35. Kapitel

 

Im Aufzug in den dritten Stock, wo sich die Intensivstation des Salina Hope Hospital befand, drückte Momma uns alle noch mal und gab uns einen Kuss auf den Kopf.  

»Wir haben uns solche Sorgen gemacht.« Mehr brachte sie nicht heraus, ohne dass ihre Stimme kippte. Während Rocket sich um Gypsy und Opa Bomba kümmerte, hakte Momma Fish unter, fasste meine Hand und nahm Samson unter die Fittiche, als könnte sie, wenn sie uns nur nah genug bei sich hatte, verhindern, dass wir wieder verschwanden.  

Rocket starrte mich an, als suchte er nach neuen Tupfen oder Streifen auf meiner Haut, von Kopf bis Fuß und wieder zurück. »Wie hat dein Geburtstag dich behandelt, Mibs?«, fragte er schließlich, genau in dem Moment, als die Tür des Aufzugs im dritten Stock aufging. Einen Augenblick standen wir alle nur da. Wir wussten, dass Rocket weder meine Torte noch meine Feier und auch nicht meine Flucht durch das Landesinnere meinte.  

Momma sah mich beunruhigt an, als hätte sie über all den anderen Sorgen meinen Schimmer fast vergessen. Die Tür des Aufzugs wollte sich schon wieder schließen, obwohl wir alle noch drin waren, aber ich hielt eine Hand dazwischen.  

»Er hat mich gut behandelt, Rocket«, sagte ich, als wäre alles ganz glatt verlaufen. »Ich glaube, ich und die Welt, wir werden meinen Schimmer ganz gut überleben, das heißt, wenn ich mich ein bisschen daran gewöhnt hab.«  

Mit einem Blick zu der Schwesternstation gegenüber sagte Momma: »Ich möchte alles wissen. Ich möchte alles über deinen Schimmer erfahren, Mibs«, sagte sie ruhig. »Und alles, was passiert ist, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ihr müsst mir die ganze Geschichte von Anfang bis Ende erzählen – ihr alle.«  

»Erst Poppa?«, flüsterte Samson und zog wieder an Mommas Ärmel.  

Momma lächelte das traurigste Lächeln, das ich je gesehen hatte. Ihr Lächeln war vollkommen herzzerreißend. Weil sie nichts sagen konnte, nickte sie nur, und ihre unglaublich blauen Augen füllten sich mit Tränen. Wir folgten Momma zur Schwesternstation. Die Krankenschwestern blickten alle von ihrem Kaffee und ihren Tabellen auf und lächelten Momma und Opa und uns Kinder an, als wollten sie sagen: Es tut uns so, so, so leid – es tut uns so leid, dass euer Poppa so schwer verletzt ist.  

»Sind das Ihre anderen Kinder, Mrs Beaumont?«, fragte eine Schwester, die einen knallblauen Kittel mit kleinen Regenbogen trug.  

»Ja«, sagte Momma. Sie nickte kurz zu Fish und Samson und mir. »Das sind meine drei Ausreißer – meine kleinen Abenteurer.«  

»Wir wollten doch nur hierherkommen, Momma«, sagte ich traurig. »Ich musste Poppa einfach sehen. Unbedingt.«  

Momma nickte. »Ich weiß, Mibs.« Dann wandte sie sich wieder zu der Schwester und fragte: »Können meine Kinder jetzt ihren Poppa sehen? Wenn sie ihn nicht bald zu sehen kriegen, kann ich nämlich für nichts garantieren.«  

»Ja, Mrs Beaumont«, sagte die Schwester mit einem gütigen Nicken. »Sie können sie mit hineinnehmen.«  

Momma führte uns über den Flur zu einer halboffenen Tür, vorbei an einem Elektriker auf einer Leiter, der vor sich hin fluchte, während er eine lange Neonleuchte an der Decke auswechselte. Mit der Hand am Türgriff blieb Momma stehen und schaute uns allen in die Augen, als wollte sie uns an Land ziehen, uns mit ihrem Blick einfangen.  

»Momma?«, sagte Fish und ein leichter Windhauch wehte ihm die Haare aus den Augen. »Poppa ist noch nicht aufgewacht?«  

»Noch nicht, Fish«, sagte Momma. »Noch nicht.« Dann wechselte sie einen bekümmerten wissenden Blick mit Opa, atmete tief durch und sprach langsam weiter, jedes Wort sorgsam wägend: »Die Ärzte sagen – also, sie sagen, dass das vielleicht auch nicht passieren wird.« Dann fügte sie schnell hinzu: »Aber wir werden weiterhin hoffen und beten, denn das ist das Einzige, was wir tun können.«  

Ich hatte das Gefühl, als würde sich die Erde gleich auftun und mich verschlucken, und ich fragte mich, ob Opa die Erde beben ließ oder ob es nur meine Beine waren, die so wackelten.  

Momma schaute schnell zu Fish, aus Erfahrung machte sie sich auf einen Sturm gefasst. Doch abgesehen von einem Regenguss, der ein Stück hinter der Schwesternstation an die Fenster prasselte, riss Fish sich zusammen. Vielleicht hatte der betäubende Schock von Mommas Worten Fishs Schimmer gedämpft oder auch Samsons Hand in seiner – vielleicht lag es auch an Fishs brandneuer Lasierkraft; jedenfalls war nicht der leiseste Windhauch zu spüren, als wir vor Poppas Zimmer standen.  

Dann schaute Momma Rocket an.  

»Alles okay«, versicherte er ihr. »Diesmal kann ich mit rein. Bitte, Momma, ja? Wenn ich draußen bleiben muss, wird es bestimmt schlimmer.«  

Momma schaute zweifelnd von dem Mann auf der Leiter zu ein paar Glasscherben, die beim letzten Fegen des harten Fliesenbodens vergessen worden waren. Doch dann gab sie Rockets flehendem Blick nach; ich wusste, dass sie jetzt endlich die ganze Familie vereint haben wollte.  

Schließlich schaute sie zu mir. »Gibt es irgendetwas, das ich wissen muss, Mibs, bevor wir reingehen?«  

Ich schüttelte den Kopf. »Nichts«, flüsterte ich. »Es gibt nichts.« Wie sehr hatte ich auf diesen Moment gehofft, hatte gehofft, dass ich die Kraft finden könnte, Poppa aufzuwecken, damit er mit uns nach Kansaska-Nebransas kommen konnte. Doch auf meinen Schimmer hatte ich ebenso wenig Einfluss wie auf meine Augenfarbe oder die Größe meiner Füße. Genau wie alle anderen konnte ich jetzt nichts, rein gar nichts für Poppa tun.  

Mit einem letzten Blick zu ihrer außergewöhnlichen Familie machte Momma die Tür zu Poppas Zimmer ganz auf, und wir gingen leise einer nach dem anderen hinein und sahen Poppa, der da lag und überhaupt nicht so aussah wie Dornröschen.