21. Kapitel

 

»Einen Schimmer lasieren, das ist so, als würde man sich selbst mit einer dünnen Schicht Farbe überziehen«, hatte Momma Fish und Rocket erklärt, als sie mit ihnen an einem Wintermorgen vor den Ferien malte. Ich musste an dem Tag nicht in die Schule, weil ich krank war, und genoss es, auf dem Sofa zu liegen und meinen Brüdern zuzuschauen, wie sie aus dem Gedächtnis tosende Meereswellen malten. Als Momma das mit dem Lasieren sagte, spitzte ich die Ohren und hörte ganz genau hin.  

»Wenn ihr nicht genügend Farbe nehmt«, fuhr Momma fort, »kommt der Schimmer zu stark durch und bereitet euch und dem Rest der Welt ziemliche Probleme.« Momma lachte, als Fish und Rocket das Gesicht verzogen – mit diesen Problemen hatten sie schon viel zu gute Bekanntschaft gemacht.  

Dann redete Momma weiter. »Wenn ihr zu viel Farbe nehmt, verdeckt ihr nicht nur euren Schimmer vollkommen, auch das meiste andere im Leben wird euch dann öde und langweilig erscheinen. Das, was euch selbst ausmacht, könnt ihr nicht vollständig ablegen und dabei glücklich sein.«  

Momma nahm ihren Pinsel und tauchte ihn in eine Farbe, die viel heller war als die Farbe, die sie bereits auf der Leinwand hatte. Sie übermalte die dunkle Farbe ganz mit der hellen. Doch die helle Farbe konnte die dunkle nicht vollkommen abdecken. Stattdessen hatte die blasse Farbe einen abtönenden Effekt, durch den der dunkle Ton mit dem Rest des Bildes harmonierte.  

»Ein gut lasierter Schimmer verleiht euch Klarheit und Macht«, dozierte Momma. »Euer Wissen, eure ureigene Farbe muss durchscheinen als etwas Besonderes, das die anderen nicht genau ausmachen können.«  

Bei Momma hatte das so leicht geklungen. Aber in Wirklichkeit glich es eher einem Drahtseilakt als einem Sonntagsspaziergang. Je nachdem konnte es Jahre dauern, bis jemand seinen Schimmer so weit im Griff hatte, dass er sich wieder unter die Leute wagen konnte, und selbst wenn man erwachsen war, verlief nicht unbedingt alles reibungslos. Deshalb ging der Hausunterricht in Kansaska-Nebransas weit, weit über Lesen, Schreiben und Rechnen hinaus.  

Stärker und immer stärker fegte Fishs Wind über den Weg. So heftig hatte er vielleicht seit dem Tag nicht mehr gestürmt, an dem sein Hurrikan uns zum Umzug gezwungen hatte. Seit seinem dreizehnten Geburtstag musste Fish immer besonders hart daran arbeiten, seine eigene besondere Farbe durch all die dunklen Sturmwolken hindurchschimmern zu lassen. Wenn man so einen mächtigen Schimmer hat wie er, ist das so ähnlich, wie wenn man mit Wut im Bauch aufwacht: Man muss sich dann ganz besonders anstrengen und sich in Geduld üben, um sich zu beherrschen.  

Dort in Emerald, weit weg von zu Hause, als Fishs Sturm tobte und der große, allmächtige Ozzie in der Raststätte niedergestreckt war, wurde mir schwer ums Herz, und besonders kühn und klug kam ich mir auch nicht vor. Fish und ich waren nicht mehr in Kansaska-Nebransas, es gab keine gelbe Ziegelstraße, an die wir uns hätten halten können, nur einen großen rosa Bus und die gelben Streif-Streif-Streifen auf dem Highway.  

Ich stieß einen Schrei aus, als ein viereckiges Parkverbotsschild vom Pfeiler gerissen wurde und in dem wirbelnden Wind durch die Luft sauste.  

