34. Kapitel

 

Je näher wir Salina kamen, desto grüner wurde die Welt, die hügelige Prärie verwandelte sich in fruchtbares bewässertes Ackerland. Nachdem wir Samson hinter der Wandvertäfelung in Carlenes Wohnwagen gefunden hatten, hatte sich Fishs Sturm über dem Tuttle Creek Lake sofort verzogen. Jetzt riss das grellweiße Licht der Frühlingssonne den Himmel wieder auf. Doch trotz Sonnenschein und knallgrüner Landschaft waren meine Gedanken dürr, düster und schwarzweiß. Ich konnte nur an Poppa denken.  

Will junior und ich saßen weit vorn im Bus, damit er den Streifenwagen seines Vaters im Blick hatte. Fish und Bobbi saßen auf der anderen Seite des Ganges und achteten nicht auf die Sozialarbeiterin direkt hinter ihnen. Bobbi kaute Kaugummi und lackierte sich die Nägel mit rotem Nagellack aus dem Super-Supermarkt, bei jedem Hubbel auf der Straße leise fluchend, und Fish lehnte mit geschlossenen Augen am Fenster. Ich wusste, dass er nicht schlief. Wahrscheinlich dachte er an Poppa, genau wie ich. Ich bekam die Worte von Officer Meeks nicht aus dem Kopf. Ich konnte nicht vergessen, was er über Poppa gesagt hatte.  

»Er braucht jetzt seine Familie um sich.« Das klang furchtbar … Es klang hoffnungslos.  

Da Samson nicht an dem Polizisten vorbeikam, der im hinteren Teil des Busses postiert war, hatte er sich vorn bei Lill zusammengekauert, den Kopf in ihrem Schoß. Lill verbrauchte sämtliche Desinfektionstücher aus dem neuen Verbandskasten, um Samsons Arme und Hände von der schwarzen Farbe zu befreien. Die Farbe gurgelte und zitterte, als sie herunterkam, das Durcheinander in meinem Kopf verdichtete sich zu einer einzigen deutlichen Stimme, die mir ins Herz stach, bevor sie weggeschrubbt wurde.  

Stark für Poppa.  

Stark für Poppa …  

Wir mussten noch einen letzten Abschnitt auf der Fernstraße fahren, ein letztes langsames Padam-Padam von Kilometern und Ausfahrten, und ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht zu fragen: »Wie lange noch? Wie lange noch? Wie lange noch?«  

Es kam mir vor wie eine Ewigkeit plus eine Stunde, ehe Lester hinter Bill Meeks’ Streifenwagen bei der Ausfahrt Nummer 252 abfuhr, dann vorbei an einem Schild mit einem großen weißen H wie Hospital, das uns zeigte, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Ich zitterte, als ich den schlichten, kalkweißen Buchstaben sah. Es bedeutete, dass wir fast da waren, endlich fast bei Poppa.  

Bill bog links ab, fuhr unter der Fernstraße hindurch und auf die Ninth Street bis ins Stadtzentrum von Salina. An allen Kreuzungen waren die Ampeln durchgeknallt, sie sahen aus wie senkrechte Reihen leerer Augenhöhlen. Fahrzeuge schoben sich schleichend über die befahreneren Straßen, und obwohl Sonntagnachmittag war, staute sich der Verkehr. Straßenarbeiter waren im Einsatz, um das kaputte rote, gelbe und grüne Glas zu ersetzen; die Stadt hatte sich von den Folgen des Stromausfalls offenbar noch nicht ganz erholt. Ich schluckte schwer; ich hatte noch nie gesehen, dass Rocket so ein Chaos angerichtet hatte. Mein Zittern wurde noch stärker. Vielleicht war es doch nicht so eine gute Idee von Momma gewesen, sich von Rocket nach Salina fahren zu lassen. Ich hoffte, dass sie im Krankenhaus genügend Ersatzglühbirnen hatten und dass Rocket nicht zu nah an lebenswichtige Geräte gekommen war.  

