6. Kapitel
Als ich durch die offene Flügeltür in die Kirche trat, hatte ich das Pech, direkt Ashley Bing und Emma Flint in die Arme zu laufen, beide geschniegelt und gebügelt für die Feier. Ich hatte gehofft, ich müsste, nachdem ich die Hebron-Schule für immer verlassen hatte, keins dieser Mädchen je wiedersehen. Aber an diesem Tag war das, was ich mir wünschte, etwas ganz anderes als das, was ich bekam.
Ashley schaute von mir zu Fish zu Will junior und ließ den Blick extra lange auf Will ruhen. Vielleicht lag es daran, dass ich jetzt dreizehn war oder dass Fish und Will bei mir waren, aber ich fühlte mich mutiger als in der Schule, und so stand ich unerschrocken vor dieser Rotzgöre und ihrem ewigen Echo.
»Was hast du hier überhaupt verloren?«, sagte ich. Es passte mir nicht, wie Ashley Will anglotzte, oder vielleicht passte es mir nicht, dass es mich störte.
»Meine Mutter hat gesagt, ich muss, Missi-Pissi«, sagte sie, ohne den Blick von Will zu wenden.
»Ja, Missi-Pissi«, echote Emma.
Knallrot und beschämt stand ich da. Ich konnte es nicht fassen, dass die beiden mich vor Will junior mit diesem grässlichen Namen angesprochen hatten. Am liebsten wäre ich unter den fleckigen braunen Teppich gekrochen und nie wieder hervorgekommen. Fish sah die beiden Mädchen finster an, und ein Windstoß traf sie so heftig, dass sie schnell aus der offenen Tür gingen, ihre Frisur richteten und ihren flitterigen Firlefanz ordneten. Fish sah mich nicht an, seine Miene verfinsterte sich noch mehr, und ich wusste, dass er sich vor den anderen eigentlich nicht so hatte gehenlassen wollen.
»Freundinnen von dir?«, fragte Will mitfühlend, ohne groß auf Fish oder den Wind zu achten.
»Wohl kaum«, murmelte ich, immer noch beschämt.
Er nickte. »Ich glaub, auf solche Freundinnen kannst du auch gut verzichten.«
Danach verlor Will junior netterweise kein Wort mehr über Ashley und Emma. Er führte uns vorbei an der Tür zum Altarraum und an der offenen Tür zum Büro seines Vaters, und dort schwand sein Lächeln, als wir kurz stehen blieben und hineinspähten. Ich erhaschte einen Blick auf Pastor Meeks, groß und zugeknöpft, wie er mit einem Mann redete und auf eine große rosa Bibel schlug, die er in der Hand hielt. Der Pastor sah nicht besonders glücklich aus. Sein gelber Schlips hing schief und er spuckte beim Sprechen.
Will junior fuhr sich mit einem Finger in den eigenen gestärkten Kragen, als ob ihm der oberste Knopf die Luft abschnürte, und führte uns schnell an der Tür vorbei in den Festsaal. Rote und orangefarbene Luftschlangen aus Krepppapier hingen schlaff im Gemeindesaal wie Überreste einer anderen Party. Der Saal war leer bis auf eine große Schokoladentorte ohne Zuckerrosen und ohne eine einzige Kerze, nicht mal eine tropfende, und einen kleinen Haufen in letzter Minute gekaufter Geschenke. Die meisten Leute standen immer noch draußen herum, wahrscheinlich wussten sie noch nicht so recht, wer da eigentlich gefeiert werden sollte.
Als wir an dem Tisch vorbeikamen, nahm Will ein Geschenk von dem Haufen. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mibs«, sagte er und reichte mir ein kleines, bunt verpacktes Päckchen. »Es ist ein Schreibset«, sagte er mit einer Kopfbewegung zu dem Geschenk. »Falls du dich fragst, was drin ist.«
»Danke«, sagte ich und war mir nicht sicher, ob ich es jetzt auspacken sollte, wo ich doch schon wusste, was es war. Aber Will ließ mir keine Zeit. Stattdessen führte er mich quer durch den Raum in die Küche, wo Bobbi und zwei weitere Mädchen in ihrem Alter aus der Gemeinde dafür eingeteilt waren, Fruchtpunsch zu machen und Brote mit Erdnussbutter in kleine krustenlose Viertel zu schneiden. Die Mädchen trugen alle topmodische Jeans mit T-Shirts, die Haut und Bauchnabel zeigten. Sie strotzten vor Wangenrouge und Lipgloss und Selbstbewusstsein, und all das schien in den Punsch mit hineinzufließen.
