23. Kapitel
Es kam ganz auf das Timing an. Es war heute Nachmittag erstaunlich einfach gewesen, Lester zu überreden, aber ich wusste, dass es sehr viel schwieriger werden würde, Lill hinters Licht zu führen – sie würde keine Ruhe geben, bis sie felsenfest davon überzeugt war, dass wir zu Hause angerufen hatten.
Ich erinnerte mich daran, wie Bobbi gestern Abend beim Hackbraten ihre Mutter imitiert hatte, sie hatte sich haargenauso angehört wie Miss Rosemary. Ich erinnerte mich auch an Will juniors Drohung, ihren Eltern zu verraten, dass Bobbi mit verstellter Stimme in der Schule angerufen und ihr Fehlen entschuldigt hatte.
Mit zwei Motelzimmern, die auf demselben Flur lagen, könnte mein Plan klappen.
Es war zu Lills eigenem Besten, sagte ich mir immer wieder. Ich musste ihr und Lester jeden Ärger ersparen. Wenn wir jetzt wirklich zu Hause anriefen, was könnte dann nicht alles passieren? Doch wenn wir uns bis morgen bedeckt hielten, bis wir beim Salina Hope Hospital angekommen waren, dann konnten Lester und Lill vielleicht einfach weiterziehen und keiner würde erfahren, dass sie uns geholfen hatten, oder ihnen vorwerfen, sie hätten uns entführt.
Lill nahm beide Zimmer in Augenschein, bevor sie das eine den Jungs anwies und das andere uns Mädchen. Bobbi und ich waren zusammen mit Lill in Zimmer 214, und die drei Jungs waren in Nummer 215.
»Geh einfach ans Telefon, wenn es klingelt, Fish«, flüsterte ich meinem Bruder zu, bevor wir uns trennten. »Geh dran, aber sag nichts. Bleib am Apparat und lass Bobbi rein, wenn sie klopft. Wir müssen uns jetzt ganz auf Bobbi verlassen.« Fish nickte, warf Bobbi einen zweifelnden Blick zu, dann folgte er Samson und Will junior in Zimmer 215.
Sobald wir in dem Zimmer gegenüber waren, zeigte Lill auf das Telefon und sagte: »Bobbi, ruf jetzt bitte deine Eltern an und sag ihnen, wo du bist. Sie müssen ja krank vor Sorge sein, die Ärmsten.«
Bobbi sah mich mit großen Augen an – Was soll ich jetzt machen?, sagte ihr Blick – und ging langsam zum Telefon. Sie nahm den Hörer ab, als wäre sie unter Wasser, schaute zu Lill, die ihren Pulli auszog und an den Griff der Schranktür hängte. Ich hätte fast einen Freudensprung gemacht, als Lill das Licht im Bad einschaltete und die Tür hinter sich schloss.
Bobbi hatte zwar nicht so einen Schimmer wie wir Beaumonts, aber jetzt war der Augenblick, wo sie ihr eigenes Spezialwissen anbringen konnte. Bevor Lill wiederkam, flitzte ich zu Bobbi und sagte ihr ganz genau, was sie zu tun hatte. Sie sah mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle.
»Sie glaubt, du bist verrückt«, sang ihr Tattoo-Engel in meinem Kopf.
»Das hier ist was anderes, als die Schulsekretärin reinzulegen, Mibs«, flüsterte Bobbi rau. »Was machen wir, wenn es schiefgeht?«
Aber da hörten wir schon, wie Lill sich die Hände wusch, es war keine Zeit, zu diskutieren. »Mach’s einfach«, sagte ich und zeigte auf die Nummer, die auf dem Moteltelefon aufgedruckt war.
Bobbi wählte und warf einen Blick über die Schulter, während sie in dem anderen Zimmer anrief. Die Badezimmertür ging auf und Lill trat wieder ins Zimmer, glättete ihren Rock und kratzte an einem getrockneten Tortenspritzer. Sie schaute auf und Bobbi legte los.
»Hallo, Mom, ich bin’s, Bobbi.« Bobbi blitzte mich kurz an, als sie angeblich mit ihrer Mutter sprach, während Fish in Nummer 215 stumm am anderen Ende der Leitung saß. Doch Bobbi war eine gute Schauspielerin, während des kurzen einseitigen Gesprächs vergaß ich für einen Moment fast selber, dass es nur Show war, als sie der Luft erklärte, wo wir waren, wie wir hierhergeraten waren und dass wir morgen zum Krankenhaus nach Salina fahren würden.
