16. Kapitel
Ich weiß nicht genau, was Lill Kiteley an sich hatte, aber ich mochte sie sofort. Wir alle mochten sie sofort. Sogar Bobbi schien ein wenig aufzutauen – ich sah sie ein- oder zweimal lächeln, als Lill mit uns herumalberte.
Lill war eine fröhliche Frau ohne Tattoos. Sie arbeitete abends in einer Fernfahrer-Raststätte bei Emerald und war gerade auf dem Weg zur Arbeit gewesen, als ihre alte Rostschleuder gurgelnd den letzten Schluck Sprit geschlürft hatte und dann verendet war. Lill hatte fast zwanzig Minuten an der Landstraße in ihrem Wagen gesessen und überlegt, ob sie den Daumen raushalten und die letzten vierzig Kilometer per Anhalter fahren sollte, als Lester Swan sie gesehen und mit seinem Bus angehalten hatte. Jetzt zockelte der Bus über den Highway zur Fernstraße, und Lill kam zu mir und half mir, Fish das Gesicht zu säubern, ohne auch nur zu fragen, was passiert war.
Lester konnte kaum den Blick von Lill wenden und auf die Straße schauen, wie es sich gehörte. Immer wieder drückte irgendwer brüllend auf die Hupe, wenn Lester von der Spur ab- und jemand anderem in die Quere kam, weil er sich nach Lill umschaute. Mit Lill war es fast so, als hätten wir eine Mutter im Bus. Sie betüttelte uns der Reihe nach, säuberte und verarztete Fishs Wange und schaute nach Wills Auge.
»Warte, ich mach dir das mal richtig, Kindchen«, sagte Lill zu mir und zupfte an den lila Bändern der Schleife auf meinem Festtagskleid, löste sie und steckte sie etwas weiter oben an meiner Schulter wieder fest. Die Seidenblume war von den Wirren des Tages krumplig und schief geworden und mein Kleid war schmutzig und zerknittert.
»Das ist ja ein wunderschönes Kleid, das du da anhast«, sagte Lill, während sie sich immer noch auf die Bänder konzentrierte.
»Das hat mein Poppa ganz allein ausgesucht«, sagte ich und dachte daran, wie froh Poppa ausgesehen hatte, als ich in dem Kleid durchs Wohnzimmer getanzt war. Bei der Erinnerung lächelte ich still für mich, dann stockte ich, und meine Lippen fingen an zu zittern.
Während wir immer weiter durch die Dunkelheit fuhren, erzählte ich Lill ausführlich von meinem Poppa und wie er mir das Kleid gekauft und nicht aufgegeben hatte, bis er das richtige gefunden hatte – wie er es mir in der großen weißen Schachtel überreicht hatte, die mit goldenem Gummiband zugeschnürt war, mit dem sie so besonders aussah. Mein Herz zog sich zusammen, als ich ihr von der weltgrößten Verandaschaukel erzählte und von dem Unfall auf dem Highway und den Autos, die sich übereinandergestapelt hatten wie Pfannkuchen am Sonntag. Dann erzählte ich ihr von Momma und Rocket und dass sie schon dort waren, bei Poppa im Salina Hope Hospital. Lill hörte sich die ganze Geschichte an, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen. Doch ich sah ihr an, dass sie jedes Wort hörte, während sich ihr Gesichtsausdruck von warmem Lächeln zu Lachen zu Mitgefühl und Anteilnahme wandelte.
»Mein Poppa braucht mich«, sagte ich schließlich, mehr zu mir selbst als zu Lill. »Ich muss zu ihm nach Salina. Er liegt da wie Dornröschen und ich muss ihn aufwecken.«
Ich achtete nicht auf Lills unverkennbar besorgte Miene, als ich das sagte. Natürlich dachte sie, dass ich mir zu große Hoffnungen machte, wenn ich glaubte, es stünde in meiner Macht, Poppa zu helfen. Aber da täuschte sie sich, und deshalb schenkte ich ihr keine Beachtung. Ihr nicht und nicht den Stimmen in meinem Kopf – denen, die dort hingehörten, und den anderen. Damit wollte ich mich später beschäftigen, wenn Poppa wieder zu Hause war und es ihm besserging. Jetzt hatte ich keine Zeit zum Zuhören.
