29. Kapitel
Carlene entpuppte sich als große Frau im Körper einer kleinen Frau. Sie hatte viel Haar, große Zähne, lange große Fingernägel und große Plüschpantoffeln, aber ansonsten war sie hager, hohl und verschrumpelt. Sie sah aus wie eine Hexe, die sich zu Halloween als Filmstar verkleidet hat. Als Lester mit dem großen rosa Bibelbus auf den Wohnwagenpark Tuttle Terrace auffuhr, saß Carlene draußen in einem Liegestuhl. Sie las die Sonntagszeitung und trug nur einen Satinmorgenmantel und knallrosa Lippenstift, der sich in die Falten um ihre Lippen gesetzt hatte, wodurch sie zackig und zerrupft aussahen. Ihre Füße guckten aus den Plüschpantoffeln heraus, und ich sah, dass ihre langen, dicken Zehennägel in derselben Farbe angemalt waren wie ihre Lippen.
Als sie den Bus die Straße entlangkommen sah, faltete sie die Zeitung zusammen und verschränkte die Arme. Sie machte sich nicht die Mühe aufzustehen. Ich sah, wie sie uns durch das zerbrochene Fenster ansah, blinzelnd, weil es blendete. Offensichtlich wunderte sie sich darüber, dass Lester nicht allein kam.
»Es ist wahrscheinlich b-besser, wenn ihr alle im B-Bus bleibt«, sagte Lester und stand auf. Doch ehe er aussteigen konnte, kam Samson zu mir, er zappelte und wand sich und flüsterte mir etwas ins Ohr. Als Fish zu uns hinsah, verdrehte ich die Augen, dann rief ich Lester, der gerade die Tür öffnete.
»Mr Swan, mein kleiner Bruder muss mal zur Toilette«, sagte ich. Fish schlug sich mit der Hand an die Stirn. Bobbi schnaubte und Will kicherte. Lester sah verwirrt und nervös aus, als er sah, wie Samson im Gang stumm auf der Stelle hüppelte.
»Du musst ihn mitnehmen, Lester«, sagte Lill, als wären sie schon ein altes Ehepaar. Lester sah noch unglücklicher aus.
»Ich geh mit ihm«, sagte Bobbi zur Überraschung aller, stand auf und nahm Samson an die Hand. »Einer muss den Kleinen aus dieser üblen Lage befreien.« Ohne zu zögern, fasste Samson Bobbis Hand und zusammen sausten sie an Lester vorbei und stiegen aus. Unsicher, wie es weitergehen sollte, gingen Fish, Will und ich im Bus zu der Seite, auf der Carlenes Wohnwagen stand, und öffneten vorsichtig die Fenster, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu haben. Bobbi führte Samson die Stufen hinunter und blieb vor Carlenes Liegestuhl stehen.
»Könnten wir mal bitte die Toilette benutzen?«, fragte Bobbi rundheraus.
»Lester!«, brüllte Carlene, ohne auf Bobbi zu achten, erhob sich von ihrem Liegestuhl, ließ die Zeitung fallen und schob die Füße in die Plüschpantoffeln. »Lester, du Vollidiot! Beweg sofort deinen mageren Hintern hierher und sag mir, was hier los ist! Was sind das für Kinder?«
Samson trat auf der Stelle und zog Bobbi am Arm. »Bitte, Ma’am?«, sagte Bobbi.
Carlene scheuchte Bobbi weg wie eine Fliege und stürzte sich auf Lester, der aus dem Bus stieg. Bobbi nahm die Handbewegung der Frau als Erlaubnis, ob sie nun so gemeint war oder nicht, und verschwand schnell mit Samson im Wohnwagen, um die Toilette zu suchen. Es war mir nicht geheuer, als ich Samson und Bobbi in der Wohnung verschwinden sah wie Hänsel und Gretel, die ahnungslos auf einen riesigen Ofen zumarschierten. Fish und Will schien es ähnlich zu gehen wie mir; wir schauten uns alle an, dann stürmten wir aus dem Bus, direkt an Carlene und Lester vorbei, folgten Bobbi und Samson in den Wohnwagen und ließen Lill allein im Bus der Dinge harren.
