33. Kapitel

 

Als ich erst mal angefangen hatte zu weinen, auf dem Boden des schummrigen Wohnzimmers, immer noch fast hundert Kilometer vom Salina Hope Hospital und von Poppa und Momma und Rocket entfernt, da konnte ich nicht mehr aufhören. Und es war kein feines, zartes Weinen. Es war eine Riesenheulerei mit Rotz und Schnodder, Stammeln und Schluchzen. Will ging einen Schritt von seinem Daddy weg, kniete sich neben mich und nahm meine Hand. Samson lehnte sich an mich. Die Sozialarbeiterin ging ins Bad und holte eine Schachtel Papiertaschentücher, aber alle, die ich herauszog, rochen nach Mottenkugeln und Carlene, und da musste ich nur noch mehr weinen.  

»Du bist bestimmt Mississippi Beaumont«, sagte Bill behutsam.  

»Sie wird lieber Mibs genannt, Dad«, sagte Will zu meiner Rettung.  

Bill zog einen Stuhl zu mir herüber und setzte sich auf die Kante. »Stimmt das, Mibs?«, fragte er.  

Ich nickte mit einem heftigen Schluchzer und versuchte mich zu beruhigen, um nicht gleich den allerschlechtesten Eindruck zu machen. Ich sah, dass Bill zu Wills Hand auf meiner schaute, und einen Moment lang sah Officer Meeks fix und fertig aus und so jung wie nur was.  

»Du hast in den letzten Tagen viel mitgemacht«, sagte Bill sanft, und da hätte ich am liebsten noch mehr geheult. »Ich weiß, dass dein Dad in Salina im Krankenhaus liegt, und du wolltest sicher zu ihm fahren, stimmt’s?«  

Wieder ein Nicken mit großem Schluchzer.  

»Dann ist es vielleicht das Beste, wenn wir das einfach machen.«  

Alle schauten Bill Meeks an, als fragten sie sich, ob sie richtig gehört hätten. Selbst die Sozialarbeiterin sah verdattert aus.  

»Officer, Sie können doch nicht …«, setzte sie an, verstummte jedoch, als Bill sie mit festem Blick ansah.  

Bill bat die Sozialarbeiterin, uns ein wenig Zeit zum Reden zu lassen. Er wollte die ganze Geschichte von A bis Z aus unserem Mund hören. Wir erzählten alle gemeinsam, während die Sozialarbeiterin sich an der Wand auf einen Stuhl setzte. Bill hörte aufmerksam zu, ohne uns zu unterbrechen, hin und wieder fuhr er sich mit der Hand durch das kurzgeschorene Haar.  

Als wir zu Ende erzählt hatten, saß Bill eine Weile da und sagte gar nichts.  

»Geht es unserem Poppa gut?« Eine kleine Stimme fiel wie ein Kieselsteinchen in die Stille und kräuselte die Spannung, die in der Luft lag, wie tiefes Wasser. Da die ganze Zeit Samsons wilder Gedankenmix durch mein Gehirn strömte, begriff ich nicht gleich, dass er laut gesprochen hatte. Ich versuchte zu schlucken, doch meine Kehle war zu rau und zu eng, während ich auf Bills Antwort wartete.  

Officer Meeks schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Neuigkeiten über euren Dad, aber ich werde sehen, ob ich etwas in Erfahrung bringen kann. Ich muss mit ein paar Leuten hier sprechen und entscheiden, wie es weitergehen soll. Ihr wartet hier. In ein paar Minuten bin ich wieder da.« Er ging hinaus, um sich mit den anderen Polizisten zu beraten. Als er ging, fragte ich mich unweigerlich, ob seine Haare, wenn sie länger wären, wohl auch so lockig wären wie die seines Sohnes, und die letzten Tränen rannen mir vom Kinn; jetzt hatte ich rote Augen und Kopfschmerzen. Ich sah, wie Bill mit Lester sprach, dann mit Lill, dann mit Carlene. Ich hörte das langsame Ticktack einer Uhr irgendwo in der Küche, als wäre die Batterie bald leer oder als hielte auch die Uhr den Atem an, gespannt darauf, wie es weiterging.  

