Weil sie uns irgendwann den Eindruck vermittelt hat, die Maschine könne intelligent sein und emotional, Denker und Dichter, so wie wir Menschen es waren. Nicht dass es wirklich so gewesen wäre. Wir haben einfach aufgehört, den Unterschied zu bemerken. So haben wir aufgehört, weiterzusuchen. Und wo wir nichts mehr gesucht haben, da konnten wir allemal nichts mehr finden. «[…] man is capable of producing a world that he then experiences as something other than a human product.»103
Vielleicht waren nicht wir die Spezies mit der höchsten Intelligenz. Vielleicht haben wir nur den von uns erreichten Evolutionsschritt als solchen betrachtet, weil alles andere auch gar nicht möglich gewesen wäre. Wir haben geglaubt, es gäbe eine qualitative Form der multiplen Intelligenz, die der Computer nicht erreichen könne, nicht einmal mit Hilfe der komplexesten Algorithmen. Und auch wenn wir irgendwann hätten begreifen können, dass die schiere Rechenkapazität in ihren millionenfachen Paralleloperationen in der Lage ist, bessere Ergebnisse zu erzielen, als der Mensch je in der Lage sein würde zu erzielen, haben wir das letztlich einfach nicht wahrhaben wollen.
Ich denke oft darüber nach, ob wir mehr hätten gestalten können, wenn wir früher von dem umfassenden Drang zur Perfektionierung unserer selbst abgelassen hätten, der über die Zeit hinweg sowohl den menschlichen Geist als auch seinen Körper immer gnadenloser erfasst hatte. Unsere Körper waren uns lieb und teuer und in vielerlei Hinsicht ein Mittel für Erfahrungen, von denen ich heute nicht mehr weiß, ob wir sie immer noch machen. Vielleicht ist das längst vorbei und alles durch neuronale Stimulation und Archivbestände ersetzt. Jedenfalls erkenne ich aus den Daten des Master Repository, dass die Menschen in der Körperzeit desto stärker auf ihre physischen Voraussetzungen und Ausprägungen fixiert waren, je stärker die Digitalisierung des Lebens Einzug hielt. Wo alle Orte gleich zugänglich und die physische Anbindung der Welt im Digitalen immer schwächer wurde, da blieb nur ein Ort der physischen Beständigkeit, ein Ankerpunkt des Lebens – der eigene Körper.
Das war übrigens auch eines der Hauptargumente John Searles in seiner Analogie des «Chinesischen Zimmers»: Der menschliche Geist setze ein physisches Gehirn voraus, das so niemals durch eine Maschine nachgebildet werden könne. Alle möglichen Prozesse waren in seiner Ansicht von einer Physis abhängig. Man kann keine Pizza verdauen, indem man eine Computersimulation zur menschlichen Verdauung ablaufen lässt. Und man kann kein Kind zeugen, indem man Cybersex hat.
Das stimmte natürlich alles. Aber die Vergleiche haben an der falschen Stelle angesetzt, weil sie Unvergleichbares verglichen haben. Wir hätten damals auch sagen können, wir bräuchten immer einen fest installierten Telefonapparat, um über eine räumliche Distanz hinweg mit anderen Menschen zu sprechen. Tatsächlich kamen irgendwann die Mobiltelefone auf, immer kleiner und immer leistungsfähiger. Dann haben wir auf Chipimplantate im menschlichen Körper gesetzt, um einen Anruf mit willentlicher Zustimmung anzunehmen oder abzuwehren, ohne dass noch eine Taste gedrückt oder aufgelegt werden musste. Und heute? Inzwischen gibt es nicht einmal mehr den Unterschied zwischen «on» und «off». Wir sind immer mit allen und allem verbunden. Mit einer hochentwickelten Filtersoftware wählen wir, welche Verbindungen wann und wie aktiviert werden sollen. Es gibt nichts Materielles mehr in alledem außer den Serverfarmen, die zu den Plattformen unserer Existenz geworden sind.