Bobbi schaute auf die lila Blume an meiner Schulter und verdrehte die Augen. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte sie, aber es klang eher wie »Verpiss dich«. Dann fingen die anderen Mädchen an zu tuscheln und zu lachen, während sie Ginger-Ale und Regenbogensorbet mit blassgelbem Ananassaft mixten, der die gleiche Farbe hatte wie mein Kleid.
Die Kirchenmädchen sahen an mir und Fish und Will vorbei und schauten suchend zur Tür, als hofften sie, es würde noch jemand anders auftauchen.
»Kein Rocket?«, sagte die Erste mit einem Seufzen. Selbst wenn er nicht da war, hatte der dunkle Rocket mit seinem guten Aussehen und dem geheimnisvollen Ruf immer Bewunderinnen; das zweite Mädchen kicherte schrill, als sie seinen Namen hörte, und die erste tat so, als würde sie in Ohnmacht fallen. Bobbi verrührte den Punsch mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln, hatte sich jedoch schnell wieder im Griff, als die anderen sie neckend anstießen. Als ich diese Mädchen in ihren Teenagerklamotten sah, kam ich mir plötzlich jünger vor als gerade dreizehn, und mein Festtagskleid fühlte sich nicht mehr so festlich an. Mir wurde klar, dass ich selbst gerade ein Teenager geworden war und dass das Leben Veränderungen für mich bereithielt, die mit meinem Schimmer gar nichts zu tun hatten.
Als ich da in der Küche stand und verlegen an der Blume meines Kleides zupfte, hörte ich auf einmal etwas Merkwürdiges, das ich nicht richtig einordnen konnte. Aber es war ein Geräusch, das sich nicht ignorieren ließ. Für einen Moment vergaß ich mein Kleid und die Mädchen, legte den Kopf schräg und kam mir vor wie ein Hund, der auf die Pfeife lauscht, für sein Herrchen unhörbar, oder wie Oma Dollop, die genau die richtige Radiowelle für ihre Sammlung herausfiltern will.
In meinen Ohren flüsterte gedämpft eine säuselnde Stimme, als wäre ich lange geschwommen und hätte noch Wasser darin. Ich schüttelte den Kopf und steckte mir die Finger in die Ohren. Für einen Augenblick verstummte das Geräusch. Ich wusste, dass Fish mich jetzt wieder anschaute. Mich beobachtete. Er wartete – wartete darauf, dass die Bombe platzte. Aber das würde nicht passieren, denn ich wusste ja, wie es kommen würde. Ich wusste, dass ich nach Salina musste. Ich wusste, dass ich Poppa aufwecken würde, genauso wie ich Gypsy und Samsons Schildkröte aufgeweckt hatte.
Da hörte ich wieder diese Stimme, und diesmal fühlte es sich an, als säße sie direkt hinter meinen Augen, wie ein Kopfschmerz – wenn ein Kopfschmerz ein Geräusch sein könnte. Mir war schwummrig und wummrig und ich ließ das unausgepackte Schreibset fallen, knallte gegen Will junior und stieß ihn gegen das Tablett mit den Schnittchen. Das Tablett fiel krachend zu Boden und die Dreiecke mit Erdnussbutter segelten runter. Bobbi fluchte wie ein Fernfahrer mit drei platten Reifen und bückte sich, um das Tablett aufzuheben. In diesem Moment sah ich das Bild auf ihrer Haut. Ich sah Bobbis buntes Tattoo.
Die Tochter des Predigers hatte ein kleines Bild auf dem Rücken, das nur zu sehen war, wenn sie sich in ihren modischen Jeans vorbeugte. Es war ein kleiner Engel mit ausgebreiteten Flügeln und einem goldenen Heiligenschein, allerdings hatte der Engel ein teuflisches Grinsen und einen spitzen roten Schwanz. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Bobbi sich ein Tattoo besorgt hatte. Wenn Miss Rosemary das je herausbekäme, die Frau mit dem direkten Draht zum Himmel, die Gott den Allmächtigen dazu brachte, ihr bei meiner Geburtstagsfeier behilflich zu sein, dann erlebte Bobbi ihre nächste Geburtstagsfeier womöglich nicht mehr, und ganz bestimmt kam sie auch nicht in den Himmel, um selber einen Heiligenschein zu kriegen.
In diesem Moment wandte der kleine Engel den Kopf, schlug mit dem Schwanz und sagte: »Sie ist wirklich sehr einsam, weißt du …«
Und da fiel ich in Ohnmacht.