37. Kapitel

 

Poppa brauchte sehr, sehr lange, bis er kräftig genug war, um wieder zu uns nach Kansaska-Nebransas zu kommen. Und selbst dann wurde es nie wieder ganz so wie vor dem Unfall. Wenn so etwas passiert, ob es nun ein Unfall ist oder ein Schimmer oder ein allererster Kuss, dann nimmt das Leben eine Wendung, die sich nicht zurückdrehen lässt. Dann kann man nur weitergehen und daran denken, was man gelernt hat.  

Der Tag, an dem ich vierzehn wurde, war heiter und sonnig, ein Tag, an dem nichts Besonderes oder Wichtiges anstand, außer dass ich älter wurde. Der Frühling hielt wieder Einzug und Momma stand in der Küche und backte meine Torte. Es war die Torte, die ich vor genau einem Jahr unbedingt hatte haben wollen, die mit dem rosa und gelben Zuckerguss und den vollkommenen Zuckerrosen, die Torte, die mir jetzt nicht mehr ganz so wichtig vorkam, im Vergleich zu anderen Dingen.  

Poppa und ich saßen draußen auf der Veranda, und zwar auf unserer eigenen Verandaschaukel – die hatte Poppa im letzten Herbst gebaut und Rocket, Fish, Samson und ich hatten geholfen, das heißt, eigentlich hatten wir Kinder das meiste gemacht, weil Poppas Kopf noch immer nicht richtig funktionierte. Aber auf eine eigene Verandaschaukel wollte keiner von uns verzichten, und deshalb machten wir es gern.  

Unsere Schaukel war weder die größte der Welt wie die in Hebron, noch war sie die schönste. Nicht einmal annähernd. Doch als ich da mit Poppa saß und nur nachdachte und lauschte, während wir den vorüberziehenden Wolken zuschauten, wusste ich, dass unsere Schaukel die beste war. Es war eine echte Verandaschaukel mit einer echten Veranda dabei und einem ganzen Haus voller Liebe, die sie stützte.  

Opa Bomba schlief in einem großen Korbsessel auf der anderen Seite der Veranda und träumte von den Zeiten, als er noch die Kraft hatte, Berge zu versetzen, und Fish saß auf der Treppe und hörte Gypsy zu, die Selbstgespräche führte, während sie im Garten Löwenzahn pflückte, mit nackten Füßen und auf links gedrehten Kleidern. Fish behielt unsere kleine Schwester genau im Blick und brüllte sie jedes Mal an, wenn sie eine Löwenzahnblume in den Mund nehmen wollte.  

»Lass das, Gypsy«, sagte Fish, als sie eine gelbe Blüte herausfordernd an ihren Mund hielt. »Wenn du das noch einmal machst, schicke ich dich rein.«  

»Sag Fish, er soll uns mal anschubsen …«, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Als ich auf Poppas Arm schaute, schlug die Meerjungfrau mit dem Schwanz. Ich schaute Poppa ins Gesicht und er rieb sich mit den Fingerknöcheln über das Kinn und lächelte. An dem Tag erkannte er mich. Das war gut.  

Nachdem Poppa aus dem Salina Hope Hospital entlassen wurde, erinnerte er sich nicht immer daran, welchen Wochentag wir gerade hatten oder ob er Blaubeeren in seinen Pfannkuchen mochte oder nicht. Er wusste nicht mehr, ob wir in Nebraska oder in Kansas lebten, und begriff nicht, dass wir in beiden Staaten lebten und wie es dazu gekommen war. An den richtig schlechten Tagen fiel ihm noch nicht mal das richtige Wort für Zeitung oder Kaffee oder Marmelade oder Entschuldigung ein.  

Aber an den guten Tagen, den besten Tagen – wie an jenem Frühlingstag auf der Verandaschaukel, als der Kuchenduft aus dem Fenster zu uns strömte –, da war Poppa einfach nur Poppa, ohne Haare auf dem Kopf, die die Unfallnarben hätten verdecken können, aber so lieb und gut wie immer.  

