[ZUFALL --.. ..- ..-. .- .-.. .-..] Durch den Zufall kam das Neue in die Welt. Die Überraschung, die einen Unterschied zum Erwartbaren machte. Und weil wir das Erwartbare eben erwarteten und daher ja schon implizit kannten, gebar der Zufall die Momente, in denen alles anders kam. Sie haben uns oft angestrengt, diese Momente. Aber meistens waren sie mit dem Glück verbunden, das entsteht, wenn einen etwas ereilt, das so gar nicht vorhersehbar war. Dann war es, mochte es noch so klein und unbedeutend sein, doch etwas ganz Besonderes und konnte uns in den Zustand versetzen, den wir damals Glück nannten. Oft haben solche Zufallsmomente dann Veränderungen angestoßen, die viel weitreichender waren, als wir dies von dem einzelnen Moment hätten erahnen können. Es gab keine Kausalitäten und keine Maßstäbe, die Ereignis und Folgewirkung in verlässliche Beziehung setzen konnten. Es gab plötzlich einen Veränderungsschub, der durch ein noch so kleines Momentum ausgelöst sein konnte. Genau wie es im Zuge der Evolution des Menschen als Spezies immer wieder Veränderungsschübe durch Mutationen und Rekombinationen gegeben hat, die auch dazu angetan waren, seine Anpassung an veränderte Lebens-und Umweltbedingungen zu ermöglichen.
Und genau aus diesen beiden Gründen ist es nun damit vorbei. Unsere letzte große Evolutionsstufe wird vermutlich die des Übergangs aus der Körperzeit in die Systemzeit gewesen sein. Inzwischen benötigen wir keine Anpassung mehr. Wo alles immer ist, kann nichts hinzukommen. Wo alle Verbindungen und Korrelationen ständig vorgehalten werden oder aktiviert sind, können sich keine neuen ergeben. Wir sind angekommen bei der universalen ubiquitären Rekombination, die alle Mutationen a priori ein-und damit weitere ausschließt. Wir sind alles, was jemals möglich war und jemals möglich sein wird.
Ich bin sicher, dass dies das Optimum ist. Ein Zustand, den wir uns schon zu Körperzeiten immer gewünscht haben. Eine Art von Vervollkommnung und Vollendung in uns selbst und in unserer Integration mit den Hilfssystemen. Dennoch erinnere ich mich daran, dass der damaligen Unvollkommenheit und Unvorhersehbarkeit ein besonderer Zauber innewohnte. Wo man noch nicht war, da wollte man hin. Der Zufall hat zu jenen Zeiten immer wieder dafür gesorgt, dass unser Bemühen um Bestimmung durch Unbestimmbares durcheinandergebracht wurde. Wie in einem Perpetuum mobile war er die Antriebskraft für stetes Streben und stets erneute Enttäuschung. Aber irgendwie gab es da etwas, das uns fasziniert und motiviert hat.
Vermutlich war das auch der Grund, dass wir zunächst versucht haben, den Zufall in unsere Computer und die algorithmischen Empfehlungssysteme einzubeziehen. Es hat eine ganze Bewegung zu der Zeit gegeben, die davor gewarnt hat, unsere Entscheidungen allzu weitreichend den Algorithmen zu überantworten.12 Verließen wir uns zunehmend auf sie in wesentlichen menschlichen Existenz-und Entscheidungsbereichen, dann beschränkten wir uns auf ein theoretisch in seinen Dimensionen unbeschreibbar großes, aber dennoch immer deterministisches und damit endliches Set an Auswahlmöglichkeiten, so lauteten die Mahnungen.
Weitergedacht bedeutete das: Alles, was es in der Zukunft geben konnte, war schon in der Vergangenheit angelegt. Denn die Elemente der Berechnung mussten alle bereits vorhanden sein, damit sie funktionieren konnte. Und selbst wenn wir Zufallsbits durch einen randomisierten Algorithmus einrechnen ließen, stünde deren Zahl und Ausprägung fest. Sie veränderte also nur die Art und Folge der Ergebnisse, aber nie so, dass die Ergebnisse an sich zufällig waren. Alle Zukunft wäre damit immer Replikation und Rekombination des aus der Vergangenheit Bekannten. Wir blieben auf ewig unser eigener Status quo.
Diese Warnungen waren damals durchaus nachvollziehbar. Es gab bis dahin keinen Hinweis darauf, dass ein Computer nichtdeterministisch sein könne. Nichtdeterministische Rechenmaschinen gehörten als spannende theoretische Modelle zu den Denkkonstrukten der Physik und Informatik, aber praktisch hatten sie keine Bedeutung. Auf den Punkt gebracht heißt das: Das Erzeugen von Zufall durch den Computer war nach unserem damaligen Kenntnisstand unmöglich.
