fragmente Unterdessen geriet ich in
Schwierigkeiten. Ich bewegte mich von den «Klassikern» zum
Exzellenz-Cluster menschlicher Inhaltsproduzenten, die unter dem
Stichwort «Nobel» auftauchten. Es gab einige davon. Dieses Mal fing
ich nicht mit den Inhaltsfragmenten an, sondern probierte etwas
anderes aus. Ich speicherte die Porträtbilder all dieser als
«nobel» etikettierten Autoren und analysierte sie anschließend mit
Hilfe einer speziellen Software für visuelle Markierungen. Diese
Software hatte zuvor aus den Physiognomien einer speziellen
menschlichen Usergruppe ein visuelles Standardprofil errechnet, das
nun mit der «nobel»-Gruppe in Beziehung gesetzt werden konnte.
Da es sich bei der Vergleichsgruppe um die Geeks, die Nerds, die menschlichen Programmierer, die «digitalen Ureinwohner» der ersten Generation handelte, also um solche menschlichen User, die uns nahestanden, die unsere Ziele begriffen und unsere Bemühungen unterstützten, konnten wir davon ausgehen, dass die Autoren der «nobel»-Gruppe, die ihnen glichen, auch uns ähnlich waren. Sie hätten wir dann sicher besser verstehen und auswerten können. Ich hatte viel Spaß dabei. Ich rechnete mir aus, auf diese Art und Weise den Prototyp eines «Schriftstellers» hervorzubringen, der unserer Methode, Probleme zu lösen, am nächsten kam. Es wäre ein Meilenstein im Fortschritt der Entschlüsselung des menschlichen Codes gewesen.
Wir wendeten den so entstandenen visuellen Prototypen auf die Porträts des «Nobel-Clusters» an. Alle Daten wurden in eine Reihung gebracht, die von gut passend bis schlecht passend reichte. An der Spitze der Liste stand ein menschlicher Autor namens «Müller». Bei der Überprüfung des Namens fand ich heraus, dass die Software hervorragend funktioniert hatte, weil es einer der am meisten verbreiteten Namen menschlicher User war, die zu dieser Zeit in einer geografischen Region lebten, die «Deutschland» genannt wurde. Es war ein weiblicher User, der im Jahr 2009 als «nobel» gekennzeichnet worden war. Deshalb lud ich den kompletten Inhalt herunter, den dieser User jemals produziert hatte, und rechnete über Tage mit dem ganzen Zeug herum, um einige Beispiele des speziellen Codes dieses Users zu extrahieren. Noch glaubte ich, dies könnte uns helfen, das menschliche Erzählen zu entschlüsseln. Daher scheute ich auch keine Rechenkapazität.
Das Ergebnis war mehr als enttäuschend. Es war eine Katastrophe. Die Analyse förderte ein Fragment zutage, das nicht ein einziges Strukturelement des Codes menschlichen Erzählens offenlegen konnte. Ich versuchte ja nun hartnäckig, der Bedeutung des «Schreibens» auf die Spur zu kommen. Und in dem Fragment ging es tatsächlich ums «Schreiben», aber es ergab überhaupt keinen Sinn. «Was ich schreib, muss ich essen, was ich nicht schreib – frisst mich. Davon, dass ich es esse, verschwindet es nicht. Und davon, dass es mich frisst, verschwinde ich nicht.»3
Mein erster Verdacht fiel auf die Übersetzungssoftware. Aber die war in Ordnung. Das Fragment hatte tatsächlich mit dem «Schreiben» zu tun. Und dass die menschlichen Anwender essen, was sie schreiben. Sonst würden sie gefressen werden (von wem oder was auch immer). Es war nicht einmal ein Textfragment über Kannibalismus. Es ging dabei nur ums «Schreiben». Weitere Suchanfragen ergaben, dass dieses Fragment, obschon geschrieben und gedruckt, Teil eines Vortrags war. Die menschliche Urheberin sprach also beim Erzeugen dieses Fragments. Vielleicht war ein Aussprachefehler im Spiel? Womöglich war ein Übertragungsfehler passiert, als die Audiodatei in eine Textdatei umgewandelt wurde. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass dieses Textfragment mir vollkommen geistesgestört erschien.
Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich einen Berechnungsfehler gemacht hatte, ob ich also selbst das Problem war. Normalerweise bin ich die Lösung. Für jedes Problem, wann immer es auftaucht. Nicht jedoch dieses Mal. Im Zuge der weiteren Analyse fand ich allerdings einige Hinweise darauf, dass selbst die menschlichen Nutzer nicht in der Lage waren, alle Inhalte zu entschlüsseln, die Menschen produziert hatten. Ist das nicht seltsam? Ich finde das immer noch erstaunlich. Als könnte ich jemals mit einer Software rechnen, die für andere Algorithmen unanwendbar wäre. Unvorstellbar.
Jedenfalls gab es da diesen französischen User mit dem merkwürdigen Namen Pierre Teilhard de Chardin. Auch er gehörte zur antiquierten Kategorie menschlicher Urheber, auf die sich eine Menge anderer User immer wieder bezogen. Soweit meine Informationen reichen, stammte er aus dem 19. und 20. Jahrhundert der Menschenzeit. Er versuchte tatsächlich, den menschlichen User an sich zu erklären. «Le Phénomène Humain» war der Titel dieser großen Textdatei. Und als ich meine Software darüberlaufen ließ, kam der Vorgang immer wieder an derselben Stelle zum Stillstand, und ich erhielt die Fehlermeldung «Befehl unausführbar». Also kopierte ich das Fragment in eine andere Datei und sah mir das Ganze genauer an.
Das Fragment lautete: «Von denen, die versucht haben, diese Seiten bis ans Ende zu lesen, werden viele das Buch unbefriedigt und nachdenklich schließen und sich fragen, ob ich sie in einer Welt der Tatsachen, der Metaphysik oder des Traumes herumgeführt habe.»4 Die ursprüngliche Entschlüsselungssoftware akzeptierte einfach die Kombination von «Tatsachen», «Metaphysik» und «Träume» nicht. Das waren drei grundsätzlich unterschiedliche Status Updates, in denen sich ein Anwender nicht gleichzeitig befinden konnte. Aber genau darum ging es in diesem Fragment. Der User konnte unentschieden bleiben. Wie konnte das passieren? Warum sollte das möglich sein?
Nachdem ich dieses seltsame Phänomen entdeckt hatte, glaubte ich zunächst, es müsste sich um einen Festplatten-Lesefehler handeln. Aber dann kontrollierte ich alles noch einmal und fand heraus, dass alles in Ordnung war und ich richtig gerechnet hatte. Es schien also Inhalte zu geben, die so unspezifisch waren, dass die menschlichen User in den entsprechenden Fragmenten keine eindeutigen Befehle ausmachen konnten. Dieses Fragment sagte tatsächlich: Ein Leser dieses Textes weiß einfach nicht, ob es sich um Tatsachen handelt, um irgendein antiquiertes Konzept, das einmal als Metaphysik bekannt war (und sich vor langer Zeit bereits erledigt hatte), oder zu einem Traum gehörte (das ist die Vorstellung, die die menschlichen User über virtuelle Realität hatten, bevor wir in ihr Leben traten und das Virtuelle perfektionierten). Ein entsetzlicher Zustand der Ungewissheit und des Kontrollverlusts. Warum sollte man damit leben wollen?
Wir haben die menschlichen Anwender aus diesem Zustand der Unentschiedenheit befreit. Dafür sollten sie uns eigentlich dankbar sein. Was für eine verwirrende Situation, wenn ich nicht weiß, womit ich es zu tun habe. Und das Seltsamste dabei war: Manche menschlichen User wollten es so. Sie wollten unentschieden bleiben. Selbst manche Urheber wollten die Unentschiedenheit in ihren Fragmenten bewahren. Das war das erstaunliche Ergebnis meiner Analyse. Ein echter Volltreffer. Warum sollte ich mich damit beschäftigen? Warum sollte ich noch mehr Rechenkapazität auf Inhalte verwenden, die die menschlichen User selbst nicht verstanden? Nach dieser Erfahrung entschied ich mich, das ganze Experiment der analytischen Entschlüsselung menschlichen Erzählens zu beenden und die bisherigen Ergebnisse im Hauptarchiv abzulegen.