Im Innern von Carlenes Wohnwagen war es verraucht und schummrig, die Sonne versuchte sich durch die dichten Gardinen zu kämpfen, die alle Fenster bedeckten. Ein penetranter Geruch nach Mottenkugeln und Duftkerzen strömte mir in die Nase und in den Hals und ich musste husten. Carlenes Möbel waren schreiend hässlich und in jedem Regal standen Nippes, Tand und Tinnef. Als Samson fertig war, gingen auch Bobbi und ich nacheinander zur Toilette.
Ich kam gerade rechtzeitig wieder heraus, um Samson zu erwischen, wie er unter ein langes Tischtuch huschte, das fast bis zum Boden reichte; es war über einen kleinen Tisch vor der vertäfelten Theke geworfen, die das Wohnzimmer von der Küche trennte. Als mein Bruder unter den Tisch wibbelte und sich verstohlen wie üblich in seinem neuen Versteck verkriechen wollte, packte ich ihn am Knöchel und zog ihn rückwärts wieder unter dem Tisch hervor.
»Nicht jetzt, Samson«, sagte ich. »Nicht hier. Bleib, wo wir dich sehen können, ja?« Samson schaute mich an, die Miene versteinert und ausdruckslos wie immer, er ließ nur die dürren Schultern ein kleines bisschen hängen.
Ich wollte ihm gerade versichern, dass wir bald weiterfahren würden, dass wir schon bald bei Momma und Rocket in Salina sein und Poppa sehen würden, aber in dem Moment platzte Carlene in den Wohnwagen und Lester folgte ihr auf dem Fuß.
Carlene schrie und hielt sich die Ohren zu. Lester versuchte ihr ein Bündel Geldscheine zu geben, die mit einer Büroklammer zusammengehalten wurden, doch Carlene würdigte ihn keines Blickes. Sie schimpfte über Lesters mangelnde Intelligenz und seine allgemeine Blödheit, scheuchte Fish weg von einem Regal voller Figürchen aus trockenen Makkaroni und riss Will junior eine lecke, halbleere Sunny Miami-Schneekugel aus den Händen.
»Ich nehme das Geld nicht, Lester«, brüllte Carlene und schaute misstrauisch zu Bobbi, die einfach nur neben dem Sofa stand. »Ich nehme es nicht, weil es nicht annähernd genug ist. Wenn du doppelt so viel hast, kannst du wiederkommen.« Carlene machte eine Pause, gerade lange genug, um uns alle nacheinander angucken zu können, sie hatte das Gesicht angestrengt verzerrt, als versuchte sie sich an etwas zu erinnern, etwas, das möglicherweise mit uns zu tun hatte.
»Schön, C-Carlene«, sagte Lester. »Dann lässt du es eben bleiben. Aber d-du sollst wissen, dass ich nicht w-wiederkomme, ob du das Geld nun nimmst oder nicht. Ich fahre weiter.«
»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden!«, rief Carlene, wandte den Blick von uns Kindern ab und grabschte das Geld gierig aus seiner Hand. Jetzt loderte ihre Wut so richtig auf und sie zielte mit der lecken Schneekugel direkt auf Lesters Kopf. Lester duckte sich, dann tanzte er herum, als Carlene mit anderen Gegenständen nach ihm warf, Figürchen und Sammelteller segelten durch den Raum und knallten an eine Wand, eine Lampe oder einen Tisch, wenn Lester zur Seite sprang.
Sowohl die Carlene aus Fleisch und Blut als auch die Carlene in Lesters Kopf kreischten und brüllten so laut, dass Rhondas Stimme kaum dazwischenkam.
»Ich dachte, ich hätte dich besser erzogen, du dummer Junge!«, schalt Rhonda ihn. »Mit einer Frau zu zanken!«
»Du bist so eine Niete, Lester! So eine komplette Nullnummer!«, schimpfte Carlene, während Makkaronipudel durch die Luft flogen.
»Lester ist ein Volli…«
»Lester ist ein …«
»Halt – die – Klappe!« Schließlich war es an Lester, sich die Ohren zuzuhalten und zu schreien, alle Stimmen zur Ruhe zu rufen. »Es reicht!«, brüllte Lester, der aufrecht in seiner Latzhose in Carlenes Wohnwagen stand. »Ich hab die Nase voll von dir, Carlene. Es ist mir egal, wenn du mich feuern lässt – ich werd es schon schaffen, meinen Bus zu behalten. Dein Cousin Larry ist m-mir egal, und du bist mir auch egal!«
Ein erschrockenes Schweigen erfüllte den Raum. Einen Augenblick rührte sich niemand. Keiner sprach oder dachte auch nur.