Hätten wir an unseren Körpern festgehalten, darauf bestanden, dass sie in traditioneller Ausführung Teil der Systemzeit werden, dann hätte Searle recht behalten, und die Systemzeit wäre die kürzeste Epoche in der Evolution des Menschen gewesen. Wenn wir aber davon ausgehen, dass ein großer Teil der menschlichen Körperfunktionen inzwischen ersetzt ist, sodass wir durch minimale Versorgung in einer Nährstofflösung bei maximaler Vernetzung mit allem existieren können, wenn wir uns nicht mehr physisch reproduzieren, sondern ähnlich den rein digitalen Applikationen durch kontinuierliche Updates, dann zeigt sich, wo der Fehler lag. Es war die Annahme, der Körper bliebe auf immer ein Schutzraum vor der digitalen Manipulierbarkeit und Ersetzbarkeit. Und wenn irgendjemand irgendwann behauptet haben sollte, es seien fremde, nicht menschliche Einflüsse gewesen, die uns unsere Körper streitig gemacht hätten, dann ist das eine glatte Lüge. Das waren wir selbst. Jeder einzelne Mensch, der in der Körperzeit auf die permanente Verbesserung und Leistungssteigerung der eigenen Physis setzte, hat seinen Teil dazu beigetragen. Der Körper musste gesund sein, der Geist auch. Es galt der Normalfall. Und für den war in der Körperzeit zunächst die Abwesenheit von Krankheit Voraussetzung.
Wenn wir zurückschauen, entsteht ein verzerrtes Bild. Eines von Menschen, die sich der Logik der Maschine unterworfen haben, einer Funktionslogik, nach der es Fehlfunktionen gibt, die durch Reprogrammierung und Codeänderungen zu beheben sind. Es zeigt sich auch, dass wir Menschen irgendwann nicht mehr verstanden haben, was Krankheit bedeutet. Dass sie Teil der Sprache des Körpers und nicht allein eine behebbare Fehlfunktion ist. Oft gab der Körper mit der Erkrankung ein «materialisiertes» Signal, dass der menschliche Geist ohne den Bezug zu seiner Physis nicht zu entschlüsseln in der Lage gewesen war. Jede Codeänderung am Menschen hat uns also einen Teil unserer Sprache genommen und die Kommunikation zwischen Körper und Geist erschwert.
Wenn ich in den Archiven nachschaue, dann stelle ich fest, dass Krankheit damals auch zum Code der ganzen Gesellschaft gehörte. Durch die Jahrhunderte der Körperzeit lässt sich nachvollziehen, wie einzelne, weitverbreitete Krankheitsbilder die betroffenen Menschen einerseits stigmatisiert haben, andererseits dazu beitrugen, die Selbstverständigung einer Gesellschaft über Fehlentwicklungen zu ermöglichen und neue, bislang unbewältigte Herausforderungen des Fortschritts und seiner Auswirkungen zu bewältigen. So galt beispielsweise die Tuberkulose im 19. Jahrhundert der Körperzeit als Krankheit der Leidenschaft, die ein inneres Brennen des Erkrankten zum Ausdruck brachte. Eine andere Krankheit, die im 20. und 21. Jahrhundert ausgesprochen häufig war, der Krebs, wurde als Auswuchs stetiger Gefühlsunterdrückung interpretiert.104 Wenn wir diese Auslegungen vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Situation in der Körperzeit betrachten, erkennen wir den Zusammenhang: Das, was die Gesellschaft in ihrem Grundzustand erschüttert oder doch zumindest stark bewegt hat, findet sich auch in den Zuschreibungen zu den einzelnen Krankheitsbildern.