Jetzt saßen wir alle ganz vorn auf unseren Sitzen; seit wir die Schnellstraße verlassen hatten, war auch die letzte Spur von Schläfrigkeit verschwunden. Wäre Bill nicht vorausgefahren, hätte es ewig gedauert, sich mit dem Bus einen Weg durch die verstopften Straßen zu bahnen.  

Bill schaltete die Sirene ein, und ein- oder zweimal stieg er sogar aus und winkte den Bus über Kreuzungen, wo genervte Fahrer uns nicht durchlassen wollten. Am Nachmittagshimmel, der sich vor unserer Ankunft kornblumenblau über der Stadt gewölbt hatte, zeigten sich jetzt immer mehr Wolken. Niederschlag sammelte sich am Rand der Atmosphäre in Gestalt einer kleinen dunklen Sturmwolke genau über dem Bus. Doch Fish hielt seinen Schimmer mit einer starken, geschickten Lasur in Schach, und die Wolke lauerte nur grimmig über uns, ohne ein einziges Tröpfchen herabzuschicken.  

Bill musste im Krankenhaus angerufen und uns angekündigt haben, denn in dem Moment, als der große rosa Heartland-Bibelbus hinter dem Streifenwagen auf den Krankenhausparkplatz auffuhr und direkt vor den großen gläsernen Schiebetüren des Eingangs hielt, sahen wir schon unsere Familien, die auf uns warteten.  

Pastor Meeks und Miss Rosemary konnten sich offenbar nicht entscheiden, ob sie erleichtert oder wütend sein sollten, ihre Mienen wechselten zwischen staunend und starr, lächelnd und steif. Rocket und Momma sahen abgespannt und schlaflos aus. Zu meiner Überraschung hielt Momma eine zappelnde Gypsy fest, und Opa Bomba stützte sich auf Rockets Arm und hielt eins von Oma Dollops Einmachgläsern in der Hand. Offenbar hatten der Pastor und seine Frau den Rest unserer Familie mitgenommen, und dafür war ich ihnen dankbar. Es war gut, dass wir alle wieder beisammen waren.  

Lester öffnete die Bustür, und da setzte Momma Gypsy ab, nahm sie an die Hand und rannte auf uns zu, während wir die drei Stufen hinuntergingen.  

»Wo um alles in der Welt habt ihr gesteckt? Was habt ihr euch bloß dabei gedacht?«, schrie Momma. Sie packte Fish und Samson und mich und hielt uns fest, ganz fest, sie drückte uns zusammen mit Gypsy wie einen großen Blumenstrauß in einer vollkommenen Umarmung. Als sie uns schließlich losließ, zog sie uns ins Krankenhaus hinein und untersuchte uns alle, als wollte sie nachsehen, ob auch alle Finger und Zehen noch dran waren.  

»Ich hab mir gar keine Sorgen gemacht«, sagte Rocket, aber sein Gesicht war so hart und verkniffen, dass ich ihm kein Wort glaubte. Er drückte meine Schulter und verpasste mir dabei aus Versehen einen Stromschlag, dass ich zusammenzuckte. Seine Stimme brach, als er sagte: »Am dreizehnten Geburtstag gibt es bei uns ja immer ein Riesenspektakel.« Dann boxte er Fish gegen den Arm, zerstrubbelte Samson die Haare, so dass sie elektrostatisch geladen hochstanden. Bis dahin hatte ich mir keine Gedanken darüber gemacht, dass Rocket nicht nur um Poppa besorgt war, sondern auch um uns. Das schlechte Gewissen drückte mich fast nieder – kein Wunder, dass er so großen Schaden angerichtet hatte.  

Opa Bomba stand auf, und Tränen liefen ihm über die runzligen Wangen, als er von einem zum anderen schaute. Er hielt das Einmachglas mit dem verblichenen Etikett fest in der Armbeuge, und ich wusste sofort, welches es war.  

