31. Kapitel
Ich fasste tief in meine Rocktasche und suchte nach meinem schicken silbernen Geburtstagsstift, fand jedoch nur das nutzlose, zerbrochene Stück Seife. Da fiel mir ein, dass Will junior den Stift noch hatte.
Will suchte im Schlafzimmer im hinteren Teil des Wohnwagens, und ich hörte, dass Carlene bei ihm war und schrie, er solle aufhören, die Decken von ihrem Bett zu ziehen.
Durch ein schmales Fenster in der Eingangstür beobachtete ich, wie zwei Polizisten aus einem Streifenwagen stiegen und durch den Regen auf den Wohnwagen zurasten. Schnell schob ich den Riegel an der Tür vor und stellte einen schweren Sessel davor, um Zeit zu gewinnen, ich hoffte, dass es noch einen zweiten Ausgang gab. Dann rannte ich durch den schmalen Flur an den anderen vorbei ins Schlafzimmer. Lester und Lill waren in der Küche und durchsuchten noch einmal die Schränke. Bobbi schaute in der Waschmaschine und im Trockner nach. Fish saß im Badezimmer auf dem Fußboden, er hatte den Kopf in die Hände gestützt und die Augen zugekniffen. Er kämpfte gegen den Sturm da draußen.
»Wir schaffen es, Fish! Ich hab die Lösung!«, rief ich ihm beruhigend zu, als ich an ihm vorbeirannte. Fish stand auf und folgte mir in Carlenes Schlafzimmer, Bobbi hinterher.
»Will! Ich brauch meinen Stift!«, schrie ich.
Will unterbrach sein wildes Bettzeug-Tauziehen mit Carlene und ließ ein Ende so abrupt los, dass die magere Frau rückwärts in ihrem soeben geleerten Wäschekorb landete, mit Armen und Beinen zappelnd, wobei einer ihrer Plüschpantoffeln zu Boden fiel und der andere bis an die Decke segelte, direkt über Bobbis Kopf – Bobbi duckte sich, um nicht getroffen zu werden. Wir hatten so gut wie keine Zeit mehr. Ich hörte, wie die Polizisten an die Eingangstür hämmerten.
»Will! Meinen Stift!« Ich streckte die Hand aus wie ein Chirurg, der ein Skalpell braucht. Will fasste tief in seine Tasche und drückte mir den glänzenden Stift in die Hand, er wusste genau, was ich vorhatte. Wir sausten alle um das Bett herum und darüber hinweg, stürzten uns auf die Frau im Wäschekorb und versuchten sie unten zu halten. Carlene stimmte ein so lautes, zischendes, fauchendes Gejaule an, dass es so war, als wollte man eine Wildkatze festhalten. Wieder hämmerte die Polizei an die Tür und ich wusste, dass ich keine Zeit zu verlieren hatte.
Carlene schrie: »Hilfe! Helfen Sie mir!« Fish blies ihr noch eine peitschende Brise entgegen, so dass sie zurückzuckte und den Kopf zur Seite drehte, aber ihr Maunzen hörte nicht auf.
»Hilfe! Überfall!«
Um ihr das Maul zu stopfen, holte Bobbi ihre Rolle Bubble Tape aus der Jeanstasche, zog eine ganze Armlänge Kaugummi heraus und riss es ab. Schnell knetete sie das lange Band zu einem festen Ballen zusammen, beugte sich vor und pfropfte den dicken Kaugummiklumpen in Carlenes großen, brüllenden Mund, was die Rufe der Frau wenigstens für den Augenblick dämpfte.
Ich zog die Kappe vom Stift, schnappte mir einen von Carlenes strampelnden Füßen; das war der einzige Körperteil, an den ich herankam.
»Lammich los!«, nuschelte die Frau mit dem riesigen, klebrigen, saftigen Kaugummi im Mund, sie versuchte ihn auszuspucken, schaffte es aber offenbar nicht, das Zeug von den Zähnen zu bekommen. Sie trat wieder nach mir, befreite ihren Fuß aus meinem Griff, ihre dicken Haare flogen um ihren Kopf wie eine Mähne, als würde sich die wütende Katze in einen Löwen verwandeln.
»Versucht sie festzuhalten«, rief ich. »Ich brauche nur eine Sekunde!« Während Fish und Bobbi versuchten Carlenes Arme zu Boden zu drücken, packte Will ihre beiden Füße. Ein eisenharter Tritt landete auf seiner Brust und er flog rückwärts gegen das Bett, stand jedoch schnell wieder auf und packte ihre Füße jetzt noch fester.
Es dauerte keinen Augenblick – Punkt, Punkt, Strich –, da hatte ich ein einfaches Gesicht auf Carlenes rissige, von Hornhaut verunstaltete Fußsohle gemalt.
»Wo ist mein Bruder?«, fragte ich und versuchte alles auszublenden bis auf Carlenes Stimme in meinem Kopf, doch es fiel mir schwer, das immer lauter werdende Hämmern an der Tür und den Regen zu ignorieren, der jetzt auf den Wohnwagen trommelte. »Wo ist er?«, rief ich wieder, dann lauschte ich auf die Stimme ihrer Gedanken.
»Er ist selbst reingeklettert, der räudige kleine Schnüffelhund«, antwortete die Carlene-Stimme in meinem Kopf, während die beiden Punkte über dem mürrischen Strichmund zwinkerten. »Ich hab ja nur die Frontplatte verriegelt, damit er nicht wieder rauskann.«
»Was für eine Frontplatte? Wo steckt er?«, fragte ich, und einen kurzen Augenblick lang hörte Carlene auf sich zu wehren, sie schaute mich verdattert an. »Wo ist Samson selbst reingeklettert?«, fragte ich.