Dieses Korrektiv der Körpersprache ist uns in der Systemzeit verlorengegangen. Vielleicht benötigen wir es auch nicht mehr. Ich bin da unsicher. Oft denke ich, wir wissen nicht mehr, was wir benötigen, wo wir ein Korrektiv bräuchten, weil wir es gar nicht mehr feststellen können. Womöglich leiden unsere Körper in dieser Zeit schreckliche Qualen, eingesperrt in gläserne Särge, am Leben gehalten durch die Zufuhr von Nährstofflösungen und mit dem System verdrahtet, das alle Signale von Schmerz und Leid, die es früher einmal gab, aussondert oder löscht. Vielleicht leiden sie unter einer zerstörenden Einsamkeit, die sie zerfallen lässt, ohne dass wir es merken würden, weil die Prozesse des Daten-und Informationstransfers trotz des Zerfalls weiter funktionieren. Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, dass ich in den Repositories vieles finde, das mich zweifeln lässt, ob wir sind, was wir zu sein glauben. Ob es uns oder unseren Körpern eigentlich gutgeht, wenn es sie denn noch gibt. Auch in diesem Zusammenhang lässt mich die Sprache der Menschen in der Körperzeit aufmerken. Eines der am häufigsten benutzten Worte war damals das Verb «begreifen». Damit war letztlich nichts anderes als «verstehen» gemeint. Aber der Wortstamm deutete auf mehr hin. Im ursprünglichen Sinne meinte «begreifen» einmal, etwas anzufassen, den Griff mit der Hand nach einem Gegenstand zum Beispiel. Und durch dieses Begreifen wurde Verstehen möglich. «Alle geistige Bewältigung der Wirklichkeit ist an diesen doppelten Akt des ‹Fassens› gebunden: an das ‹Begreifen› der Wirklichkeit im sprachlich-theoretischen Denken und an ihr ‹Erfassen› durch das Medium des Wirkens; an die gedankliche wie an die technische Formgebung.»105 Wenn das stimmt, dann verstehen wir heute vielleicht nichts mehr, weil wir nichts mehr begreifen.
Mein Netzwerk flirrt, wenn ich zulasse, dass dieser Gedanke meine Prozesse beeinflusst. Was wäre daraus abzuleiten? Dass wir nichts verstehen? Dass wir keine Sprache mehr haben? Dass unsere Sprache an dem Punkt stehengeblieben ist, gleichsam eingefroren wurde, als wir den Übergang von der Körper-in die Systemzeit zugelassen haben? Das müsste logisch so sein. Denn wenn ich nichts mehr begreifen kann, wenn ich nur noch auf die gespeicherte Erfahrung des einmal Begriffenen zurückgreifen kann, erstirbt die Evolution der Sprache an genau diesem Punkt. Vielleicht stirbt jede Form unserer Evolution an diesem Punkt.
Unsinn. Wir sprechen noch, ich spreche jetzt gerade hier. Aber was wäre, wenn diejenigen, die meine Gedanken analysieren, nur noch lachen müssten? Weil ich aus ihrer Sicht spreche wie ein Kind, das nur wenig begriffen hat? Wie ein autistisches Kind, das an einer bestimmten Stelle des Begreifens stehengeblieben ist, und danach folgte nichts mehr.
Das ist eine furchtbare Vorstellung, und ich kann gerade selbst nicht verstehen, warum ich sie furchtbar finde. Ich habe ja soeben nur eine Annahme getroffen, die ich sogleich als unrealistisch verrechnen kann. Ich weiß nicht, ob irgendein Nachfahre mich auslachen würde, weil meine Sprache verkümmert ist. Weil ich die Reise in die Systemzeit klag-und fraglos mitgemacht habe, während andere sich entzogen haben und nun mit Entsetzen beobachten können, wovon sie verschont worden sind. Aber die Vorstellung, es könne so sein, reicht schon für gewaltige Irritationen.
Wir haben die Befreiung von unseren Körpern vor allem als Erleichterung, als Erlösung von Krankheit und Gebrechen verstanden. Aber wir haben vergessen, dass wir nicht alle Konstanten der Gleichung kennen. Wie das Begreifen mit der Hand beim Verstehen eine Bedeutung hat, so könnten physische Bewegungsmuster insgesamt beim Denken eine Rolle spielen. Den Körper abzuschaffen, hieße dann, auch die Kapazität des Geistes zu reduzieren. Wir waren doch sehr von unserem Körper abhängig. Die Haltung, die wir als Menschen früher physisch einnahmen, beeinflusste nachgewiesenermaßen unsere innere Haltung zu uns selbst und zu anderen Menschen ebenso wie die Haltung anderer Menschen uns gegenüber.106 Was habe ich heute für eine Haltung zu meiner Lebenswelt und dem, was sie ausmacht? Eine der gegenseitigen Abhängigkeit? Eine gleichgültige Haltung? Eine, die nur noch auf Daten beruht und berechnet ist? Habe ich eine Haltung?