26. Kapitel

 

Als wir wieder nach oben kamen, lag Samson zusammengerollt unter dem Tisch im Jungenzimmer, er schlief wie ein Murmeltier und drückte die Slinky-Spirale aus dem Super-Supermarkt so ans Gesicht, dass er morgen früh bestimmt einen komischen Abdruck haben würde. Er hatte eine von den geblümten Tagesdecken abgezogen und sie wie ein Zelt über den Tisch gelegt. Die Betten hatte er Will und Fish überlassen, aber er hatte alle Kopfkissen in Beschlag genommen. Im Mädchenzimmer nahm Bobbi ein Bett ganz für sich allein und ich teilte mir das andere mit Lill, ihren großen Engelsfüßen und ihrem Holzfällerschnarchen.  

Bevor Lill einschlief, seufzte sie. »Wenn etwas Schlechtes passiert, kann man nie wissen, ob es nicht doch sein Gutes hat«, sagte sie leise, und ich war mir erst gar nicht sicher, ob sie zu sich selbst sprach oder zu mir.  

In der Nacht fand ich nicht leicht in den Schlaf. Die Matratze war hart und das Bettlaken war rau an meiner Wange. Lills Worte verfolgten mich, und meine Gedanken rasten wie ein Hamster im Rad. Ich dachte an die Jungs im Zimmer gegenüber und an Will, wie er mich im Pool geküsst hatte. Ich dachte an Lester auf seinem Feldbett im Bus und an Lill, die neben mir von ihm träumte. Ich dachte an Bobbi, die sich auf einmal wie etwas anfühlte, das einer Freundin schrecklich nahekam. Und dann dachte ich an den Obdachlosen hinter der Raststätte und an Poppa in seinem Bett im Salina Hope Hospital – und ich fragte mich, ob einer von den beiden jemals irgendetwas Gutes an dem Schlechten finden würde, das ihnen zugestoßen war.  

Bis zu Poppas Unfall war das Schlimmste in meinem Leben der Tod von Oma Dollop gewesen. Ich erinnerte mich daran, wie ich auf Omas Beerdigung neben Poppa gestanden hatte, ich war zehn Jahre alt. Er hielt die ganze Zeit meine Hand. Dort auf dem Friedhof wurde Oma zur Ruhe gebettet, umgeben von Blumen und ihrer Familie. Viele, viele Einmachgläser mit Oma Dollops liebsten Radioaufnahmen waren auf und um und sogar in den Sarg gepackt worden, als wäre sie ein ägyptischer Pharao, der all seine Schätze mit sich nimmt.  

Tante Dinah und Onkel Autry waren mit ihren Familien da, außerdem einige der verbliebenen Großonkel und Großtanten und Cousins und Cousinen zweiten Grades, die die Reise nach Süden bewältigen konnten. Selbst Omas Langfingerschwester Jubilee war da, allerdings hatte Momma ihren Schmuck gut versteckt und hielt ein wachsames Auge auf das Tafelsilber, als Jubilee ins Haus kam, um bei Oma Totenwache zu halten.  

Omas Beerdigung war ohnegleichen. Momma und Tante Dinah saßen wie starke Buchstützen rechts und links von Opa Bomba, sie hatten ihn fest untergehakt und stützten ihn, während der Prediger die Worte und Gebete sprach.  

Doch als der Prediger zum letzten Amen kam, entfesselten Schmerz und Trauer die Schimmer von Jung und Alt. Ein Blitz schlug in einen Baum ganz in der Nähe ein. Libellen und Hummeln umschwärmten den Sarg, wie lebendige Feuerwerkskörper surrten und sausten sie umher. Das Gras unter unseren Füßen wurde hoch und dicht, Blumenknospen sprangen auf und erfüllten die Luft mit einem betörenden Duft. Unterirdische Rasensprenger schossen Fontänen gleich hoch und umgaben uns mit einem großartigen Schauspiel scheinbar choreografierter Wasserspiele im Walzertanz, ohne dass ein einziger Tropfen auf die Trauergäste fiel.  

Und schließlich, als die Tränen über Opa Bombas Wangen liefen, fing die Erde an zu grollen. Grabsteine schwankten und die Klappstühle kippelten und klapperten hin und her, während alle noch darauf saßen und sich festhielten. Die Erde bebte heftig, Omas Einmachgläser wackelten und zerbrachen und ein Klangkrawall erfüllte die Luft. Orgelmusik und Gospelgesänge, Country-Western-Balladen und Hum-ta-ta-Polkamusik flogen wie Konfetti in die Luft. Berühmte Stimmen landeten auf der Brise mit Worten, die süß waren und scharf, mit starken, bewegenden Reden. Da waren Worte wie Traum und Worte wie Freiheit, die mit den Stimmen von Frauen, Männern und Kindern in der Luft hängenblieben.  

Und Poppa hatte die Arme um mich geschlungen, und wir schlossen die Augen und lauschten gemeinsam dem Klangspektakel, der Prozession von Melodien, den verklingenden Radiowellen von Oma Dollops Schimmer.  

