30. Kapitel
»Wo ist Samson?«, wiederholte ich panisch. Ich stolperte in den hinteren Teil des Busses und drehte Lesters Feldbett um. Die anderen kamen herbei, kippten die größeren Kisten um und schauten unter jedem einzelnen Sitz nach. Aber es war zwecklos. Samson hatte sich nicht irgendwo im Bus versteckt. Er war ganz einfach nicht da.
»Wir müssen zurück!«, riefen wir alle. »Wir müssen umkehren!« Aber Lester hielt das Lenkrad umklammert und starrte mit dem Blick eines Mannes auf die Straße, der sich damit abgefunden hat, dass sein Leben vorbei ist und dass er den Tag voraussichtlich im Gefängnis beschließen wird, weil er zwar das Richtige wollte, es aber falsch angepackt hat. Ich fühlte mich mies und dachte an meinen Schwur, auf Lill und Lester aufzupassen und sie nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Doch dafür konnte ich nicht meinen Bruder opfern; es war undenkbar, nicht umzukehren – selbst wenn die Polizei unterwegs war.
Lill erhob sich und stand in voller Größe zwischen uns Kindern und Lester, der sich immer weiter von dem Wohnwagenpark entfernte.
»Was ist hier los, Kinder?«, wollte sie wissen, ruhig, aber bestimmt, wie eine Mutter.
»Samson ist nicht im Bus!«, rief Fish, und eine Windbö blies Lill die Haare aus dem Gesicht, während Temperatur und Feuchtigkeit im Bus spürbar anstiegen. Mein Bruder biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste, er rang mit seinem Schimmer, ehe er fortfuhr: »Samson muss noch bei Carlene sein. Wir müssen zurück!«
Lills Augen weiteten sich und sie schaute uns entsetzt an. »Wir haben den Kleinen vergessen?« Wir nickten stumm. Dann wirbelte Lill zu Lester herum.
»Lester, du musst umkehren!«
»A-aber«, stammelte Lester. »Carlene hat die Polizei gerufen.«
»Das spielt jetzt keine Rolle, Lester«, versicherte Lill ihm und legte eine Hand auf seine nervös zuckende Schulter. »Wir müssen zurück.«
Lester fuhr noch ein paar hundert Meter, dann gab er sich geschlagen. Er machte eine weite Kehrtwendung, schneller als es einem alten Schulbus erlaubt war, und einen Moment lang rechnete ich fest damit, dass der große rosa Bus umkippen würde. Wir hielten uns an allem Möglichen fest, damit wir nicht umfielen, die Bibelkisten rutschten und rumpelten.
Als wir zum Wohnwagenpark kamen, hörten wir in der Ferne die erste Sirene. Lester am Steuer war so blass geworden wie die Geister aus Gypsys Fantasiewelt. Die strahlende Nachmittagssonne glitt hinter dicke graue Wolken, die sich vor uns erhoben, und der Himmel nahm ein seltsames Graugrün an. Mir fiel wieder ein, wie nah wir diesem ordentlichen Gewässer waren, dem Tuttle Creek Lake, und ich warf Fish einen warnenden Blick zu.
»Alles in Ordnung«, sagte er barsch mit zusammengebissenen Zähnen. Trotzdem behielt ich die Wolken im Auge. Da braute sich etwas zusammen.
Ohne auf die Sirenen zu achten, fuhr Lester auf den Wohnwagenpark. Er hatte kaum die Tür geöffnet, als wir anderen, Lill eingeschlossen, hinausstürmten, als würden wir von einer Fish-Bö getragen. Lester folgte uns auf dem Fuß und schaute nach dem drohenden Unwetter, die Bäume schwankten und neigten sich und Carlenes Liegestuhl wehte zusammen mit anderem Kram, den der aufkommende Sturm mitgerissen hatte, klappernd die Straße entlang.
Carlene stand einfach in der Tür. »Die Polizei ist unterwegs, Lester«, rief sie über den Wind hinweg, als wir durch die ersten Regentropfen auf sie zurannten.
»Wo ist Samson?«, fragte ich, als ich bei ihr war. Ich konnte kaum atmen, solche Panik hatte ich. »Wo ist mein Bruder?«
Samson musste da drin sein. Niemand erinnerte sich, dass er den Wohnwagen verlassen hätte. Bobbi und Lill gingen zur Tür, aber Carlene versperrte ihnen den Weg, die knochigen Arme ausgestreckt.
»Das ist meine Wohnung, und Sie sind nicht befugt hier einzudringen«, sagte Carlene und grinste höhnisch, der rosa Lippenstift klebte ihr an den Zähnen. Die Sirenen kamen näher. Carlene lächelte. »Da ist euch wohl einer abhandengekommen, was? Also, der Junge ist gesund und munter und sicher eingesperrt, bis die Polizeibeamten hier sind.«
»Eingesperrt?«, brauste Lill auf, und ihre kleine Stimme wurde so gewaltig wie der Gewitterhimmel über uns. »Eingesperrt? Er ist ein kleines Kind!«
»Wo ist er, Frau?«, fragte Lester ohne das leiseste Stottern. Der Himmel wurde immer dunkler und der Wind witschte in alle Richtungen, er trug das Geheul der Sirenen mal her, mal fort. Doch Carlene schaute uns nur selbstgefällig an, ihre Augen lachten uns aus.
»Den findet ihr nie«, sagte sie. »Der hat’s echt drauf, sich zu verstecken, das kann ich euch sagen.«
»Du weißt, wo er ist, stimmt’s?«, rief Lester, und das klang eher wie eine Feststellung als wie eine Frage. Carlene zuckte nur die Achseln. Lill richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, sie stand über der kleineren Frau wie ein Racheengel; ihr Blick war wild wie der Sturm, der vom See her aufkam, der Sturm, den Fish mit aller Gewalt in Schach zu halten versuchte.
Aber es war zu viel für meinen Bruder. Seine Wut und seine Sorge waren stärker als er, und er ließ los, er richtete einen Windstoß direkt auf Carlene, so dass sie an die gegenüberliegende Wand geschleudert wurde. Wir taumelten in den schwankenden Wohnwagen und sprangen an Carlene vorbei, um überall nach Samson zu suchen. Als Erstes schaute ich unter dem Tisch mit der langen Tischdecke vor der Küchentheke nach. Doch da war er nicht.
Wir strömten aus, suchten unter dem Bett und hinter den Möbeln. Wir schauten in allen Schränken nach. Wir kippten den Wäschekorb aus, suchten hinter den Gardinen und hinter dem Duschvorhang. Ich sah sogar im Backofen nach – sicher ist sicher. Die ganze Zeit wütete Fishs Wut drinnen wie draußen, die Gardinen flatterten und bauschten sich, sämtliche Papierschnipsel und Wollmäuse flogen durch die Luft, Fishs Zorn drohte das Dach des alten Wohnwagens herunterzufegen.
Ich durchsuchte gerade den Schrank im Eingang, als das erste Polizeiauto dröhnend durch den Regen kam und im Radau der unterschiedlichsten Geräusche hinter dem großen rosa Bibelbus hielt. In dem Moment kam mir eine Idee. Ich wusste, wie ich Carlene dazu bringen konnte, mir Samsons Versteck zu verraten.
Ich brauchte dazu nur meinen Stift.