Das Schild flog auf Bobbi und Will zu, und ich schrie: »Achtung!«  

Da sah Fish das herabdonnernde Schild und drehte sich auf dem Absatz um. In null Komma nichts wendete er das sausende Objekt mit einem kontrollierten Windstoß ab.  

Kontrolliert. Fish hatte seinen Ausbruch im Griff – er konnte ihn sogar gezielt einsetzen. Scheppernd fiel das Schild mitten im Flug zu Boden – wie ein Drachen, der taumelnd abstürzt, wenn der Wind plötzlich aufhört. Vor Überraschung ging Fish einen Schritt zurück und sein Sturm legte sich schneller, als er aufgekommen war. Mein Bruder schaute auf seine Hände, und es war, als wäre er auf einmal erwachsen geworden, ohne es zu merken. Offenbar hatte er endlich die richtige Farbe gefunden, um seinen Schimmer zu vervollkommnen.  

»Cool«, sagte er leise. Dann drehte er sich zu einem zerdrückten Karton, der drei Meter weiter liegen geblieben war. Mit zusammengekniffenen Augen schaute er den Karton an und zog in höchster Konzentration die Augenbrauen zusammen. Kurz darauf hob sich der Karton ein Stückchen an und wurde von einem gezielten Luftstrom über die Gasse getragen. Fish lächelte, dann wandte er sich wieder zu Bobbi und Will, jetzt mit besorgter Miene – sein Zorn war vom Winde verweht.  

»Alles in Ordnung bei euch?«, fragte er und machte einen zögernden Schritt auf die beiden zu. Bobbi war ausnahmsweise einmal sprachlos, selbst ihrem kleinen Engel fiel nicht mehr viel ein. Sie nickte, sie sah benommen aus. Will junior hinter ihr grinste uns an, als hätte er den Witz endlich kapiert.  

»Spitzenmäßig«, sagte er mit einem zufriedenen Lachen.  

Lester Swan hing immer noch in der Bustür, er schaute hinauf zum aufgehenden Mond und zu dem klaren, stillen Himmel. »Immer diese Wirbelstürme«, murmelte er, ohne die wahre Ursache des durchgedrehten Wetters zu verstehen. »Kommt, Kinder. Alle rein in den Bus. Wir müssen weiter.«  

Wir stiegen wieder ein und Will setzte sich neben mich, immer noch lächelnd, sein linkes Knie stieß gegen mein rechtes. Zu meiner Überraschung und zu der aller anderen setzte sich Bobbi neben Fish.  

Will suchte die Steinchen aus seinen Pommes, dann bot er uns allen davon an. Abgesehen von Samson, der selig den Finger mitten in die entwendete Torte tauchte, die jetzt auf Lills Knien stand, hatte nur Will noch etwas zu essen; die anderen Schälchen waren zwischen der Raststätte und dem Bus auf dem Boden verstreut.  

»Ich glaube, wir sollten zusehen, dass wir von Emerald wegkommen, Lester«, sagte Lill und schaute besorgt aus dem Fenster. Lester nickte und ließ den Motor an, erschöpft von den ungewohnten Heldentaten und froh, dass ihm jemand sagte, was er tun sollte.  

»Wohin soll ich dich fahren, Lill?«, fragte er über die Schulter, als er den Bus aus der Gasse hinter der Raststätte herausfuhr.  

»Hm, ich glaub nicht, dass ich jetzt schon nach Hause will«, sagte Lill. »Ozzie weiß, wo ich wohne, und so, wie wir den zurückgelassen haben …« Schaudernd verstummte sie, dann fuhr sie fort: »Sie waren mit den Kindern auf dem Weg nach Salina, Lester. Vielleicht ist es das Beste, wenn wir einfach dahin fahren. Das heißt, wenn’s euch nichts ausmacht, mich mitzunehmen?«  

Lill schaute uns der Reihe nach an. Wir schüttelten alle den Kopf und bissen uns auf die Zunge. Keiner von uns wäre auf die Idee gekommen, nein zu sagen. Wir hatten ja selbst nicht einmal um Erlaubnis gebeten, mit dem Bus mitfahren zu dürfen.  

