15. Kapitel
Fish rappelte sich auf, und während wir alle zuschauten, wie Lester aus dem Bus stieg, fragten wir uns, was ihn wohl dazu bewogen hatte, so plötzlich anzuhalten. Fish, Bobbi, Will und ich rutschten auf die Sitze gegenüber und schauten durch die zerbrochenen oder fehlenden Scheiben, um zu sehen, was Lester vorhatte. Einen Augenblick dachte ich, er hätte den Bus vielleicht über die neunzig Stundenkilometer getrieben und wir hätten eine Panne. Aber als ich sah, wie er mit einer großen Frau sprach, die neben einem Wagen mit aufgeklappter Motorhaube und eingeschalteten Warnblinkern stand, wusste ich, dass er nur helfen wollte.
Die Frau trug einen langen, mantelähnlichen Pullover mit Gürtel, der über den Saum ihrer altmodischen grünweißen Kellnerinnenkluft hing. Die große breite Frau und der schmalbrüstige Lester mit den eingezogenen Schultern gaben ein komisches Paar ab. Lester ging um den Wagen der Frau herum, dann machte er sich kurz unter der Motorhaube zu schaffen. Ab und zu sauste trotz des Stoppschilds und der Blinklichter ein Auto haarscharf an uns vorbei. Als Lester sich schließlich wieder aufrichtete, schüttelte er den Kopf und zeigte mit der Hand über die Schulter.
Die Frau begutachtete den Heartland-Bibelbus. Als sie unsere Gesichter hinter den kaputten Scheiben sah, lächelte sie wie eine kleine Frau, die im Körper einer großen Frau steckt, und hob die Hand zu einem kleinen Winken. Auch Lester schaute zu uns hinauf, und ein merkwürdiges, unerwartetes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als ob er nach dem ganzen Gekabbel und Gerangel und obwohl sein Bus so ramponiert war, dachte: Je mehr, desto besser. Wäre Lester ein Hund, hätte er in diesem Moment mit dem Schwanz gewedelt. Stattdessen hakte er die Daumen hinter die Träger seiner Latzhose und wippte auf den Fersen vor und zurück.
Die Frau trat einmal voller Inbrunst gegen ihre Schrottkiste, dann ließ sie sich von Lester die drei Stufen hinauf in den rosa Bus führen, wo er sie vorstellte wie seine neue Braut.
»Kinder, das ist Miss Lill Kiteley, und sie b-begleitet uns bis Emerald.«
Wir alle schauten wortlos von Lester zu Lill, dann schauten wir einander an. Fish schüttelte den Kopf und machte ein böses Gesicht. Ich wusste, was er dachte, denn ich dachte genau dasselbe: Noch ein Erwachsener, der sich in unsere Angelegenheiten einmischt, und noch etwas, was unsere Ankunft bei Poppa verzögert. Lesters Lächeln wankte und seine rechte Schulter tanzte hoch bis zu seinem Ohr, als er merkte, dass uns Lills Auftauchen gar nicht erfreute. Er räusperte sich und zupfte an seinem locker sitzenden, zerknitterten Schlips. Im Bus war es still. Na ja, fast still.
»Sieh mal einer an! Noch so eine dahergelaufene …«, höhnte Rhonda auf Lesters Arm.
»Lester würde sogar eine tollwütige Hyäne auflesen, selbst wenn sie ihn gebissen hätte«, sagte Carlene auf dem anderen Arm.
»Du musst es ja wissen«, knurrte Rhonda.
»Du warst immer schon eine alte Hexe, Rhonda«, sagte Carlene mit besonders rauer Stimme.
»Mit alten Hexen kennst du dich ja bestens aus«, gab Rhonda schnippisch zurück.