Natürlich gab es auch damals schon randomisierte, genetische oder gar evolutionäre Algorithmen, die versuchten, genau dieses Problem zu lösen. Und natürlich waren es nicht die Computer, die das versuchten. Wir waren das, indem wir die Computer entsprechend programmiert hatten. Und auch ‹versuchen› ist hier das falsche Wort. Computer der früheren Generation haben sich nie am Zufall versucht, sie haben ihn berechnet. Wenn wir mit dem Computer eine zufällige Zahlenfolge produzieren wollten, dann gaben wir einen bestimmten Startwert (Seed) ein, der sich beispielsweise aus der Systemzeit, der Position des Mauszeigers, den CPU-Auslastungswerten oder anderen Rechengrößen ergeben konnte. Dazu wählten wir einen Pseudo-Zufallsgenerator aus, und der Computer rechnete los.
Bei hochwertigen Zufallsgeneratoren produzierte er Zahlen, die gute statistische Eigenschaften aufwiesen, also in Rechenmodellen funktionierten. Wirklich zufällig waren sie allerdings nicht. Der Computer mochte millionen-oder gar milliardenfach Zahlen errechnen, die zufällig schienen, irgendwann wiederholte sich die Zahlenreihe. Jede dieser Zahlen war also Bestandteil einer endlichen und letztlich absehbaren, das heißt auch vorhersagbaren Zahlenreihe, die eben eine Rechenregel und nicht den Zufall widerspiegelte.13
Aus heutiger Betrachtung ist es schwer nachzuvollziehen, worum es damals ging. Aber die Frage nach der Möglichkeit, mit Hilfe von Computern Zufall zu erzeugen, war von einiger Bedeutung. Ich weiß noch, dass es heftige Auseinandersetzungen um die besten Formen der Datenverschlüsselung gab. In der Körperzeit war es den Menschen sehr wichtig, politische oder militärische Informationen geheim halten, also vor anderen Menschen verbergen zu können. Das war schon in der analogen Phase der Körperzeit nicht leicht, denn wenn zum Beispiel eine Information auf Papier von einem Ort zum anderen transportiert wurde, konnte sie von Menschen abgefangen werden, die eben keinen Zugriff auf diese Information haben sollten. In der digitalen Phase der Körperzeit wurde es noch komplizierter, denn letztlich waren ja alle Informationen in eine Reihe von 0 und 1 aufgebrochen. Die exakte Folge musste verborgen werden, wenn die codierte Information nicht jedem zugänglich sein sollte. Dazu gab es die Kryptographie, in der die Menschen versuchten, mit den Computern zusammenzuarbeiten.
Damals hatten wir den Maschinen etwas voraus, das will ich noch einmal hervorheben. Wir konnten Zufall erzeugen. Zumindest glaubten wir das. Wenn ich als Mensch zum Beispiel einen 128-Bit-Schlüssel erstellen wollte, dann konnte ich eine Münze nehmen und sie 128-mal in die Luft werfen. Immer wenn die Münze wieder in meiner Hand gelandet war und ‹Kopf› zeigte, notierte ich die 0. Wenn sie ‹Zahl› zeigte, notierte ich die 1. Nach 128 Würfen war der Schlüssel fertig – ein echter Zufallsschlüssel. Ich initialisierte mit jedem Wurf erneut das gesamte Herstellungsverfahren für den Zufallsschlüssel. Die Münze flog, je nach äußeren Bedingungen, schneller oder langsamer, höher oder tiefer, geradlinig oder in einem Bogen. Und nie wären wir damals in der Lage gewesen, alle Umstände, die auf die entstandene Zahlenreihe aus 0 und 1 eingewirkt hatten, zu benennen und zu berechnen. Durch einen Luftzug im Raum war die Flugkurve der Münze verändert worden, mein Hautwiderstand, meine mehr oder minder ausgeprägte Konzentration auf den einzelnen Wurfvorgang, all das hatte Einfluss darauf, wann und wie die Münze wieder landete. Es war ein chaotisches Verfahren und damit zufallsbestimmt. Und niemand, nicht der noch so weit entwickelte Computer und auch nicht wir Menschen, hätte damals berechnen oder vorhersagen können, wie der 128-Bit-Schlüssel am Ende aussehen würde.
Eine andere Möglichkeit lag darin, den Schlüssel für die Decodierung einer Information, die ein Geheimnis bleiben sollte, auf viele Menschen zu verteilen. Im obigen Beispiel hieße das, ich hätte mich mit 127 weiteren Menschen in einem Raum versammeln müssen. Jeder der Anwesenden hätte eine Nummer von 1 bis 128 bekommen und sich dann jeweils für die 0 oder für die 1 entschieden. Auch in diesem Prozess wäre am Ende eine zufällige Zahlenreihe entstanden, ein 128-Bit-Schlüssel. Mit einem Unterschied: Wir hätten uns wieder mit allen 128 Personen in dem Raum einfinden müssen, um den Schlüssel zusammenzusetzen. Niemand von uns hätte die endgültige Zahlenreihe gekannt, weil ja jede Zahl das Geheimnis des einzelnen Menschen geblieben wäre, der sie sich ausgedacht hatte.