»Lester?«  

Eine Antwort von Lester war kaum nötig. Er war so froh darüber, Lill als Reisegefährtin zu haben, dass ihm die Tränen in den Augen standen.  

»Ich würde dich überall hinfahren, Lill Kiteley«, sagte er.  

Bei dem Gedanken, nach Salina zu fahren und endlich Poppa zu sehen, machte mein Herz einen Hüpfer. Nach dem Fernsehbericht in der Raststätte ahnte ich, was Rockets Stromschaden für Poppas Zustand bedeutete – mein Bruder musste furchtbar außer sich gewesen sein, um so ein Chaos zu verursachen. Selbst wenn ich nun doch nichts tun konnte, um Poppa zu helfen, musste ich seine Hand halten und ihn auf die Wange küssen und ihm zeigen, dass ich da war und ihn liebhatte.  

Während Lester fuhr, zuckten seine Schultern heftiger denn je, wie ein kleines Kind begann sich der dünne Mann auf seinem Sitz zu winden.  

»Was ist, Lester?«, fragte Lill, als sie sah, wie unbehaglich er sich fühlte. Lester warf einen Blick über die Schulter zu uns Kindern.  

»Also«, sagte er pflaumenweich und hasenherzig. »Ich habe morgen früh eine Lieferung in Wyoming, und mein Ch-Chef wird sich gar nicht freuen, wenn ich die verpasse. Ich hab schon alle anderen Lieferungen heute vermasselt, und wenn ich jetzt noch mehr verbocke … tja, dann verliere ich womöglich meinen Job«, sagte er schniefend. »Und meinen Bus.«  

»Ach, der arme Lester«, kicherte Carlene. »Armer, dummer Lester. Was würde der bloß ohne seinen geliebten Bus machen?«  

»Er würde am Busbahnhof Kaffee verkaufen, nichts anderes«, gackerte Rhonda.  

»Aber …«, wollten wir alle protestieren.  

»Wir müssen zum Salina Hope Hospital, Mr Swan. Unbedingt!«, bettelte ich. Aber Lester hatte sich entschieden und guckte uns nicht mal an.  

»Ich darf meinen B-Bus nicht verlieren«, sagte er nur, leise, aber entschlossen, als wären alle seine Zahnräder wieder im Lot.

Lill sah verdattert aus.  

»Es wäre wirklich schlimm, wenn du auch deinen Job verlieren würdest«, sagte sie mit einem Seufzer und schaute betrübt auf ihre grünweiße Kellnerinnenkluft. »Aber die Kinder, Lester? Was ist mit ihnen? Was ist mit Salina und ihrem Vater? Bestimmt werden sie dort von Verwandten erwartet!«  

Darauf gab niemand eine Antwort. Lester zuckte. Wir anderen machten uns Sorgen und rutschten hin und her. Lills Augen wurden schmal, als sie uns in dem schummrigen Licht anschaute. Bobbi war sehr damit beschäftigt, ihr letztes Bubble Tape abzurollen. Fish pfiff tonlos vor sich hin. Will junior starrte nur auf seine Knie und fuhr sich mit der Hand durch die Locken, und ich zupfte an einem losen Stück Zackenlitze, das vom Ärmel meines Kleides herabhing. Nur Samson gelang es, nicht sonderlich schuldbewusst auszusehen, er saß neben Lill und stopfte sich abwechselnd Hamburger und Torte in den Mund.  

Lill erstarrte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also los, was geht hier vor? Ich hab zwar ein Talent zum Zuspätkommen, aber der Groschen fällt bei mir normalerweise nicht so langsam. Allmählich hab ich das Gefühl, dass das hier doch der Bus für die bösen Kinder ist. Ich finde, jetzt sollte mir mal jemand ganz genau erklären, wo ich hier hineingeraten bin. Und zwar sofort.«