Diese Erinnerungen und noch mehr strömten in meinen Kopf, als ich mich in dem Motelbett bei Lincoln hin und her wälzte. Das war alles nur für Poppa, sagte ich mir – dass ich weggelaufen war, das ganze Durcheinander und der ganze Ärger. Es war alles für Poppa.  

Aber irgendetwas an diesem Gedanken nagte an mir – etwas ließ meinen Verstand stillstehen, irgendein kniffliger Knoten in den tiefsten Tiefen meiner Magengrube.  

Ich war doch wirklich für Poppa weggelaufen … oder?  

Ich war aus der Kirche in Hebron geflüchtet in der Überzeugung, ich könnte meinen Poppa aufwecken und alles wiedergutmachen. Doch wie ich da in dem allzu dunklen Zimmer des Lincoln Sleepy 10 lag, mit einem T-Shirt aus dem Super-Supermarkt, an dem noch das piksige Preisschild hing, kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht nicht nur wegen Poppa weggelaufen war. Weglaufen tut man ja immer vor irgendwas. Als ich aus der Kirche in Hebron gegangen war, da wollte ich zu Poppa, aber vielleicht – vielleicht – gab es ja auch etwas, wovor ich weglief. Vor meinem unerwarteten, unerwünschten Schimmer. Vor der Tatsache, dass ich älter wurde und dass das Leben sich so schnell änderte, so gewiss und so elektrisierend und erschreckend wie Rockets Funken, Fishs Hurrikan oder ein allererster Kuss. Diese Gedanken hielten mich hellwach bis tief in die Nacht.  

Am nächsten Morgen kamen die Jungs um kurz nach neun in unser Zimmer geschlichen, sie balancierten Styroportabletts mit dicken, knusprigen Waffeln und Plastiktassen mit Orangensaft aus der Frühstücksbar unten. Will junior trug ein langes schwarzes Super-Supermarkt-T-Shirt und seine Haare waren zottig und zauselig. Seit wir aus Hebron abgehauen waren, hatte Will den todernsten Ausdruck, den ich an ihm kannte, fast vollständig verloren.  

»Es wird spät«, sagte Lill, zog die Vorhänge auf und raubte mir mit der grellen Morgensonne fast das Augenlicht. »Ich hab euch zu lange schlafen lassen.«  

»Wach auf, Dornröschen«, sagte Will und schob mir einen Teller mit sirupsüßen Waffeln hin.  

»Ihr wart unten?«, flüsterte ich so leise, dass Lill nichts mitbekam. »Hat euch jemand gesehen?«  

Will beugte sich dicht zu meinem Ohr. »Keiner hat uns gesehen, Mibs«, flüsterte er, dann setzte er sich auf die Kante des anderen Betts neben Fish, der schon angefangen hatte sein Frühstück zu verdrücken.  

Bobbi war im Bad, sie brauchte eine Ewigkeit, um sich zurechtzumachen, und Lill strubbelte und striegelte Samson, sie versuchte seine dunkle Mähne zu kämmen, bevor er sich in den leeren Wandschrank verkrümeln konnte. Fish mir gegenüber rülpste, dass es die wahre Wonne war, und Will junior tat es ihm nach, so lang und so laut, als wollte er einen neuen Weltrekord aufstellen.  

Ich schaute sie naserümpfend an und schnitt in meine Waffeln. »Ich dachte, du wolltest einmal so werden wie dein Vater, Will junior«, schalt ich ihn und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich von seinem Kuss im Pool immer noch verwirrt war. Doch er lächelte nur und zwinkerte mir zu.  

»Werd ich auch.«  

Fish schnaubte und stieß Will mit dem Ellbogen in die Rippen, wobei ihm Sirup von der Gabel auf den Boden tröpfelte. »Erzähl mir nicht, dass Pastor Meeks so rülpsen kann«, sagte er mit dem Mund voller Waffeln.  

»Nö, Pastor Meeks kann das nicht«, sagte Will mit einem weiteren schamlosen Grinsen.  

In diesem Moment beschloss Lill den Fernseher einzuschalten, weil sie den Wetterbericht sehen wollte. Wir drehten uns alle gleichzeitig zu ihr um und schrien »NICHT«, so dass der armen Frau fast Flügel gewachsen und sie über die Wolken entschwunden wäre. Fish stand so schnell auf, dass er seinen Teller mit den Waffeln zu Boden warf. Er stieß gegen Will, und der warf mit dem Ellbogen die Plastiktasse mit Orangensaft auf dem Nachttisch neben sich um, so dass der Saft in die Schublade mit der Bibel, dem Telefonbuch und den Handzetteln vom Pizzaservice tröpfelte. Bobbi schloss die Badezimmertür auf und kam gerade rechtzeitig heraus, so dass wir lossprinten konnten, um Handtücher und Wasser zu holen.  

Als alles wieder einigermaßen sauber war, klopfte Lester an die Tür. Er hatte den grünblau gestreiften Schlips umgebunden, den Lill ihm gekauft hatte, dazu ein sauberes Hemd und eine frische Latzhose.  