Endlich gelang es Carlene, den dicken, klebrigen Kaugummi auszuspucken, wie ein zerkautes Stück Fleisch landete er neben Fish auf dem Teppich. Doch sie fing nicht wieder an zu schreien. Sie sagte kein Wort. Stattdessen sah sie mich an, hinterlistig und neugierig.
»Woher weiß das Mädchen von der Frontplatte?«, fragte sich das Gesicht, das ich auf Carlenes Fuß gemalt hatte, in meinem Kopf. Ihre Augen wurden schmal, während sie mich genau ansah. Diese Frau war wirklich gruselig. Es war fast, als könnte sie meine Gedanken lesen, und einen Moment lang hatte ich Angst. Wenn nun ein so böser Mensch wie Carlene herausbekäme, was es mit uns Beaumonts auf sich hatte und was unser Schimmer mit uns anstellte? Hoffentlich musste ich das nie erfahren.
Doch bevor ich über diese neue Sorge weiter nachdenken konnte, wurde ich von einer ganz neuen Stimme in meinem Kopf abgelenkt – gedämpft und fern wie ein verstecktes Glockenspiel, das kaum je läutet. Die Stimme erinnerte mich an …
»Samson!«
»Ich bin in der Wand«, sagte die Stimme in meinem Kopf. Dann verdoppelte sie sich. »Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.« Während ich lauschte und die Sekunden verrannen und ich weder auf Carlene noch auf sonst jemanden achtete, vervielfachte sich Samsons Stimme wieder und wieder und wieder, bis sie sich selbst so viele Male überlagerte, dass die Worte zu einem melodischen Kauderwelsch verschwammen.
Ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
… in der Wand.
Ich hob die Hand, wie um einige der Stimmen zum Schweigen zu bringen, und war mir bewusst, dass die anderen, darunter Carlene, mich mit Spannung beobachteten.
»Es ist Samson«, sagte ich. »Ich kann ihn hören. Er sagt, er ist in der Wand. Was bedeutet das?« Alle schauten von mir zu Carlene, erschrocken und verwirrt.
Fish brüllte Carlene wütend an, die blonde Mähne wehte ihr aus dem Gesicht und sie blinzelte in die Bö. »Sagen Sie uns, wo er ist!«
Ich wartete Carlenes Antwort nicht ab. Ich ließ meinen Stift und Carlenes hässlichen Fuß fallen, sprang auf, sauste aus dem Schlafzimmer und folgte Samsons Stimme wie bei einem Versteckspiel mit »heiß« und »kalt«, bis ich wieder vor dem Tisch stand, unter den Samson hatte krabbeln wollen. Dort war seine Stimme am lautesten, aber da hatte ich ja schon nachgesehen …
Ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
Ich bin in der Wand – ich bin in der Wand.
… in der Wand.
Ich schaute zu der vertäfelten Wand der Theke direkt hinter dem Tisch, und jetzt fiel mir auf, dass die Bretter unregelmäßig waren, sie überlappten einander wie die Schiebetüren eines kleinen Wandschranks. Jetzt begriff ich, dass man die Vertäfelung öffnen konnte.
Die anderen waren mir ins Wohnzimmer gefolgt und sahen mir zu, wie ich mich vor die vertäfelte Theke kniete, die Bretter abklopfte und Samson rief, während ich herauszufinden versuchte, wie sich die Vertäfelung aufschieben ließ. Es dauerte nicht lange, da hatte ich den Riegel gefunden und schob das erste Brett zur Seite.
»Hier ist er!«, schrie ich. »Er ist hier drin!«
Da saß Samson, zusammengekauert – die Knie an der Brust –, mitten in allem möglichen Krempel und Klumpatsch. Alte Aktenordner und staubige Schuhkartons stapelten sich um ihn herum in der versteckten Rumpelkammer, dazwischen tütenweise alte Klamotten und ein paar kaputte Töpfe und Pfannen.
Samson blinzelte uns aus seinem Schlupfloch-Gefängnis an, als wäre nichts Besonderes passiert. Er hatte einen schwarzen Plastikkuli in der Hand, den er in der Rumpelkammer gefunden haben musste, und malte sich damit überall an. Kritzel und Kringel ruckelten und zuckelten seine Arme hinauf und hinunter, Grinsegesichter und Sterne, Raumschiffe, Roboter und Käfer zierten seine Haut, sie wackelten und zappelten, plapperten und plauderten in dem wirren Wust in meinem Kopf.
Ich zog Samson aus der Wand und nahm ihn fest in die Arme, ich versuchte auf seine Gedanken zu lauschen. Jetzt, wo ich ein einziges Mal Zutritt zu der Innenwelt meines Bruders hatte, wäre es mir lieb gewesen, wenn er sich nicht gar so sehr bemalt hätte – ich wurde aus all dem Krach nicht schlau. Doch ich war so froh ihn zu sehen, dass ich an kaum etwas anderes denken konnte. Samsons Mischmaschmix klang mir wie wunderschöne Musik in den Ohren.
Kaum hatten wir Samson gefunden, stürzten sich alle gleichzeitig auf uns.
Lester und Lill kamen aus der Küche um die Ecke, sie sahen erleichtert aus.
Carlene kam aus dem Schlafzimmer und hielt einen Besen auf uns gerichtet, als wollte sie uns alle aus ihrer Wohnung fegen, oder vielleicht auch auf den Besen springen und hinaus in den Sturm fliegen.
Und zu allem Überfluss trat die Polizei genau in diesem Moment die Tür ein.