Ich schlang die Arme um meinen Opa und drückte ihn, so fest seine alten Knochen es zuließen. »Es ist alles gut, Opa«, sagte ich. »Jetzt sind wir alle wieder zusammen, wie es sich gehört.«  

Ich ließ ihn los und schaute zu Momma. Samson war an ihrer Seite und zupfte sie am T-Shirt. Momma achtete nicht auf die zerrende Gypsy und bückte sich, damit Samson ihr etwas ins Ohr flüstern konnte. Mit großen, dunklen Augen schaute Samson zu Momma auf, und ich sah, wie seine Lippen das Wort formten, das wir alle im Kopf hatten.  

»Poppa?«  

Mommas Gesicht wurde matt, das warme Lächeln, mit dem sie uns begrüßt hatte, verschwand für eine halbe Sekunde, bevor es durch ein anderes Lächeln ersetzt wurde – ein Lächeln, das aus Liebe und Leid geboren wurde und aus dem Wunsch, uns vor unseren allerschlimmsten Ängsten zu beschützen.  

»Es ist gut, dass ihr jetzt alle hier seid«, sagte Momma sanft. »Es war ein Fehler von mir, euch nicht gleich mitzunehmen.«  

»Aber Momma«, sagte ich. »Du machst doch keine Fehler.«  

Mommas Gesicht wurde angespannt, dann verzerrt, als sie versuchte nicht zu weinen. »O Mibs«, sagte sie und zog mich wieder an sich. »Ich kann furchtbar vollkommene Fehler machen.«

Rocket ließ den Kopf hängen und starrte zu Boden, seine Fingerknöchel traten weiß hervor und er biss die Zähne zusammen; die Lampen im Wartezimmer flackerten einmal kurz, brannten jedoch nicht durch.  

»Jetzt könnt ihr euch verabschieden«, sagte Momma, ließ mich los und trocknete sich die Augen. »Dann gehen wir hoch zu Poppa.«  

»Ich will jetzt sofort gehen«, sagte Fish drängend, hob Gypsy hoch und fasste Momma am Arm.  

Doch Momma ließ sich nicht mitziehen. Gedankenverloren strich sie Fish durch das wirre Haar und sagte: »In den nächsten zwei Minuten wird sich nichts verändern, Fish. Du kannst dich von deinen Freunden verabschieden.«  

Da hörte ich ein heftiges Schluchzen. Miss Rosemary stand da und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Sie tupfte sich die Augen mit einem Taschentuch und drückte abwechselnd Will und Bobbi an sich, während Pastor Meeks die Augen geschlossen und die Hände gefaltet hatte; er sah aus, als spräche er ein stilles, inniges Dankgebet.  

Bill war mit uns ins Wartezimmer gekommen, er hatte sich während des bewegten Familientreffens etwas abseits gehalten – und aufmerksam zugeschaut, wie Miss Rosemary Will mit seinem blauen Auge betüddelte wie eine Glucke. Doch als Pastor Meeks mit seinem Gebet fertig war und die Augen aufschlug, streckte er eine Hand aus, schüttelte kräftig Bills Hand, schlug ihm herzlich auf den Rücken und zog ihn in die Gruppe.  

Sobald sich eine Gelegenheit bot, löste Bobbi sich von ihrer Mutter und rückte lächelnd näher zu Rocket hinüber, und sie sah, wie sein aufgeladenes T-Shirt an seinem Körper klebte. Rocket bemerkte Bobbis Lächeln sofort und brachte trotz allem ein halbes Lächeln in ihre Richtung zustande. Ich dachte daran, wie Bobbi im Pool über meinen Bruder geredet hatte, und schaute hin, um zu sehen, was sie jetzt wohl machte.  

»Hi, Rocket«, sagte Bobbi, strich sich den Pony aus den Augen und verlagerte das Gewicht auf eine Hüfte.  

»Hi, Bobbi«, sagte Rocket mit einem Nicken, und ein einzelner blauer Funken sprühte von seinen Fingerspitzen.  

Die anderen bemerkten den Funken nicht, aber Bobbi sah ihn sehr wohl. Sie lächelte noch breiter und zog die Augenbrauen hoch, nahm den Kaugummi aus dem Mund und pappte ihn an die Rückenlehne des erstbesten Stuhls, ohne meinen ältesten Bruder aus den Augen zu lassen, als wäre sie drauf und dran ihn auf der Stelle zu küssen, solange die Gelegenheit günstig war.  

