1. Kapitel

 

Als mein Bruder Fish dreizehn wurde, zogen wir so weit wie möglich ins Landesinnere, wegen dem Hurrikan und natürlich weil Fish ihn verursacht hatte. Ich hatte gern im Süden am Rand des Landes gelebt, nah bei den Wellen, die kommen und gehen. Mächtig gern hatte ich dort gelebt, und wegzugehen war hart – so hart wie die Straße beim ersten Sturz mit meinem rosa Fahrrad; meine Hände brannten wie Feuer von dem Schmerz unter der Haut. Aber es war klar, dass Fish auf keinen Fall in der Nähe irgendeines größeren Gewässers wohnen konnte und auch nicht daneben oder darauf oder darüber. Wasser löste bei meinem Bruder etwas aus, und dann nahm ganz normales, alltägliches Wetter eine schreckliche Wendung.  

Anders als gewöhnliche Hurrikane war Fishs Geburtstagssturm ohne Vorwarnung ausgebrochen. Eben noch hatte mein Bruder in unserem Garten nah am Strand Geschenke ausgepackt, als plötzlich sowohl Fish wie auch der Nachmittagshimmel eigentümlich und erschreckend grau aussahen. Mein Bruder hielt sich am Rand des Picknicktisches fest, während der Wind um ihn herum auffrischte, kräftiger wurde und ihm das Geschenkpapier aus den Händen riss, es hoch in den Himmel segeln ließ, die Luftschlangen und Ballons zu einem Knäuel zusammenfegte, bis sie in Fetzen rissen wie eine Geburtstagsparty im Mixer. Es ächzte und knackte, Bäume bebten und bogen sich, wurden entwurzelt und fielen wie Stöcke auf den nassen Sand. Regen prasselte auf uns nieder, als würde ein ungezogener Junge auf dem Spielplatz mit Kies werfen, Fenster zerbrachen, Schindeln fielen von den Dächern. Als der Sturm anschwoll und der Ozean wogte und schäumte und wütendes Wasser samt Treibgut immer weiter auf den Strand spülte, packten Momma und Poppa Fish und hielten ihn fest, während wir anderen Schutz suchten. Momma und Poppa wussten, was los war. Sie hatten mit so etwas gerechnet, sie wussten, dass sie meinen Bruder beruhigen und ihm helfen mussten, seinen Sturm heil zu überstehen.  

Es war der kürzeste Hurrikan, der je gemessen wurde, doch um die Küstenorte vor unserem Fish zu bewahren, packten wir alles zusammen und zogen tief ins Landesinnere, stießen regelrecht ins Herz des Landes vor und ließen uns erst nieder, als wir richtig mittendrin waren. Dort, wo es keine größeren Gewässer gibt, die Stürme anfachen konnten, durfte Fish es ruhig wehen und regnen lassen.  

Genau zwischen Nebraska und Kansas fanden wir einen kleinen Fleck ganz für uns allein nicht weit vom Highway 81, außer Rufweite vom nächsten Nachbarn, und das war für eine Familie wie unsere auch besser so. Der nächste Ort war nur ein verschwommener Fleck in der Ferne, und er war nicht mal so groß, dass er eine Schule gehabt hätte oder einen Laden, eine Tankstelle oder einen Bürgermeister.  

Von Montag bis Mittwoch nannten wir unser schmales Stück Land Kansaska. Von Donnerstag bis Samstag nannten wir es Nebransas. Am Sonntag, der ja der Tag des Herrn ist, nannten wir es überhaupt nichts, aus Respekt davor, dass Gott unsere Welt ohne Grenzlinien geschaffen hat und sie nicht von Anbeginn so aussah wie das zerfurchte Gesicht meines Opas.  

Ohne den alten Opa Bomba gäbe es Kansaska-Nebransas überhaupt nicht, und dann könnten wir auch nicht dort wohnen. Als Opa noch kein Opa war, sondern ein Lausebengel, der dreizehn tropfende Kerzen auf einer windschiefen Geburtstagstorte auspustete, erwischte sein Schimmer ihn hart und heftig – genau wie es Fish später auf der Geburtstagsfeier im Garten mit dem Hurrikan ergehen sollte – und der ganze Staat Idaho entstand aus dem Nichts. So hat Opa Bomba es jedenfalls erzählt. »Bevor ich dreizehn wurde«, sagte er immer, »stieß Montana direkt an Washington, und Wyoming und Oregon lagen kuschlig beieinander.« Die Geschichte von Opas dreizehntem Geburtstag war im Laufe der Jahre immer größer geworden, genau wie das Land, das er strecken und verrücken konnte, und Momma schüttelte nur den Kopf und lächelte, wenn er seine Lügengeschichten erzählte. Aber tatsächlich hat dieser kleine Junge, der wuchs und alt wurde wie Wein und Dreck, neue Orte geschaffen, wo immer es ihm gefiel. Das ist Opas Schimmer.  

