17. Kapitel

 

Irgendwann später, kurz vor Emerald, tauchte Samson der Schatten lautlos neben Fish auf. Er hielt die leere Chipstüte fest in der Hand. Das doppelte Gelb der Ampel an der Querstraße spiegelte sich in Lills weit aufgerissenen Augen. Sie schaute mich fragend an und zeigte auf Samson, der neben Fish saß und ihm etwas zuflüsterte.  

»Und was ist das für ein Wesen?«, fragte Lill leise, als wäre er ein scheues, wildes Etwas, das sich aus seinem Versteck gewagt hatte.  

»Das ist noch ein Bruder von mir. Er heißt Samson«, erklärte ich. »Er ist sieben und er redet nicht so viel.«  

»Der große Schweiger, was? Hallo, Samson«, sagte Lill freundlich. Samson schaute Lill teilnahmslos an, so wie die Tiere im Zoo gucken, wenn man sie anschaut. Dann blickte er schnell wieder zu Fish, stieß ihm seinen dünnen Ellbogen in die Rippen und knisterte mit der leeren Tüte.  

»Mein Bruder hat Hunger, Ma’am«, erklärte Fish. »Seit heute Mittag haben wir nicht groß was gegessen, und jetzt ist die Zeit zum Abendessen bestimmt schon vorbei.«  

Lill schaute auf die Armbanduhr, sie hielt sie in dem schwachen Licht im Bus nah an die Augen. Dann seufzte sie tief. »Wo du Recht hast, hast du Recht, Mr Fish. Die Zeit zum Abendessen ist lange vorbei und meine Schicht in der Raststätte hat auch schon längst angefangen. Wenn es eins gibt, was ich echt draufhab – wofür ich ein echtes Talent habe –, dann ist es Zuspätkommen.« Sie schaute uns der Reihe nach an, und um ihre Augen bildete sich ein bekümmertes Lächeln. Ihr anfängliches Misstrauen gegen uns war mit meinen Erzählungen von Poppa und dem Unfall dahingeschmolzen. Ich hatte meine Angst und meinen Kummer nicht verbergen können, und Lill hatte sich mitfühlend gezeigt. Wenn man eine gütige Frau für sich einnehmen will, gibt es bestimmt nichts Besseres als ein trauriges Mädchen mit einer zu Herzen gehenden Geschichte.  

»Aber ich sag euch was«, fuhr Lill fort. »Wenn ich zur Arbeit komme und wenn ich diese Arbeit dann immer noch habe, wenn mein Chef mich nicht auf der Stelle rausschmeißt, weil ich zu spät komme – zum x-ten Mal«, stöhnte sie. »Dann sorg ich dafür, dass ihr alle was Schönes zu essen kriegt. Ich verspreche euch sogar, dass ihr jeder ein Stück Kuchen kriegt, bevor ihr wieder losmüsst – das spendiere ich.«  

»Hast du Bananencremetorte?«  

Alle drehten sich zu Samson um, verblüfft, dass er ausnahmsweise einmal nicht nur flüsterte. Seine Chorknabenstimme war heiser vom Schweigen und Feldbettstaub, aber lieblich wie eh und je. Ich versuchte mich zu erinnern, wann er das letzte Mal laut gesprochen hatte – vor einem Tag? Vor einer Woche? Einem Monat? So war das mit meinem Grübelbruder. Jetzt lächelte ich ihn an; ich wusste, wie gern er Bananencremetorte aß.  

»Ach du je, der kann ja sprechen«, murmelte Bobbi. Und während Samson immer noch ernst, mit versteinerter Miene dasaß, ging ein Giggelkichern durch die Reihen, das zu prustendem Gelächter anwuchs, während die Spannung des Tages sich löste, wie wenn eine große Welle ans Ufer klatscht. Hätte ich vergessen können, weshalb ich hier war, dann hätte ich beinahe glücklich sein können. Mitten in all dem Durcheinander hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, ich könnte vielleicht Freunde finden – und das schloss sogar Bobbi mit ein.  