Doch ehe Bobbi noch etwas sagen oder tun konnte, hatte Miss Rosemary sie am Arm gepackt und von uns weggezogen. Miss Rosemarys Tränen versiegten wie ein Wasserhahn, der zugedreht wird, und sie schimpfte: »Du hast so schon Ärger genug, Roberta. Bring dich nicht noch mehr in Schwierigkeiten.« Dann sah sie uns Beaumonts an, als wären wir Engel des Teufels, dazu ausgesandt, ihre Kinder vom rechten Weg abzubringen.  

Der glänzende goldene Minivan wartete vorm Krankenhaus, und jetzt wollte Miss Rosemary nur noch die alte Ordnung in ihrem Leben wiederherstellen und sich mit Bobbi und Will im Schlepptau wieder auf den Weg nach Hebron machen.  

Lester und Lill standen breit lächelnd in der offenen Bustür und schauten sich das Familientreffen durch die Glastür des Krankenhauses an. Lester stand hinter Lill auf der Treppe, die Hände auf ihren Schultern, und ich brauchte die beiden nur anzusehen, um zu wissen, dass es ihnen gutgehen würde. Aber ich hoffte sehr, so sehr, dass ich sie eines Tages wiedersehen würde. Es wäre mir nicht richtig vorgekommen, wenn nicht.  

Ich hatte es bis nach Salina geschafft, endlich war ich da. Trotzdem hatte ich ein Gefühl in der Brust, als bräche mein Herz entzwei, als würde es sich in eine große Melone verwandeln, die sich jeden Moment in kleine wässrige Klumpen auflösen konnte. Ich fühlte mich zerrissen und es kam mir verkehrt vor, mich so plötzlich von all meinen neuen Freunden zu trennen. Ich konnte Bobbi und Will nur nachwinken, als Miss Rosemary sie aus dem Krankenhaus zerrte.  

Kurz bevor die Schiebetür zuging, erhaschte Will noch schnell meinen Blick. Mir fiel ein, dass ich ihn nächsten Sonntag in der Kirche wiedersehen würde, das hoffte ich jedenfalls – ich hoffte, dass man nicht aus der Kirche fliegen konnte, weil man falsche Entscheidungen traf oder weil man wusste, dass man, wenn man noch einmal davorstünde, wahrscheinlich wieder genauso handeln würde. Ich hoffte, dass Gott meine Beweggründe besser verstand als Miss Rosemary.  

Bevor Pastor Meeks seiner Frau aus dem Krankenhaus folgte, schüttelte er Momma die Hand. Auch Opa und Rocket schüttelte er die Hand. »Wir werden Sie alle in unsere Gebete einschließen«, sagte er und nickte uns ernst zu.  

»Vielen Dank, Pastor Meeks«, sagte Momma und versuchte ein versonnenes Lächeln zu unterdrücken, als sich die Haare des Pastors mit Rockets Elektrizität aufluden und sich kerzengerade aufstellten.  

Kaum hatte sich der Pastor zum Gehen gewandt, als Officer Bill Meeks auf uns zukam. »Ihr Kinder macht jetzt keine Dummheiten mehr, klar?« Bevor er ging, schüttelte er jedem von uns die Hand, sogar Gypsy. An der Tür schaute er noch einmal über die Schulter und nickte mir zu, dann folgte er dem Pastor aus dem Krankenhaus. Durch die Glastür sah ich, wie Bill bei Lester und Lill kurz stehen blieb und etwas zu ihnen sagte, dann verabschiedete er sich von Bobbi und Will, die in den Minivan einstiegen. Ich mochte Bill Meeks, und ich war froh, dass Will einmal so werden wollte wie dieser Vater.  

Im Heartland-Bibelbus begannen Lesters Schultern zu zucken. Er wollte jetzt los. Lill pustete uns einen Kuss zu und Fish und Samson und ich winkten zurück.  

Und jetzt war es endlich Zeit, zu Poppa zu gehen.