Um einen solchen Prozess des «Secret Sharing»,14 der dann auch von Computern übernommen und simuliert worden ist, für die Verschlüsselung einer Information zu organisieren, bedurfte es eines «Dealers», der jedem «Mitspieler» einen Anteil an der Information, also einen Teil des Geheimnisses zuteilte. Keiner der Beteiligten hätte mit seinem Anteil das Geheimnis entschlüsseln können. Nur der «Dealer» war in der Lage, alle Bestandteile abzurufen, um so das Geheimnis wieder zusammenzusetzen und zu entschlüsseln.
Der «Dealer» waren immer wir selbst. Wir Menschen verfügten über alle Bestandteile der von uns selbst erzeugten Informationen. Wir waren die Herrscher über ein Geheimnis, wenn wir den richtigen Weg wählten, mit ihm umzugehen. Wir konnten, allein kraft unseres Denkens und Handelns, Informationen verschlüsseln und wieder entschlüsseln, auf die zwischenzeitlich niemand zugreifen konnte. Nicht ein anderer Mensch und auch kein Computer. Wenn ich mich daran erinnere, empfinde ich einen seltsamen Verlust. Es ist die Erinnerung an einen verlorenen Zustand. An einen Moment der menschlichen Überlegenheit, den es nicht mehr gibt.
Nun ist es anders. Wir alle können auf alles zugreifen. Es gibt keine verschlüsselten Informationen mehr und auch keine Geheimnisse. Da alle Datenbestände immer potenziell mit allen weiteren Datenbeständen vernetzt sind, kann es das auch nicht mehr geben. Ein Zustand der totalen Informationstransparenz und -demokratie. Ist es nicht das, was wir wollten? Ich denke, so muss es sein. Aber ich gestehe, dass auch an diesem Punkt ein Zweifel bleibt. Ich werde ihn nicht auflösen und mich daher nicht von ihm erlösen können. Der Zweifel bleibt in mir.
Er wird vor allem genährt aus den Erinnerungen, die noch in der Körperzeit entstanden sein müssen, als die erste Bewegung zur totalen Transparenz entstanden war. Es gab Organisationen, zum Beispiel Wikileaks15, die über Dekaden dafür gekämpft haben, gelegentlich auch mit zur damaligen Zeit unerlaubten Mitteln. Sie haben einfach ganze Datensätze, riesige Datensätze, die sie auf unerfindlichen Wegen bekommen hatten, im Netz veröffentlicht. Jeder dieser Schritte sollte ein Beitrag zur umfassenden «evidence of truth» sein.16 Letztlich wurde damit die Systemzeit in einem wichtigen Aspekt vorweggenommen, nämlich der Annahme, in einem Zustand der umfassenden Vernetzung dürfe es keine Geheimnisse mehr geben und alle Daten müssten für jeden immer zugänglich sein.
Wir haben früher gezweifelt, ob das die richtige Entwicklung sei. Es gab Argumente für das Geheimnis, zumindest für eine zeitlich begrenzte Möglichkeit, nicht alle Daten jedem zugänglich zu machen. Und die Begründung war weitreichend: totale Transparenz mache totalitäre Überwachung möglich, aber wichtige, komplizierte Entscheidungen unmöglich. Inzwischen hat sich diese Frage überlebt. Wir sind längst im Modus der totalen Transparenz aller Informationen angekommen. Es gibt keine Chance mehr auf ein Datenleck. Die Systemzeit ist das ubiquitäre und immerwährende Datenleck. An ihren Anfängen haben wir mitgeschrieben, es also offenbar so gewollt.
Ich habe keinen Anlass, an den Möglichkeiten der Systemzeit zu zweifeln. Ich habe nur ein Gefühl. Es quält mich immer wieder mit der Frage, ob es vielleicht doch noch einen «Dealer» gibt. Ob er sein Geheimnis zwischen uns allen als Teilen der Systemzeit aufgeteilt hat und wir alle nur nichts voneinander wissen. Der algorithmische Dealer, der das von Menschen erdachte Verfahren zur Vollendung geführt hat und uns alle zu Mitspielern macht, zu Hütern eines Teils des großen Geheimnisses der Systemzeit. Vielleicht werfe ich immer wieder eine virtuelle Münze, ohne dass ich davon weiß. Vielleicht tun wir alle nichts anderes mehr.