Lester folgte Lills Anweisungen und fuhr nach Emerald hinein. Die Fernfahrer-Raststätte lag am anderen Ende der Stadt und leuchtete in schwachgrünem Neon. Grellweißes fluoreszierendes Licht drang durch die Eingangstür aus Glas und durchschnitt die Dunkelheit. Nicht weit von der Straße waren einige Motorräder geparkt, starke Maschinen. Der Parkplatz war voller Pickups, und auf einem weiteren Parkplatz hinter dem Gebäude standen Sattelanhänger wie Eisenbahnwaggons in Reihen nebeneinander. Lester musste den großen rosa Bibelbus hinter all den Lastwagen und Anhängern in einer finsteren kleinen Gasse parken, die mit stinkenden Müllcontainern, stapelweise zersplitterten Holzpaletten und alten, verrotteten Pappkartons übersät war.  

»Ich hätte euch wohl l-lieber vorher rauslassen sollen«, sagte Lester entschuldigend und half Lill beim Aussteigen, als wäre sie eine Prinzessin.  

»Bleibt schön zusammen, Kinder«, sagte Lill und schaute sich in der schwach beleuchteten Gasse um. Wir stiegen nach den beiden Erwachsenen aus dem Bus und liefen um Zeitungen und zerrissene Plastikfolie herum, die in der Abendbrise raschelten und flatterten. Ich konnte nicht sagen, ob die Brise eine gewöhnliche irdische Brise oder das Ergebnis von Fishs Sorge um Poppa war; seine Miene war undurchdringlich, während wir die verlassene Gasse entlanggingen.  

Lill nahm Samsons Hand und er ging, ohne zu murren, zwischen ihr und Lester her, als täte er das jeden Tag. Ich wunderte mich, dass Samson auf einmal so schnell Zutrauen zu Fremden fasste. Doch sein angespannter Kiefer und seine steife Körperhaltung verrieten mir, dass auch er Angst hatte und Momma und Poppa vermisste und dass Lill und Lester in diesem Moment eben das Zweitbeste waren. Fish marschierte vorneweg, wie ein Pfandfinder, der guckte, ob der Weg auch sicher war; Bobbi stapfte hinterher und Will und ich bildeten das Schlusslicht.  

Und da sah ich etwas, das mich vor Schreck zusammenfahren ließ. Ich blieb am Rand des Parkplatzes hinter der Raststätte stehen, wo die Gasse in die Straße mündete. Hinter einem widerlichen Müllcontainer, der von bergeweise überladenen Müllsäcken umgeben war, ragte unter einem Stapel alter Kleider eine schmutzige Hand hervor. Die Handfläche zeigte nach oben und die Finger waren wie hilfesuchend ausgestreckt.  

Ich packte Will am Arm und riss ihn zurück, ich wagte kaum zu atmen. Die anderen gingen weiter und bemerkten weder die schmuddelige Hand noch Will und mich, die zurückgefallen waren und die Hand anstarrten, noch den Körper des Mannes, zu dem sie gehörte. Ich schaute Will an und er schaute mich an, seine Augen waren rund in dem gespenstischen Licht einer einsamen Straßenlaterne.  

Als wir genauer hinsahen, erkannten wir die reglose Gestalt eines dreckigen, bärtigen Obdachlosen, er stank nach Trunksucht und Elend. Will versuchte mich wegzuziehen. Er machte eine Kopfbewegung zu den zahlreichen leeren Flaschen neben dem Mann auf dem Boden. »Wir können nichts für ihn tun, Mibs«, sagte er, bedauernd, doch entschieden wie ein Polizist, der Schaulustige von einer Unfallstelle wegschickt. »Komm, Mibs, wir gehen.« Wieder zog er mich sanft am Arm, aber ich wich nicht von der Stelle.  

»Und wenn er tot ist?«, flüsterte ich. Mein Herz pochte. Wie ich den Mann da auf dem Weg liegen sah, musste ich an Poppa denken, der genauso still und leblos in Salina lag, und mein Herz war kurz vorm Zerspringen.  

»Der Typ hat wahrscheinlich zu viel getrunken und das Bewusstsein verloren, Mibs«, sagte Will nervös; er wollte nicht länger bei dem Obdachlosen stehen bleiben, er wollte weitergehen zu den anderen. Doch ich hörte kaum noch hin, spürte kaum seine Hand auf meinem Arm. Ich sah nur den unglückseligen Mann. Ich konnte nur daran denken, dass ich vielleicht doch etwas für ihn tun konnte. Ich konnte ihn aufwecken. So wie ich Poppa aufwecken würde, wenn ich erst mal in Salina war. Keine dummen Stimmen mehr in meinem Kopf, mein richtiger Schimmer musste endlich einrasten, wie es gedacht war. Und zwar jetzt.  

