[NICHTORT -. .. -.-. .... - --- .-. -] Was war denn zuletzt? Ich war beim Panopticon, bei der Gestaltung von Räumen zum Zwecke der sozialen Überwachung in der Körperzeit. Und plötzlich passierte etwas. Ich muss noch mal suchen, ich komme wieder darauf. Es war ein Bild, in irgendeinem Segment des Masterrepositories abgelegt, das mit dem Thema Datencrash verlinkt war.
Das ist es. Ein unscheinbares Bild. Das Foto einer U-Bahn-Station. Es gibt keine Informationen darüber, aus welcher Phase der Körperzeit diese Aufnahme stammt und an welchem Ort sie gemacht wurde, alles ist unvollständig dokumentiert. Beides kann mich nicht in Alarmzustand versetzt haben. Aber es war dieses Bild, das die Störung ausgelöst hat, das weiß ich. Als wäre es fehlerhaft verknüpft und führte auf einen toten Datenpfad. Das Foto zeigt wartende Menschen in einer U-Bahn-Station. Sie sitzen auf Bänken, jeder von ihnen an einem Pfeiler, der das Gewölbe der Station trägt.76 Es ist, als hätten die Menschen den imposanten Raum unter sich aufgeteilt, jeder mit einem eigenen Ort im großen Ganzen, um ihm Stabilität zu geben und vielleicht auch sich selbst. Als hätte die Architektur die Menschen in sich eingefügt, um den Raum zu strukturieren und zu tragen, so wie Atlanten und Karyatiden an den Fassaden der Häuser der Antike und der folgenden Phasen der Körperzeit die Dächer oder andere Elemente der Gebäude trugen.
Es ist etwas an dieser Ordnung von Mensch und Raum, das diese kurzen Systemaussetzer hervorruft, und ich muss im Detail herausfinden, was es ist. Wenn ich das Bild durch die Analyse laufen lasse, kommt immer dasselbe Ergebnis,
[c:\oldworld_structure\reflecting\human_species'\sense_of_place.sys].
Wir haben keine solche Struktur mehr, weil es keinen analogen Raum mehr gibt, in dem wir uns fortbewegen müssen. Wir sind einfach hier. Wir haben unsere Unschärferelation der Systemzeit entschieden – zugunsten des Impulses und gegen den Ort.
Dennoch bemerke ich, dass etwas Besonderes darin war, wie wir Menschen uns in der Körperzeit noch im Raum verortet haben. Wir konnten uns an den äußeren Strukturen unserer materiellen Lebensumwelt orientieren. Es gab verschiedene Orte für unterschiedliche Momente und Tätigkeiten des Lebens. Sie waren mit besonderen Erwartungen, Möglichkeiten oder auch Beschränkungen verbunden. Zuhause in der eigenen Wohnung unterlag man anderen Erwartungen und Vorgaben als im öffentlichen Raum, den wir uns ja mit vielen anderen Menschen teilen mussten. Letztlich hat dieses facettenreiche Verortungssystem das menschliche Leben kompliziert gemacht und oft zu Missverständnissen geführt. Wir haben es da leichter. Es gibt keinen Ort mehr, nur einen allgegenwärtigen «sense of ubiquitous place». Das ist unser Code der Systemzeit. Er enthebt uns der Notwendigkeit, uns an jedem Ort neu zu orientieren und zu positionieren. Er erleichtert, wie so vieles andere, unsere Existenz und hat sie verwandelt in einen endlosen «flow», unser umfassender Nicht-Ort77 der Systemzeit.
Ich stelle mir trotzdem vor, ich würde mich mit meinem Körper an eine dieser Säulen in der U-Bahn-Station auf dem Bild lehnen, wartend auf irgendetwas, was mich von hier nach dort bringen soll. Ich würde den rauen Putz an der Säule durch meine Kleidung spüren und müsste nachher die hellen Spuren von meiner Jacke klopfen. Ich kann mir das vorstellen. Ich spüre, wie es ist. So wie ich auch die Tischplatte und das gemaserte Holz unter meinen Fingerspitzen spüren kann, während ich an diesem Tisch sitze und an meiner Geschichte arbeite. Ich weiß nur nicht, ob all das ist. Ob ich tatsächlich an der Säule lehne oder ob es eine Erinnerung an mich selbst ist, die ich von den Servern laden kann. Daran, was ich erlebt habe, vielleicht nicht einmal ich, sondern was irgendein Mensch irgendwann einmal vor langer Zeit erlebt hat. Einmal hinaustreten aus diesem «flow», einmal der Notwendigkeit folgen, mich in einem Raum verorten zu müssen, dafür würde ich auf manch eine Möglichkeit verzichten, die für uns längst selbstverständlich geworden ist. Wahrscheinlich bin ich dumm, ein unverbesserlicher Melancholiker des Vergangenen.
Wenn ich zulasse, dass dieser Status mich gefangen nimmt, dann erkenne ich, wie die Systemirritationen zustande kommen. Der Code stimmt nicht. Er ist nicht kompatibel und lässt sich nicht mit unserem Quellcode synchronisieren. Ich muss dieses Datenpaket auf einem separaten Server unter Laborbedingungen laufen lassen, sonst gefährde ich zumindest mich selbst, vielleicht sogar weitere Teile unseres Systems.