»Hey, Fish«, rief ich. »Schubs uns mal an.«  

Fish wandte seine Aufmerksamkeit von Gypsy und ihrem Löwenzahn ab. Er verzog einen Augenblick das Gesicht, dann stieß er eine Windbö aus, und die Verandaschaukel schwang so heftig vor und zurück, dass Poppa und ich fast heruntergefallen wären.  

»Mann! Nicht so doll!« Ich lachte.  

»’tschuldigung«, sagte Fish mit einem frechen Grinsen und blies uns noch einmal an, diesmal eine Spur sanfter.  

Die Fliegengittertür knarrte erst, dann schlug sie zu und Momma trat auf die Veranda, die Schürze vollkommen sauber und die Wangen rosig von der Arbeit in der Küche. Sie schaute uns alle an.  

»Wo ist …?«  

»Samson ist oben«, sagte ich. »Er hilft Rocket beim Packen.«  

»Wie ich Samson kenne, hat er sich wahrscheinlich direkt in einen Koffer gepackt«, murmelte Fish. »Den findet keiner, bis Rocket bei Onkel Autry angekommen ist.«  

Rocket, der jetzt achtzehn war und tun und lassen konnte, was er wollte, würde am nächsten Morgen in den Bus nach Wyoming steigen, um den Sommer oder vielleicht noch mehr bei Mommas Bruder und seiner Familie zu verbringen, an einem Ort, der noch abgelegener war als Kansaska-Nebransas. Auf Onkel Autrys Ranch war es egal, wie viele Funken Rocket versprühte. Meilenweit gab es niemanden, der es bemerken könnte oder den es kümmern würde.  

Momma und Opa hatten Rocket zu überzeugen versucht, dass er seine Sache gut machte, dass er seine Funken so gut lasieren konnte, wie man es von einem jungen Mann erwarten konnte, und dass er, wenn er sich noch ein wenig anstrengte, in ein paar Jahren gar keine Probleme mehr haben würde. Aber nach dem Tag vor einem Jahr im Salina Hope Hospital war Rocket nie wieder ganz der Alte geworden. Er hatte seinen Hochmut und seine Großspurigkeit verloren. Nicht ein einziges Mal hatte Rocket seither mit seinem Schimmer geprahlt oder mich mit meinem aufgezogen. Mit brüderlichem Stolz und stillem Neid hatte er zugesehen, wie Fish seine Stürme beherrschte. Doch in Wyoming würde Rocket die Weite haben, dort konnte er draußen arbeiten und unter dem Sternenhimmel schlafen, er hatte Platz genug und sein elektrischer Schimmer würde nicht mehr so auf ihm lasten.  

»Wie sollen wir das Auto ohne dich zum Laufen kriegen?«, hatte ich Rocket gefragt, als er von der Einladung von Onkel Autry erzählt hatte.  

Rocket hatte gekichert und zum Spaß ein paar Funken fliegen lassen. »Tja, dann muss Poppa sich wohl geschlagen geben und der alten Schrottkiste eine neue Batterie verpassen«, sagte er.  

Es würde merkwürdig sein, wenn Rocket nicht mehr da war, zumal Fish seinen Schimmer jetzt so gut lasieren konnte, dass er im Herbst auf die Highschool in Hebron durfte. Bald würde ich die Einzige sein, die Moos in Einmachgläsern züchtete und mit Momma Bilder malte und zu Hause unterrichtet wurde. Mein Schimmer konnte zwar niemandem wehtun und kein Unheil anrichten, aber Momma und ich hatten trotzdem entschieden, dass ich zu Hause blieb, sicherheitshalber.  