Ich machte einen Schritt auf den leblosen Fleischklumpen zu, der einmal ein umherwandernder, redender, hoffender, träumender Mann gewesen war – der einmal der Sohn oder der Freund von jemandem gewesen war … oder der Vater.  

»Mibs!«, zischte Will und versuchte mich wegzuziehen, aber ich schüttelte ihn ab.  

Ich kniete mich auf den Weg und spürte kaum die Steinchen, die sich in mein Knie drückten. Ich war jetzt nah genug, dass ich die Hand ausstrecken und einen zaghaften, zitternden Finger auf das nach oben gedrehte Handgelenk des Mannes legen konnte, als wollte ich seinen Puls fühlen.  

Ich durchforstete mein Innerstes und suchte nach diesem Etwas, dem Funken, dem mächtigen Sturm, der nur mein war – suchte nach der Quelle meiner Schimmerkraft und konzentrierte mich mit aller Macht darauf, den Mann aufzuwecken, der vor mir auf dem Boden lag.  

Wach auf.  

Wach auf.  

Bitte. Wach auf.  

Immer wieder dachte ich es in meinem Kopf, flüsterte es ganz leise wie einen Singsang. Ich dachte es fester, als ich je irgendetwas gedacht hatte. Ich konzentrierte mich so sehr, dass meine Augen anfingen zu tränen und meine Zähne wehtaten, so fest biss ich sie zusammen.  

Meine Finger drückten immer stärker auf das kalte, knochige Handgelenk. Ich spürte das Blut langsam, fast zögernd unter seiner Haut pulsieren. Einen Augenblick lang geschah überhaupt nichts. Dann dröhnte eine schroffe, polternde Stimme durch meinen Kopf, die mich zurückfahren ließ, so dass ich auf dem Boden landete.  

»Will nichts mehr sehen … nichts mehr fühlen. Lass mich aus dieser Welt gehen … Ich hab zu viel gesehen … zu viel!«  

Die Stimme in meinem Kopf war erfüllt von dem Sog bodenloser Verzweiflung. Ich spürte den Schmerz und das Leid des bewusstlosen Mannes genau hinter meinen Augen, sie erschütterten mein Gehirn wie eine Granate.  

»Zu viel gesehen! Lass mich in Ruhe …« Doch der Mann wachte nicht auf.  

Ich konnte ihn nicht aufwecken.  

Und da wusste ich – ganz genau und so sicher wie nur was –, da wusste ich, dass ich nichts tun konnte – nichts –, um Poppa zu helfen.  

Es war ein Gefühl, als hätte mir jemand in den Magen geboxt und alle meine Knochen herausgezogen, so dass ich nur noch ein elender, nutzloser Klecks Wackelpudding war. Der Mann bewegte sich auf dem Boden, ohne aufzuwachen, und drehte die Hand, so dass das einfallslose Bild eines aufsteigenden Adlers sichtbar wurde, das vor vielen Jahren auf seinen Handrücken tätowiert worden war. Als ich die Qual und Verzweiflung der Stimme hörte, die in meinem Kopf schrie, flatterte der Adler, kreischte und schlug mit den Flügeln, als wäre er verrückt geworden, als wollte er nur ausbrechen und davonfliegen.  

Da begriff ich, dass es Zufall gewesen war, nicht mein Schimmer, der Gypsy am Morgen geweckt hatte, und dass Samsons tote Schildkröte mir einen Streich gespielt hatte, sie war einfach nur so an meinem wichtigsten Tag aus dem Winterschlaf erwacht, ohne Rücksicht auf Schimmer, Hoffnungen und mögliche Missverständnisse. Die Natur hatte das ihre getan, und ich hatte es auf mich bezogen.  

Zum ersten Mal, seit ich alt genug war, um zu wissen, was es bedeutet, einen Schimmer zu haben, zum ersten Mal, seit ich angefangen hatte von meinem eigenen Schimmer zu träumen, wäre ich lieber wie Poppa gewesen und hätte überhaupt keinen Schimmer gehabt. Keinen Schimmer, der mir Kummer bereitete. Keinen Schimmer, der mir erst Hoffnungen machte und mich dann nutzlos zurückließ.