Mein Schimmer hatte mich noch nicht erwischt. Aber es waren nur noch zwei Tage bis zu meinen dreizehn tropfenden Kerzen – obwohl die Torten, die meine Momma backt, niemals windschief sind. Mommas Torten sind vollkommen wie Momma selbst, denn das ist ihr Schimmer. Momma ist vollkommen. Alles, was sie macht, ist vollkommen. Selbst wenn sie etwas vermasselt, vermasselt sie es auf vollkommene Weise.  

Ich überlegte oft, wie es wohl bei mir sein würde. Ich stellte mir vor, wie ich die Kerzen auf der Torte auspustete und mit ihnen alle Kaminfeuer in den vier umliegenden Countys erloschen. Oder wie ich mir einen Wunsch überlegte und die Backen aufblies – und schon schwebte ich als Geburtstagsluftballon an die Zimmerdecke.  

»Ich kriege einen guten Schimmer«, sagte ich zu meinem Bruder Rocket. »Das weiß ich genau.«  

»Mädchen kriegen kein scharfes Pfefferminz«, sagte Rocket. Dabei fuhr er sich mit der Hand durch die kurzgeschnittenen, ungekämmten Haare, dass sie knisterten. »Für Mädchen gibt’s die stillen, freundlichen Schimmer – Zimt und Zucker und alles in Butter. Nur Jungs kriegen die welterschütternden Schimmer.«  

Ich sah meinen Bruder nur böse an und streckte ihm die Zunge raus. Rocket und ich wussten beide, dass in unserem Stammbaum viele Mädchen rumkletterten, die starke, handfeste Schimmer hatten, Großtante Jules zum Beispiel, die mit jedem Niesen zwanzig Minuten in der Zeit zurückgehen konnte, oder Olive, unsere Cousine zweiten Grades, die mit einem einzigen glühend heißen Blick Eis zum Schmelzen brachte.  

Rocket war siebzehn und hatte lauter Zeug im Kopf, von dem ich noch lange nicht sprechen darf. Aber er war durch und durch elektrisch geladen und bildete sich eine Menge darauf ein. Mal ließ er aus Spaß meine Haare zu Berge stehen, als hätte er einen Luftballon daran gerieben, mal verpasste er Fish vom anderen Ende des Zimmers aus einen gemeinen Stromschlag. Doch Rocket sorgte dafür, dass wir immer Licht hatten, auch wenn der Strom ausfiel, und das wussten alle Familienmitglieder zu schätzen, vor allem die kleineren Beaumonts.  

Rocket war der Älteste, dann kam Fish und dann ich. Fish und ich waren nur ein Jahr auseinander, wir waren fast gleich groß und sahen uns sehr ähnlich mit unseren Haaren wie Sand und Stroh – Mommas Haare. Aber während ich Poppas haselnussbraune Augen hatte, hatte Fish Mommas meerblaue. Es war, als hätten wir uns jeder ein Stück Momma genommen und ein Stück Poppa und den Rest selbst gemacht.  

Ich war weder die Jüngste noch die Kleinste in der Familie; Samson der Grübler war dunkle, geheimnisvolle sieben, und Gypsy mit dem Puppengesicht war drei. Gypsy mit ihrem Brabbelsabbel hatte ich den Namen Mibs zu verdanken, denn meinen richtigen Namen, Mississippi, brachte ihre zarte Zuckerzunge nicht zustande. Aber das war eine Erleichterung. Dieser Name hatte mich immer verfolgt wie eine von Fishs schweren Gewitterwolken.  

An dem Donnerstag vor dem Freitag vor dem Samstag, an dem ich dreizehn wurde, war ich ganz erfüllt von kribbeliger, krabbeliger Geburtstagsspannung. Beim Abendessen saß ich neben Poppas leerem Platz, wo ein Teller für ihn gedeckt war, und bekam kaum einen Bissen hinunter. Mir gegenüber plapperte Gypsy unaufhörlich, zählte die Geschöpfe im Raum, die sie sich ausdachte, und wollte, dass ich ihnen Namen gab.  