»Nein, Mutter, es kann gar nichts passieren, versprochen!«, sagte Bobbi. »Ja, Mutter, du kannst Mibs sprechen. Sie steht neben mir …«
Bobbi verdrehte die Augen und ließ theatralisch die Schultern sinken, als sie mir den Apparat hinhielt. Ich schaute Lill ängstlich an und nahm das Telefon in der Hoffnung, auch nur halb so gut schauspielern zu können wie Bobbi. Ich drückte das Telefon einen Moment an die Brust, als wartete ich auf den Mut, es ans Ohr zu halten.
»Ich seh mal nach den Jungs«, sagte Bobbi, schnappte sich eine Schlüsselkarte und stand auf. »Danach will meine Mutter mit Ihnen sprechen, Lill«, sagte sie, öffnete die Tür und knallte sie hinter sich zu. Lill war blass im Gesicht. Sie kaute an der Nagelhaut ihres kleinen Fingers und holte tief Luft. Man konnte ihr anmerken, dass sie sich nicht darauf freute, mit der Frau des Predigers zu sprechen, und ich empfand Scham und Mitleid, weil wir so ein falsches Spiel mit ihr trieben. Es ist zu ihrem eigenen Besten, sagte ich mir dann wieder, und als ich hörte, dass Bobbi gegenüber an die Zimmertür klopfte, hielt ich den Apparat ans Ohr.
»Miss Rosemary? Hier ist Mibs. Es tut mir leid …«, begann ich. Ich sprach stockend und konzentrierte mich darauf, längere Pausen einzulegen, damit es so aussah, als bekäme ich einen Anpfiff von Miss Rosemary.
Am anderen Ende der Leitung klackte es.
»Du fährst direkt zur Hölle, Mississippi Beaumont«, sagte Bobbi mit einer Stimme, die so sehr wie Miss Rosemarys klang, dass mir fast das Telefon aus der Hand gefallen wäre. Sie kicherte. »Jetzt gib mir diese Kellnerin. Dann sprich ein Gebet.« Bobbi machte ihre Sache viel zu gut. Ich hoffte, dass sie die arme Lill nicht zu hart anging.
Ich hielt Lill den Apparat hin und schluckte schwer.
»Sie will dich sprechen«, sagte ich.
Die ganze Zeit, während Lill mit Bobbi-Schrägstrich-Miss-Rosemary telefonierte, hielt ich die Luft an. Ich wusste nicht genau, was Bobbi sagte – ich konnte nur ein, zwei Wörter aufschnappen, als ihre Stimme höher und lauter wurde und durch den Hörer drang. Doch Lill versuchte keinen Zweifel daran zu lassen, dass wir Kinder gesund und munter und bei ihr und Lester in guten Händen waren. Sie gab den Namen des Motels und unsere Telefonnummer durch.
»Wir bringen die Kinder gern nach Haus oder zum Krankenhaus in Salina, Mrs Meeks, es sei denn, Sie möchten lieber kommen und sie hier abholen«, sagte Lill nervös.
Meine Lunge war kurz vorm Platzen. Ich hätte zu gern Bobbis Antwort gehört, sie war wirklich fix im Flunkern, und ich war unschlüssig, ob ich sie für dieses Talent bewundern oder bedauern sollte.
Schließlich wurde das Gespräch ruhiger. »Das ist kein Problem, Ma’am«, sagte Lill. »Dann also bis morgen in Salina.«
»Ja, Ma’am …«
»Vielen Dank, Ma’am …«
»Gott segne Sie auch, Ma’am …«
Ich sah Bobbi genau vor mir, wie sie in dem anderen Zimmer saß und zu Lill mit Miss Rosemarys strenger Stimme »Gott segne Sie« sagte. Ich schüttelte den Kopf, betete, dass Bobbi es nicht zu weit trieb, und hoffte, dass sie das Gespräch jetzt beendete.
Als Lill endlich auflegte, kam wieder Farbe in ihre Wangen.
»Das lief ja besser, als ich gedacht hätte«, sagte sie mit ihrem kleinen Lächeln. »Diese Rosemary scheint eine gute, starke Frau zu sein. Sie wird deine Familie anrufen und ihnen sagen, dass es dir und deinen Brüdern gutgeht, Mibs.«
»Super«, sagte ich halbherzig und fühlte mich mies, so mies wegen unseres Doppelspiels.
Ich hörte, wie die Schlüsselkarte durchs Schloss gezogen wurde, dann ging die Tür auf. Bobbi, Will und Fish kamen hereingetrottet wie drei Katzen, die sich gerade an einem ganzen Schwarm Kanarienvögel gütlich getan haben. Zum Glück war Lill so erleichtert, das Telefongespräch hinter sich zu haben, dass sie es gar nicht bemerkte.