»Hi«, sagte Lill und winkte uns wieder ein kleines bisschen zu. »Seid ihr alle Lesters Kinder?«
Bobbi schnaubte und ging mit einem lustlosen Stöhnen wieder zu ihrem Platz. »Sie machen wohl Witze. Da wär ich noch lieber unter Wölfen aufgewachsen.«
»Nee«, sagte Lester, der Bobbi kaum gehört hatte, »diese Kinder …«
»Sind alte Freunde von Lester«, fiel ich ein, bevor Lester etwas von blinden Passagieren erzählen konnte. »Ich meine, er ist ein Freund der Familie. Er nimmt uns mit, stimmt’s, Lester?«
Lesters Lächeln verrutschte ein bisschen und er kratzte sich mit beiden Händen gleichzeitig am Kopf, als könnte das seinem Hirn so weit auf die Sprünge helfen, dass er weitersprechen konnte, denn mit meinem Einwurf hatte ich ihn kalt erwischt. Lill schaute zwischen mir und Lester hin und her, Lesters Verwirrung entging ihr nicht. Aber sie sagte nichts, also grinste ich nur.
Ein Auto hupte uns an, es wollte vorbei; der Bus stand immer noch blinkend und mit ausgefahrenem Stoppschild auf der Straße. Lärm und Bedrängnis setzten Lester noch mehr zu, und es beschämte mich, wie leicht er sich in die Irre führen ließ.
Jetzt entglitt mir selbst das Lächeln, als ich auf Fish und mich zeigte. »Unser Poppa liegt im Krankenhaus in Salina«, sagte ich zu Lill und hatte einen Knoten im Bauch dabei. Lill, die sehr viel mehr auf Draht war als Lester, sah mich aufmerksam an. »Mr Swan war heute auf meiner Geburtstagsfeier«, fuhr ich fort und gab mir alle Mühe, der Frau in die Augen zu sehen. »Die Feier war in unserer Kirche in Hebron.« Die letzten Worte betonte ich, um Lester den Ball zuzuspielen, aber er konnte mir wohl nicht so ganz folgen.
»Ja«, sagte Bobbi fast fröhlich. »Der gute Lester hat mit meinem Vater gesprochen – der ist nämlich Pastor in Hebron –, er hat einige Bibeln geliefert, und …«
»Und als unser Vater«, Will zeigt auf Bobbi und sich, auch er war jetzt bereit, die Geschichte weiterzuspinnen, wenn auch nicht so eifrig wie seine Schwester. »Also, als er erfuhr, dass unser guter Freund Lester wieder nach Salina musste …«
»Da meinte er, Lester sollte uns alle mitnehmen«, fügte Fish in nüchternem Ton hinzu, als wäre die Geschichte damit zu Ende.
Lill schaute uns zweifelnd an. Ich merkte, dass sie uns nicht so ganz glaubte. Lester dagegen wirkte irgendwie erleichtert, als fände er es auf einmal viel einleuchtender, dass wir in seinem Bus mitfuhren, auch wenn er die Sache ein wenig anders in Erinnerung hatte.
Lester gab sein Bestes, uns Kinder Lill vorzustellen, da er ja jetzt ein Freund der Familie war. Leider machte er seine Sache nicht allzu gut, er nannte Fish »Hering« und Will junior »B-Bill junior« und mich »Miez«. Bobbis Namen sagte er richtig, dafür vergaß er Samson zu erwähnen, aber vielleicht wusste er auch gar nicht mehr, dass Samson sich unter dem Feldbett verkrümelt hatte.
»Schön, euch kennenzulernen«, sagte Lill gedehnt und voller Argwohn. Dann setzte sie sich neben Lester seitlich hin, streckte die Beine aus und ließ die weißen Sneakers wie ein Kind über die Sitzbank baumeln, den Rücken zum Fenster, damit sie uns alle im Blick hatte.
Als Lester das Stoppschild wieder einfuhr und die Blinklichter ausschaltete, wanderte Lills Blick zu den Kratzern auf Fishs Gesicht und Wills blauem Auge. »Es könnte euch nicht schaden, wenn ihr euch mal wieder waschen würdet. Ist das hier nicht vielleicht doch der Bus für die bösen Kinder?«, sagte sie und schaute mit einem nervösen Lachen, das zu klein für ihren Körper schien, zu den kaputten Scheiben.
»Nein, nur der Bus für die Außenseiter«, sagte Bobbi.
Lill lächelte. »Dann bin ich hier ja genau richtig.«