9. Kapitel

 

Als wir merkten, dass wir immer weiter nach Nebraska hineinfuhren, rappelten Fish und ich uns auf die Knie und spähten aus dem Fenster. Fish sah mich mit seinen Glotzaugen streng an. Und jetzt?, sagte sein Blick und ein bisschen auch Was für eine dämliche Idee.  

Bobbi, der es offenbar egal war, wohin wir fuhren, streckte sich auf dem Feldbett aus wie Kleopatra, sie stützte sich auf einen Ellbogen und drückte sich mit ihrem Gewicht auf Samson, der immer noch still zusammengerollt unter dem Feldbett lag. Bobbi holte eine große Rolle Bubble Tape aus der Hosentasche, riss einen ordentlichen Streifen ab und stopfte ihn in den Mund. Dann nahm sie eins von den neueren National Geographic-Heften vom Stapel und blätterte es beiläufig durch. Auf der Titelseite des Hefts war ein menschliches Herz abgebildet, es sah aus wie eine große, mit blassen Wurzeln durchzogene Wassermelone; ich fand, das Herz auf dem Bild sah zart und verletzlich aus, so gar nicht der kräftige Muskel, wie wir es in der Schule gelernt hatten. Ich sah Bobbi an und begriff, dass sie vielleicht genauso war – hart und weich zugleich. Sie räkelte sich auf dem Feldbett, als wäre sie bei sich zu Hause auf dem Sofa. Hätte der Engel mir nicht geflüstert, dass Bobbi genauso nervös war wie wir anderen, hätte ich gedacht, sie wäre völlig unbekümmert, ein kräftiger Muskel von sechzehn Jahren.  

Fish hockte sich auf das Feldbett, die Ellbogen auf den Knien, so weit wie möglich von Bobbi entfernt, also ganz am Ende zu ihren Füßen. Während Fish wacklig auf der Pritsche aus Segeltuch und Metall saß, spürte ich, wie er mich mit seinem Großer-Bruder-Blick durchbohrte. Ich wusste, dass er sauer war. Und besorgt. Ich wusste, dass auch er die Worte von Momma und Poppa im Kopf hatte und dass er sich verantwortlich fühlte. Und vor allem wusste ich, dass er an seinen Hurrikan dachte und an den Schaden, der entstanden war, nur weil er am falschen Ort dreizehn geworden war.  

Ich setzte mich auf den Boden und war immer noch überzeugt, dass der Bus jeden Moment wenden und zurück nach Salina fahren würde. Ich nahm die Knie fest an die Brust und zog den weichen gelben Rock bis zu den Knöcheln hinunter, die große lila Blume kitzelte mich an der Wange, als wollte sie mich zum Lächeln bringen. Will junior setzte sich neben mich auf den Boden, obwohl seine Hose davon schmutzig wurde. Er hatte das geschenkverpackte Schreibset im Schoß und er saß so, dass seine Hand meine gerade eben nicht berührte.  

Während der Bus immer weiterrumpelte, weg von Kansas und Poppa in seinem Krankenhausbett und Momma und Rocket in ihrem Motel mit den weißen Seifen und Handtüchern, hatte ich das geheime Geplapper von Bobbis Engel im Kopf. Ich versuchte es zu ignorieren, so zu tun, als ob ich es nicht hörte.

Ich erinnerte mich an einen Verrückten, den ich mal gesehen hatte, als wir im Süden des Landes lebten, einen Mann, der auf dem Gehweg in der Innenstadt durch die Menge ging und Selbstgespräche führte; er redete und schlug sich seitlich an den Kopf, als wollte er etwas zur anderen Seite hinausschlagen. Als ob er eine Fliege im Ohr hätte – oder als ob er Stimmen hörte. Ich fragte mich, ob ich so enden würde. Es ist nur der Stress, sagte ich mir, Stress wegen der Sorge um Poppa und weil ich meinen Schimmer ausfindig machen und ans Laufen kriegen musste. Wenn man gestresst war, konnte das Gehirn schon mal Kapriolen schlagen.  

Ich versuchte das summende Säuseln des Engels ebenso zu überhören wie das Getuschel von Ashley und Emma und all den anderen in der Schule, gestern und alle Tage davor, jeden Tag, seit wir nach Kansaska-Nebransas gezogen waren. Aber als ich die Stimme in den Hinterkopf schob, so wie ich Krümel unter den Ofen fegte, wenn Momma nicht hinsah, merkte ich, dass unter der Stimme des Engels, unter dem Dröhnen des Busses und dem Rascheln der Kisten die zankenden Frauen aus Pastor Meeks’ Büro wiederauftauchten. Carlene und Rhonda waren wieder da – und sie stritten immer noch.  

»Der Mann kann noch nicht mal das bisschen Grips benutzen, das Gott ihm gab. Kriegt noch nicht mal eine vernünftige Lieferung hin. Kann es so schwer sein, eine Kiste Bibeln zuzustellen?«, sagte Carlene mit ihrer tiefen, rauen Stimme.  