»Ein oder zwei Jahre, in denen du Kraft sammeln und lernen kannst, deinen Schimmer zu lasieren, können dir nicht schaden, Mibs«, hatte Momma gesagt. »Danach kannst du es dann mit der Welt aufnehmen.«  

Momma merkte nicht, dass ich es schon mit der Welt aufgenommen und gesiegt hatte. Ich hatte mich an die vielen Stimmen in meinem Kopf gewöhnt und wusste, auf welche ich achten und welche ich überhören musste. Dasselbe galt für all die Stimmen außerhalb meines Kopfes, und diese neue Stärke stand mir offenbar auf die Stirn geschrieben, denn als ich das nächste Mal Ashley Bing und Emma Flint in Hebron in die Arme lief, hielten die beiden den Mund, und nicht einmal ein Echo von »Missi-Pissi« drang an mein Ohr.  

»Kommt dein Freund auch zu deinem Geburtstag?«, fragte die Meerjungfrau mitten in meine Gedanken über Rockets Abreise hinein.  

»Ja, Poppa«, sagte ich. »Will kommt nach dem Mittagessen rüber.«  

Wie sich zeigte, hatten weder Gott noch Miss Rosemary mir meine falschen Entscheidungen allzu lange nachgetragen, nachdem wir mit dem großen rosa Bus abgehauen waren. Wir Beaumonts gingen jetzt wieder in die Kirche zu Pastor Meeks und seiner Familie, und Will und Bobbi besuchten uns regelmäßig in Kansaska-Nebransas.  

»Und dieses Mädchen …?«, unterbrach die Meerjungfrau wieder meine Gedanken.  

»Bobbi kommt auch, Poppa«, antwortete ich mit einem Lachen. »Sie will sich von Rocket verabschieden, bevor er abreist.«  

»Umpf«, machte Poppa laut, und die Meerjungfrau schlug mit dem Schwanz. Poppa tat immer so, als könnte er Will und Bobbi nicht leiden. Ich nehme an, er fand es nicht gut, dass wir um ihn herum alle groß wurden. Aber dank der Meerjungfrau und meinem Schimmer hörte ich immer, was Poppa dachte, und wusste, er freute sich, dass wir Freunde gefunden hatten – Freunde, die über das Spezialwissen unserer Familie Bescheid wussten und uns trotzdem mochten.  

Jetzt, wo Rocket wegzog und Samson und Gypsy noch Jahre von ihrem wichtigsten Geburtstag entfernt waren, sah es so aus, als stünden uns ruhige, friedliche Zeiten bevor. Doch ich kannte ein Geheimnis – ein Geheimnis, das ich eigentlich noch nicht wissen sollte –, ein Geheimnis, das im Winter wieder für Aufregung sorgen würde.  

Momma war zwar vollkommen, aber das bedeutete nicht, dass sie nicht bisweilen doch etwas vergaß. Als sie Anfang der Woche einmal mit Miss Rosemary telefonierte und sich das unschlagbare Rezept für Marshmallowkuchen geben ließ, da fand sie zwar einen Stift, aber keinen Zettel, und da vergaß sie alles über meinen Schimmer und die Tinte auf der Haut und Gefühle und das Lauschen und schrieb sich das Rezept auf den Handrücken. Sie schrieb mit schöner roter Tinte. Mit schöner, lauter roter Tinte.  

So erfuhr ich, dass Momma glaubte, sie sei schwanger, und dass noch ein kleiner Beaumont unterwegs war. Doch dieser Tag auf der Verandaschaukel, dieser sonnige Tag mit vollkommener Torte, das war kein Tag, um Geheimnisse auszuplaudern, also hielt ich den Mund und schaukelte mit Poppa hin und her, hin und her.  

Wenn mein Schimmer doch auch umgekehrt funktionieren würde, dachte ich wieder – und nicht zum letzten Mal. Könnte ich mir doch eine lächelnde Sonne auf die Hand malen und alle um mich herum wüssten, wie es mir ging, wie glücklich ich in diesem vollkommenen Augenblick war.  

Denn jetzt war alles ruhig, und es würde auch noch schön lange ruhig bleiben. Jedenfalls so schön lange, bis Samson dreizehn wurde …  

Und wer wusste schon, was dann passieren würde?