»Dein Poppa scheint ein sehr netter Poppa zu sein, Kindchen«, sagte Lill sanft. »Und das ist ein todschickes Kleid.« Im ersten Moment machte mich das stolz. Doch als ich den Blick senkte und den gelben Stoff mit den weißen Zackenlitzen sah, wurde ich unsicher bei der Erinnerung, wie die Mädchen in der Kirche darüber gelacht hatten.
»Kann schon sein.« Ich zuckte die Achseln und hatte ein schlechtes Gewissen, als würde ich Poppa damit enttäuschen, dass ich mich schämte und mir mein Festtagskleid auf einmal nicht mehr so festlich vorkam. Nach einer Pause und einem schnellen Blick zu Bobbi sagte ich: »Du findest doch nicht, dass ich in dem Kleid zu kleinmädchenhaft aussehe, oder?«
Lill sah mich mit einem merkwürdigen Blick an. »Fühlst du dich darin denn kleinmädchenhaft?«, fragte sie ruhig.
»Nur in Bobbis Nähe. Sie ist sechzehn«, fügte ich zur Erklärung hinzu. Lill schaute auch zu Bobbi, und da lächelte sie über das ganze Gesicht.
»Weißt du was, neben dieser Bobbi komme ich mir auch ein bisschen kleinmädchenhaft vor«, sagte sie mit einem Lachen. »Aber ich will dir mal ein Geheimnis verraten«, sagte sie, beugte sich zu meinem Ohr und flüsterte: »Sechzehn kann sich älter und beunruhigender anfühlen als zweiundvierzig, so alt bin ich nämlich. Ich glaube, Bobbi ist nur gereizt, also stör dich nicht an ihr. Dein Kleid ist goldrichtig.«
Da ging es mir schon besser. Ich glättete die Knitterfalten, die der Rock bekommen hatte, seit ich das Kleid in Kansaska-Nebransas angezogen hatte, und war mir dabei nur zu bewusst, dass Will mich beobachtete.
Lill schaute wissend von mir zu Will. »Ist dein Freund da drüben nicht schnuckelig?«, sagte sie lächelnd und stieß mich mit dem Ellbogen an.
»Was? Will ist nicht … Er ist nur … Er ist nicht …«, stammelte ich und merkte, dass meine Wangen glühten.
»Der Junge starrt die ganze Zeit in unsere Richtung, und ich weiß genau, dass ich nicht gemeint bin. Es ist offensichtlich, dass er hin und weg ist von dir«, fuhr sie mit einem kleinen Lachen fort und tätschelte mir das Bein, so dass es mir vorkam, als wären wir schon seit einer Ewigkeit befreundet. »Siehst du, Mibs? So ein kleines Mädchen bist du gar nicht. Du hast schon einen hübschen Jungen, der dich anschaut.«
Darauf sagte ich nichts. Ich erinnerte mich daran, wie Ashley Bing Will in der Kirche in Hebron angestarrt hatte. Ich erinnerte mich auch daran, dass mir das überhaupt nicht gefallen hatte. Ich hatte schon Ashleys Stimme im Kopf: »Jetzt hat Missi-Pissi einen Freund«, und Emma Flints Echo: »Einen Freund!«
»Keine Panik, Kindchen«, sagte Lill. »Glaub mir, in ein paar Jahren wird Will junior deine geringste Sorge sein.« Lill legte mir einen Arm um die Schultern und drückte mich an sich, genau wie Momma es getan hätte. Einen Augenblick dachte ich, Lill wäre vielleicht ein Engel, der auf uns aufpassen sollte, während wir mit dem großen rosa Bibelbus über den Highway holperten – kein Teufelsengel wie Bobbis Tattoo und auch kein dämlich grinsender Parfümengel wie der Lufterfrischer, der hinter der Windschutzscheibe von Miss Rosemarys Minivan baumelte. Ein echter Engel. Einer mit riesengroßen Füßen.