»Also, ich werde nie …«, setzte Rhonda an, dann verebbte ihre Stimme schnell.
»Du Depp …« Carlenes Stimme in Lesters Kopf schlug noch ein letztes Mal zu, ehe sie zischend verschwand wie eine verlöschende Flamme.
Die lebende, atmende Carlene hörte auf, Lester mit Gegenständen zu bewerfen, und starrte ihn an, zum ersten Mal sprachlos, und als Bobbi, Fish und ich uns bewegten, fiel ihr wieder ein, dass sie ein Publikum hatte.
Ich hatte ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube und die feinen Härchen in meinem Nacken fingen an zu kribbeln. Carlene schaute uns mehrmals an, von einem zum anderen, und ich sah, wie es ihr langsam dämmerte. Es war Zeit zu verschwinden.
»Du … meine … Güte. Lester, das sind ja die Kinder aus dem Fernsehen«, sagte Carlene langsam und leise wie das erste warnende Zischen einer Giftschlange. Lester schaute von Carlene zu uns, offenbar verwirrt.
»Aus dem Fernsehen?«, wiederholte er.
»Die Suchmeldung im Fernsehen …«, sagte Carlene und entfernte sich seitwärts, ohne uns aus den Augen zu lassen. »Die vermissten Kinder, Lester! Hast du ihnen geholfen abzuhauen?«
»W-was?«, stammelte Lester. »N-nein … ich meine, ja. Ich meine – nicht mit Absicht, Carlene. Ich k-kann das erklären!«
Aber Carlene griff schon nach dem Telefon. »Das kannst du der Polizei erklären, du hirnloser Tölpel.« Mit einem langen, spitzen Fingernagel malträtierte sie die Tasten des Telefons.
»Der P-Polizei?«
»Keine Polizei, Lester!«, rief ich und kam aus meiner Ecke des Raums gerannt. Ich packte Lester am Arm und versuchte ihn zur Tür zu ziehen. »Wir müssen nach Salina, Lester! Wenn wir nach Salina kommen, wird alles gut, aber wir müssen jetzt sofort los!« Bobbi, Fish und Will kamen mir zu Hilfe, und mit vereinten Kräften schoben und zogen wir Lester aus dem Wohnwagen und zurück in den Bus.
»Wir müssen los, Lester!«, riefen wir, drückten ihn in den Fahrersitz und Will zog die Tür hinter uns zu. Lester bewegte sich langsam, wie in Trance, startete den Bus und legte einen Gang ein, ohne richtig darauf zu achten, was er tat. Sein Gehirn versuchte immer noch zu erfassen, was Sache war, versuchte herauszufinden, ob er das Richtige tat.
»Was ist los?«, wollte Lill wissen; sie war im Bus geblieben, damit Lester seine Schlacht selbst schlagen konnte. Aber wir hielten uns nicht groß mit Erklärungen auf.
»Fahren Sie endlich!«, rief Bobbi, als Carlene mit ihrem schnurlosen Telefon am Ohr aus dem Wohnwagen kam, winkend und fingerzeigend, als könnte die Telefonistin am anderen Ende der Leitung uns wegfahren sehen.
Jetzt waren wir wieder auf dem Highway, Lester schwitzte wie ein Tier und Lill guckte angespannt, verwirrt und besorgt. Wir saßen alle ganz vorn auf unseren Sitzen und sahen aus dem Fenster, wir hielten Ausschau nach dem ersten Blinken der Lichter und horchten auf die ersten Töne von Sirenen hinter uns. Ich dachte wieder daran, dass das alles meine Schuld war, dass wir gar nicht hier wären, wenn ich nicht wäre mit meinem Schimmer, der über mich gekommen und mich in Teufels Küche gebracht hatte.
Da wurde mir plötzlich eiskalt, denn anstatt weiter darüber nachzudenken, wie trostlos mein Leben geworden war, bemerkte ich etwas noch viel Schrecklicheres, und das tat so weh, als würde mein Gehirn erstarren. Ich stand auf und schaute mich um, mein Herz setzte einen Schlag aus.
»Wo ist Samson?«