Nachdem Bill mit Carlene und dann noch mit einigen weiteren Polizisten gesprochen hatte, telefonierte er endlos lange mit seinem Mobiltelefon, und als er wieder in den Wohnwagen kam, hatte er etwas Hartnäckiges, Halsstarriges an sich. Er setzte sich nicht wieder hin, sondern blieb in voller Größe vor uns stehen; er sah aufrecht und standfest aus mit der feschen Uniform, dem Dienstabzeichen, der Pistole und der Polizistenmiene. Er sprach erst zu mir, dann zu Fish und Samson, die Worte klangen routiniert und formell, doch der Ton war weich und freundlich.  

»Es tut mir sehr leid, euch sagen zu müssen, dass sich der Zustand eures Vaters nicht gebessert hat. Er ist – also, er braucht jetzt seine Familie um sich. Es ist wichtig, dass wir bald nach Salina kommen.«  

Fish rutschte vom Sofa und setzte sich neben Samson auf den Boden. »Wir müssen jetzt stark sein für Poppa«, sagte er, legte einen Arm um unseren kleinen Bruder und drückte dabei kurz meine Schulter. Weil Fish so erschöpft war, wehte nur eine ganz leichte Brise durchs Zimmer, und da die Wohnwagentür noch immer aufgebrochen war, wunderte sich niemand über das bisschen Wind. Samson nickte nur stumm, doch seine überlappende Stimme in meinem Kopf wurde unruhiger und weniger melodisch, wie eine Schar aufgeregter Gänse. Ich konnte immer noch keine einzelnen Gedanken heraushören – obwohl mein kleiner Bruder so laut dachte, blieb sein Innerstes ein Geheimnis, selbst für meinen Schimmer.  

Bill Meeks machte eine Pause, ehe er fortfuhr. Dann wandte er sich an uns alle fünf. »Ihr Kinder habt in den letzten vierundzwanzig Stunden ganz schön viel Ärger gemacht. Viele Leute haben eine Menge Zeit und Energie darangesetzt, euch zu finden, und ihr habt euren Familien einen Riesenschreck eingejagt.« Er sah uns lange streng an, bis wir uns alle am liebsten unter dem Wohnwagen verkrochen und nicht wieder hervorgekommen wären. Dann atmete er tief durch die Nase ein und lächelte mitfühlend, zwinkerte Will verschwörerisch zu, bevor er leiser weitersprach, mit einem Seitenblick zu der Sozialarbeiterin an der Wand.  

»Ich weiß, wie schnell man falsche Entscheidungen treffen und in Schwierigkeiten geraten kann, aber es muss nicht immer schlecht ausgehen. Es wird natürlich Konsequenzen geben, aber es wurde ja keiner verletzt, ihr wolltet niemandem schaden. Soweit ich weiß, wird keiner die Leute hier anzeigen. Mr Swan und Miss Kiteley haben vielleicht einige unkluge Entscheidungen getroffen, doch sie haben gut auf euch aufgepasst und dafür gesorgt, dass euch nichts zugestoßen ist.«  

»Dann müssen Lester und Lill nicht ins Gefängnis?«, sagte ich und schaute Wills Vater an.  

»Nein, Mibs, sie müssen nicht ins Gefängnis.« Bills Lächeln wurde breiter. »Ich brauche jetzt sogar ihre Hilfe.«  

»Echt?«, sagte Bobbi.  

»Nun ja, irgendwer muss euch ja nach Salina fahren, oder? Im Streifenwagen wäre es doch ein bisschen eng, und ich glaube, Lill und Lester würden gern sehen, dass ihr dort ankommt.«

Vor lauter Erleichterung hätte ich fast wieder losgeheult. Lester und Lill würde nichts passieren, und ich war bald bei meiner Familie. Ich hätte Bill Meeks gern aus tiefstem Mus-und-Muskel-Herzen gedankt, aber mir fehlten die Worte. Zum ersten Mal wünschte ich mir, mein Schimmer würde auch umgekehrt funktionieren. Dann hätte ich mir ein Smiley auf die Haut gemalt und schon hätten alle gewusst, wie es mir ging, ohne dass ich ein Wort sagen müsste. Aber wie Bill mich anschaute, kam es mir vor, als wüsste er es auch so.  