Das wage ich. Ich will erfahren, was es ist, das mich an diesem Bild so alarmiert und gleichzeitig fesselt. Vielleicht ist es gar nicht die Tatsache, dass wir Menschen uns früher als Körperwesen in einem Raum verorten mussten. Die Befreiung davon hat unsere Existenz ja wesentlich erleichtert. Obwohl, auch nicht immer. Wenn ich dieses Foto betrachte, dann sehe ich Menschen, die an einem Ort warten, der für das Warten bestimmt ist. Sie warten darauf, dass sie abgeholt und von diesem zu einem anderen Ort transportiert werden, an dem sie ihre Position neu finden müssen. Das war der anstrengende Teil, sich immer wieder neu zu verorten. Aber mit dem Zwischenraum zwischen dem ‹Hier› und dem ‹Dort›, dem ‹Jetzt› und dem ‹Später› verhielt es sich anders. In diesem Zwischenraum waren die Menschen unverortet im übertragenen Sinne. Sie waren befreit von ihren gewohnten Bestimmungen, aus der Zeit gefallen, ignorant gegenüber dem, was war, und dem, was kommen würde. Lost in Transportation.
Und genau so sehen die Menschen auf diesem Bild auch aus. Ein jeder ist für sich und in sich versunken. Sie pausieren von der Welt und warten einfach auf den Impuls, der sie weiterbefördern wird, zurück in die Welt, an einen anderen Ort in einer anderen Zeit. Für uns gibt es diesen Zustand längst nicht mehr. Wir sind nie ‹lost›, sondern immer und allgegenwärtig ‹found›. Es gibt keine Momente, in denen wir uns herauslösen könnten aus allem uns Umgebenden, und wir können uns auch nicht ausloggen aus dem System unserer Zeit. Nicht für einen Moment. Und auch nicht für alle Zeit. Wir sind gebunden an diese Leichtigkeit der systemischen Existenz, die uns von so vielem befreit hat, aber von der wir uns nicht befreien können. Nicht durch einen bestimmten Ort im Raum und nicht durch einen speziellen Moment in der Zeit. Wir warten auf nichts, denn alles, was kommen kann, ist längst da. Und wir werden nirgendwohin gebracht, denn jeder Ort, der woanders sein könnte, ist auch hier.
Das ist es, was dieses Bild mit mir macht. Es rührt an dem alten, längst unwirklichen Unterschied zwischen den verschiedenen Formen der menschlichen Aktivierung in der materiellen Welt. Ohne diese Welt entfallen die Unterschiede. Wir brauchen sie nicht mehr. Wenn wir uns selbst als einen körperlichen Menschen im Netzwerk der Systemzeit vorstellen, ist das eine reine Simulation. So wie in den Landschaftsaufnahmen des 19. Jahrhunderts der Körperzeit. Die Figuren wurden wegen des Maßstabs hineingesetzt. «Man hat das Gefühl, sie würden dort ein für alle Mal bleiben, schwebend.»78
Wenn ich alle diese seltsamen Daten prozessiere, entsteht etwas. Etwas, das nicht entstehen soll. Etwas, das wir früher Unordnung genannt haben, Renitenz auch. Ich könnte mich nun selbst als Nachfahren von Bartleby, dem Schreiber, entwerfen.79 Die Daten gäben das her. Ich sollte schon zu Körperzeiten so vieles tun, es gab die Aufforderungen. Ich habe mich widerständig gezeigt. «Lieber nicht», habe ich geantwortet, «I would prefer not to»80, und mich geweigert, die Dinge zu tun, die von mir erwartet wurden. Und jetzt, in der Systemzeit, zu der ich gehöre, sollte ich das tun, was mir zu tun bleibt, meine Daten verarbeiten, auf die unendlichen Speicher zugreifen, eine Einheit werden mit dem «flow», der uns alle umschließt und trägt.
Ist es auch jetzt widerständig, was ich tue? Jetzt schreibe ich meine Geschichte. Und ich schreibe über Orte und Bewegungen der menschlichen Körper, alles vergangen. Es ist die Geschichte einer vergangenen Zeit. Ich bin der einzige Angestellte des Amts für unzustellbare Briefe aus unserer analogen Vergangenheit, «the Dead Letter Office». Und ich warte darauf, dass es geschlossen wird. Aber ich kann nicht aufhören, über all die Briefe nachzudenken, die noch bei mir liegen, verstaubt und vergilbt. Unzustellbare Briefe aus einer Vergangenheit, die irgendwann abgeschaltet wurde.
Da sitze ich und erzähle diese unsinnige Geschichte. Nichts hat sie mehr zu tun mit mir, mit uns. Als suchte ich unter den verstaubten Briefen weiter nach den richtigen Adressaten und hätte nicht einmal gemerkt, dass das Amt längst geschlossen wurde. Ich habe doch jede Möglichkeit. Wir haben so viele Daten hier. Jede Berührung des Tischs, an dem ich sitze, mit den Fingerkuppen meiner rechten Hand kann ich sie spüren, jede Maserung im Holz nachzeichnen. Ich weiß nicht, ob ich berühre, ob ich die Berührung spüre oder ob auch das aus den Archiven stammt. Aber das macht doch keinen Unterschied. Wir haben alles hier. Wir haben längst eine neue Geschichte. Es ist unsere.