Ich schob das Essen auf meinem Teller herum, achtete nicht auf meine Schwester und stellte mir gerade vor, wie es sein würde, wenn ich erst meinen eigenen Schimmer hätte, als das Telefon klingelte, mitten hinein in den Schmorbraten mit Kartoffelbrei und den höchst ungeliebten grünen Bohnen. Momma stand auf und ging an den Apparat, und diese Chance nutzten wir Kinder und auch Opa Bomba, um die Bohnen unbemerkt unterm Kartoffelbrei verschwinden zu lassen. Und Samson konnte ebenso unbemerkt ein paar Bohnen in die Hosentasche stecken, als Futter für seine tote Schildkröte, obwohl Momma immer sagte, er solle ihr nicht unser gutes Essen geben, denn sie sei tot und das Essen würde bloß vergammeln. Doch Samson war felsenfest überzeugt, dass die Schildkröte nur Winterschlaf hielt, und Momma brachte es nicht übers Herz, sie rauszuwerfen.  

Wir saßen am Küchentisch und grinsten uns an, weil wir das Bohnenproblem so geschickt gelöst hatten, da ließ Momma das Telefon scheppernd fallen und schluchzte auf – vollkommen niedergeschmettert. Sie sank auf alle viere und sah aus, als würde sie durch die braunen und blauen Linoleumfliesen hindurchstarren, um die brennend heiße Lava im Innern der Erde zu sehen.  

»Es ist Poppa«, sagte Momma mit erstickter Stimme. Ihr vollkommenes Gesicht war verzerrt.  

Eine Windbö kam von Fish herüber, unsere Haare flatterten und die Papierservietten flogen vom Tisch. Die Luft im Zimmer wurde feuchtwarm, als hätte das Haus einen Schweißausbruch bekommen, und die vielen verstaubten, fest verschlossenen, scheinbar leeren Einmachgläser, die auf allen Schränken standen, klirrten und klapperten wie Sektgläser an Silvester. Draußen regnete es schon Fish-Regen, binnen Sekunden wurde aus dem Sprühregen ein heftiger Guss, während Fish glotzäugig wie sein Namensvetter starrte, seine Angst, aber nicht seinen Schimmer in Schach halten konnte.  

»Momma?«, sagte Rocket. Die Luft um ihn herum knisterte, so aufgeladen war sie, und sein T-Shirt klebte an ihm wie Socken an Handtüchern, wenn sie frisch aus dem Trockner kommen. Die Lichter im Haus flackerten und knisterten, knackende blaue Funken sprühten von seinen nervös zuckenden Fingerspitzen.  

Momma schaute auf Poppas leeren Stuhl und seinen wartenden Teller, dann wandte sie sich uns zu und erzählte mit zitterndem Kinn von dem Unfall auf dem Highway. Sie erzählte uns, dass Poppas Auto zerdrückt worden war wie eine Coladose von einem Cowboystiefel und Poppa vergessen hatte auszusteigen, bevor es geschah, und jetzt schlief er in einem Bett im Salina Hope Hospital, schwer verletzt, und konnte nicht aufwachen.  

»Keine Angst, Kind«, sagte Opa, als wäre die Zeit zurückgesprungen und Momma wieder ein kleines Mädchen, das auf seinem Knie saß und um eine kaputte Puppe weinte. »Die Ärzte wissen schon, was sie tun. Die flicken dir deinen Kerl im Nu zusammen. Die nähen ihm die Knöpfe schon wieder an.« Opa Bomba sprach ruhig und zuversichtlich. Doch als Rockets nervöse Funken Opas Gesicht wie die Blitze eines Stroboskops erhellten, sah ich die Sorge tief in seine Falten eingebrannt.  

Die Hälfte der Hälfte der Hälfte einer Sekunde lang hasste ich Poppa. Ich hasste ihn dafür, dass er so weit weg von zu Hause arbeitete und jeden Tag über den Highway fahren musste. Dafür, dass er den Unfall gehabt und uns den Schmorbraten verdorben hatte. Vor allem wurde mir klar, dass es meine vollkommene Torte mit rosa und gelbem Zuckerguss jetzt wohl nicht geben würde, und ich hasste Poppa dafür, dass er mir meinen wichtigsten Geburtstag verdarb, noch bevor es so weit war. Und dann empfand ich Scham, heiße Scham, dass ich so etwas über meinen lieben guten Poppa dachte, und sackte tiefer in meinen Stuhl. Um es wiedergutzumachen, saß ich still da und aß die lästigen grünen Bohnen unter meinem Kartoffelbrei allesamt auf, während Fishs Regen gegen die Fenster schlug und Rocket alle Glühbirnen im Haus mit einem elektrischen Zischeln und einem Plopp durchbrennen ließ, Glasscherben klirrend zu Boden fielen und es im ganzen Haus stockdunkel wurde.