»Kaffee verkaufen ist einfacher. Das hätte er machen sollen«, blaffte die ältere Stimme, die von Rhonda, zurück. »Du hast nie richtig verstanden, was mein Junge braucht. Es ist mir ein Rätsel, was er je an dir gefunden hat.«  

Es klang so, als ob die Stimmen über eine Sprechanlage, die direkt mit meinem Gehirn verbunden war, aus dem vorderen Teil des Busses zu mir drängten. Ich wusste, dass außer uns nur der Bote in den Bus gestiegen war, und ich war mir ziemlich sicher, dass niemand hören konnte, was ich hörte.  

Ich ließ die Stirn auf die Knie sinken, schaukelte den Kopf hin und her und versuchte mich auf das zartgelbe Gewebe meines Festtagskleids zu konzentrieren, versuchte nicht auf die zänkischen Zicken zu hören, die nicht aufhörten, einander die Schuld an der misslichen Lage des Boten zuzuschieben.  

Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verging, während der Bus über den Highway donnerte. Es kam mir vor wie Stunden. Durch die Fenster über mir sah ich den Himmel vorbeiziehen, sah eine endlose Parade von Telegrafenmasten ticktackticktack vorbeifliegen. Silos und Wassertürme markierten die Entfernungen zwischen den Orten am Highway, aber jedes Mal, wenn ich mich aufrichtete, um hinauszuschauen, sah ich nur die scheinbar endlose, schlafende Landschaft – ein Feld nach dem anderen mit den toten braunen Maisstängeln des letzten Sommers und Reihen lebloser Gerippe von Bewässerungsanlagen, alle darauf wartend, dass die Erde zum Frühling erwachte und um einen Schluck Wasser bat.  

Als die Sonne sich am späten Nachmittag neigte, lange und leuchtend zum Fenster hereinschien, und die Bibelkisten große rechteckige Schatten warfen, schlief mir allmählich der Hintern ein und ich bekam einen Krampf im Bein.  

Ungefähr zur selben Zeit fing Bobbi an sich zu langweilen. Mit einem fiesen Grinsen hob sie einen Fuß und stieß Fish mit einem Tritt vom Fußende des Feldbetts. Seine Wut flammte auf, sein Gesicht verzerrte sich; er war so angespannt und gereizt, dass er seinen Schimmer nicht im Griff hatte und explodierte.  

Zeitschriften flatterten in einem wüsten Durcheinander auf, ein Schwarm gelbgefiederter Vögel, gefangen im Aufwind von Fishs Wut. Die Pappdeckel der Kisten klappten und flappten, und die Fenster beschlugen und wackelten von der Wucht der Bö. Bobbi hielt sich beide Arme über den Kopf, als die Hefte über sie sausten und auf sie zu fallen drohten, während sich tropische Hitze im Bus ausbreitete. Ich stellte mir vor, Bobbi würde vom Papier der flatternden Zeitschriften zerschnitten, sprang auf zu Fish, der Bobbi mit glühendem Blick anstarrte. Ich packte meinen Bruder bei den Schultern und rüttelte ihn kräftig. Einen wilden wütenden Moment lang dachte ich, ich müsste ihn schlagen oder ihm die Ohren langziehen – irgendwas, damit er aufhörte zu stürmen.  

»Fish!« Zischend rief ich seinen Namen und rüttelte ihn wieder, verzweifelt. Plötzlich war Samson bei mir. Seelenruhig, ohne ein Lächeln, ohne die Stirn zu runzeln oder auch nur zu blinzeln, legte Samson eine blasse Hand auf Fishs Arm. Ohne zu drücken, zu kneifen, zu hauen, zu knuffen. Er legte einfach nur seine staubigen Finger auf Fishs Handgelenk und der Wirbelwind hörte auf.  

Fish löste den feurigen Blick von Bobbi und schaute auf Samson hinab, schüttelte mehrmals den Kopf, als wollte er den letzten Wutwind herausschütteln.  

»Tut mir leid«, sagte er, er sah ärgerlich und verwirrt aus und sein Gesicht war rot, als er sich bei Samson oder Bobbi oder sich selbst entschuldigte. Will junior war bei Fishs Ausbruch aufgestanden, hatte dabei das Schreibset fallen gelassen und es beim Versuch, die Zeitschriften abzuwehren, versehentlich unter das Feldbett gekickt. Jetzt schauten er und seine Schwester meine Brüder und mich an, als wären wir kleine grüne Männchen, die gerade bei ihnen im Garten gelandet waren. Alles war ganz still geworden … und zwar wirklich alles. Es dauerte einen Moment, bis ich merkte, wie ruhig alles geworden war … und wie still.   

Der Bus war stehen geblieben. Der Motor war aus. Das Ruckeln und Röhren war verstummt. Der Bote stand im Gang, die Fäuste in die Seiten gestemmt, und starrte uns an. Der Dackelblick war einem etwas verärgerten Ausdruck gewichen – einem ziemlich wütenden Ausdruck.  

»Sie weiß, dass sie in der Klemme sitzt«, sagte Bobbis Engel in meinen Ohren.  

Da ist sie nicht die Einzige, dachte ich.