Die Sozialarbeiterin, die von Bills Plan immer noch nicht ganz überzeugt war, bestand darauf, uns in dem großen rosa Bibelbus zu begleiten, und verlangte, dass ein bewaffneter Polizist mitreisen müsse. Lester wollte uns Kinder sehr gern wieder mitnehmen, aber die Vorstellung, zusätzliche offizielle Mitreisende zu haben, machte ihn nervös.  

»Das ist gar kein Problem, Lester«, sagte Lill beruhigend. »Ich bleibe vorn bei dir. Wir können deine nächste Lieferung besprechen, wenn du möchtest. Vielleicht können wir sogar besprechen, wie du deine eigene Bibel-Spedition gründen kannst.«  

»Meine eigene Sp-Spedition, Lill?«, sagte Lester verblüfft, und jetzt vergaß er ganz, dass ein Polizist in seinen Bus einstieg.

»Na klar, Lester«, sagte sie. »Du hast das Zeug dazu.«  

»Warum hast du so lange gebraucht, bis du in mein Leben getreten bist, Lill?«, sagte Lester seufzend, schüttelte den Kopf und starrte auf seine Füße. »Hätte ich d-dich doch bloß schon vor Jahren kennengelernt.«  

»Ich komme immer zu spät, Lester«, sagte Lill und lachte. »Dieses Talent verfolgt mich.«  

Ich schaute zu, wie Lill Lester die Sorgen nahm, und dachte daran, wie gut und freundlich sie war und in was für Schwierigkeiten ich sie gebracht hatte. Lill machte uns gar keine Vorhaltungen, weil wir sie im Motel hintergangen hatten, aber sie wollte wissen, wie wir es angestellt hatten.  

»Ihr seid schlauer, als die Polizei erlaubt«, sagte sie, nachdem wir uns entschuldigt und erklärt hatten, wie wir das Gespräch mit Miss Rosemary vorgetäuscht hatten. Lill nahm uns alle der Reihe nach in die Arme. »Die Welt muss sich vor euch hüten. Ihr werdet noch so einiges anstellen.«  

Bill wollte mit seinem Streifenwagen als Eskorte bis nach Salina vorausfahren und fragte Will, ob er bei ihm mitfahren wolle. Hin- und hergerissen schaute der arme Will zu dem Streifenwagen; ich konnte mir gut vorstellen, dass er für sein Leben gern vorn bei seinem Vater gesessen hätte, als wäre er selbst ein Polizist. Aber dann schaute er zu mir.  

»Nächstes Mal?«, sagte er zu seinem Vater und lächelte verlegen.  

»Fahr nur mit deinen Freunden.« Bill lachte, zauste Will junior das Haar, dann zog er ihn noch mal an sich, drückte ihn und klopfte ihm auf den Rücken.  

»Du hast deinen Poppa bestimmt auch vermisst«, sagte ich zu Will, als wir im Bus saßen.  

Er zuckte die Achseln, dann drückte er meine Hand. »Es läuft nicht immer alles so, wie man sich das vorstellt, Mibs«, sagte er. Darüber dachte ich nach und dann dachte ich an meinen eigenen Poppa im Krankenhaus. Ich dachte daran, dass mein Schimmer nicht so funktionierte wie erhofft und dass unsere Reise nach Salina eine Reise mit Hindernissen war. Da fiel mir ein, was Lill letzte Nacht im Motel vorm Einschlafen gesagt hatte …  

»Wenn etwas Schlechtes passiert, kann man nie wissen, ob es nicht doch sein Gutes hat.« Ich begriff, dass Gutes und Schlechtes immer da waren, miteinander verwoben. Allerdings wusste ich nicht recht, ob mir das im Moment irgendwie weiterhalf.