»Wir müssen los«, sagte er mit einem breiten Lächeln, das nur Lill galt. Lill richtete den Knoten an seinem Schlips, erwiderte sein Lächeln und ließ eine Hand leicht auf seiner Brust ruhen.  

»Du siehst richtig gut aus, Lester«, sagte sie strahlend.  

Da alle anderen schon fertig waren, zog ich mich im Bad so schnell wie möglich an. Ich putzte mir die Zähne und kämmte mir die Haare. Ich trug ein wenig glänzenden Lipgloss auf, den Bobbi auf der Ablage liegengelassen hatte, dann überlegte ich es mir anders und tupfte ihn mit einem Papiertaschentuch wieder ab. Bevor ich das Bad verließ, steckte ich stillvergnügt eine in Papier gewickelte Seife in die Rocktasche, in der immer noch Wills Geburtstagsstift steckte. Dann ging ich zu den anderen und zusammen flappten wir mit unseren neuen Flipflops über den Flur, wie eine Schar plattfüßiger Gänse folgten wir Lill und Lester die Treppe hinunter zu dem Heartland-Bibelbus und achteten darauf, dass uns niemand sah, der uns nicht sehen sollte.  

Vor mir hakte Lill sich mit ihrer großen Hand bei Lester unter und ich versuchte nicht auf Carlene und Rhonda zu hören, die sich über seine neue Flamme ausließen; irgendwie kamen mir ihre Stimmen heute nicht so laut und gemein vor wie sonst.  

»Ich hätte nicht gedacht, dass mein Junge je eine annehmbare Frau finden würde«, sagte Rhonda. »Bestimmt vermasselt er wieder alles.«  

»›Annehmbare Frau‹? Und was war ich – saure Kutteln?«, keifte Carlene. »Ich kann nichts dafür, dass Lester sein Glück mit Füßen getreten hat.«  

»Lester mochte immer gern Kutteln«, schoss Rhonda zurück. »Du, Carlene, bist nur ein magerer alter Hühnermagen.«  

Ich dachte über die beiden Frauen und ihr ständiges Gezicke und Gezanke nach, und mein Kopf lief über vor Fragen. Wenn diese Stimmen in meinem Kopf mir verrieten, was Lester dachte oder fühlte, warum redeten sie dann immer so über ihn, als wäre er gar nicht da? Immer putzten sie ihn nur runter. Anscheinend hatten die beiden Frauen eine solche Wirkung auf ihn gehabt, dass er jetzt nur noch ihre Stimmen hörte, schreiend laut. Sagte ihr gemeines Geschwätz Lester, wer er war? Kein Wunder, dass der Mann stotterte und zuckte.  

Vielleicht geht es uns allen so, dachte ich. Vielleicht haben wir alle ständig ein Tohuwabohu von fremden Stimmen im Kopf. Ich dachte daran, wie oft mein Poppa und meine Momma in meinem Kopf waren und mir sagten, was richtig und was falsch war. Oder wie mir die Stimmen von Ashley Bing und Emma Flint manchmal unter die Haut fuhren, mich verspotteten und runterzogen, selbst wenn sie nicht da waren. Ich begriff allmählich, wie schwer es war, all die Stimmen auszusortieren, bis ich die eine, starke Stimme hörte, die nur von mir kam.  

Als ich an diesem warmen, heiteren Morgen wieder in den großen rosa Heartland-Bibelbus stieg, versuchte ich an Carlene und Rhonda vorbei zu hören, ob in Lester noch irgendwo etwas von seiner eigenen Stimme zu finden war. Je mehr ich hinschaute und lauschte, desto klarer wie nur was wurde es, dass Carlene und Rhonda immer dann einen Dämpfer bekamen, wenn Lill Lester anlächelte oder etwas zu ihm sagte, während wir über den Highway fuhren.  

Lill schien auf Lester wie die Sonne. Und auf seinen Armen mit den hochgekrempelten Hemdsärmeln verwandelten sich die bösen bewegten Gesichter der Frauen wieder in die dünnen schwarzen Striche lebloser Tattoos.  

Vielleicht ist Lill wirklich ein Engel, dachte ich bei mir, vielleicht ist sie Lesters Engel, vom Himmel geschickt, damit sie die Stimmen aus seinem Kopf verscheucht.  

Ich wandte den Blick von den Erwachsenen und suchte mir einen der wenigen Fensterplätze, die nicht mit Rissen übersät oder mit Pappkartons und silbrigem Isolierband bedeckt waren. Ich schaute hinaus, während wir rumpeldipumpel in Richtung Wymore zu Lesters nächster Lieferadresse fuhren, vorbei an endloser Landschaft aus grauen Maisfeldern. Hier gähnte die Erde und reckte sich, wurde grün an den Zehen der braunen stoppeligen Stängel von der Ernte des letzten Jahres. Es war Frühling und die ganze Welt wurde wieder lebendig. Die ganze Welt erwachte. Jetzt, dachte ich, müsste nur noch mein Poppa dasselbe tun.