20. Kapitel

 

Als wir in den Frühlingsabend hinausrannten, war die Luft kühl und frisch mit einem Schuss Dieselabgasen und Hähnchenkroketten. Nach dem Gelärm und Getöse in dem Lokal war es draußen sehr angenehm, eine beruhigende Stille aus Himmel und Pflastersteinen. Auf der Straße vor der Raststätte hörte ich Autos, doch sie klangen nur wie Wellen, die ans Ufer schwappten.

Niemand sprach, als wir im Licht der einzigen Straßenlaterne schnell über Schlaglöcher sprangen und im Slalom um Lastwagen und Sattelschlepper zum anderen Ende des Parkplatzes liefen, wo die kleine Gasse war. Wir schauten uns immer wieder um für den Fall, dass Ozzie oder jemand anders uns auf den Fersen war. Doch entweder lag er immer noch in den Überresten der Bananencremetorte oder es war ihm einfach zu peinlich, uns nachzulaufen, jedenfalls sah es nicht so aus, als wäre Ozzie hinter uns her.  

Über den ganzen Tumult im Lokal hatte ich den Mann am Müllcontainer völlig vergessen. Wir waren schon fast an ihm vorbei, als ein lautes »Zu viel gesehen …« mich wieder daran erinnerte, dass er da lag. Es versetzte mir einen Stich von Trauer und Reue, und mir wurde klar, dass ich, obwohl mein Schimmer ihm nicht hatte helfen können, etwas für den lebensmüden Mann tun konnte. Ich blieb ein Stück hinter den anderen zurück und stellte mein Hamburgerschälchen neben der ausgestreckten Hand auf die Erde. Dann löste ich die lila Blumenschleife von der Schulter meines Festtagskleids und legte sie zu dem Hamburger; Poppa würde das bestimmt verstehen. Abgesehen von meinem silbernen Stift war es das Einzige, was ich zu geben hatte, die einzige Möglichkeit zu zeigen, dass ich den Mann gesehen hatte. Dass ich zugehört hatte.  

Auf dem Weg zum Bus waren alle so durcheinander und außer Atem von den Ereignissen in der Raststätte, dass nur Will meine kleine Gabe zu bemerken schien; er schenkte mir einen warmen Blick, als er auf mich wartete.  

Jetzt, da wir von dem Stimmengewirr im Lokal und der Stimme des Obdachlosen weiter entfernt waren, war ich verdrossen, aber nicht überrascht, als Bobbi und Carlene und Rhonda sich wieder in meinen Kopf schoben, laut und ruppig, als wären sie dort zu Hause.  

»Jetzt steckt Lester aber richtig tief im Schlamassel …«  

»Dafür hat er ja ein Talent.«  

Als Lester sich damit abmühte, die Bustür zu öffnen und gleichzeitig die stibitzte Torte auf der Hand zu balancieren, lehnten wir anderen uns an den Bus und verschnauften. Trotz allem, was passiert war, schaute Bobbi mich beinahe gelassen an, die Arme verschränkt, der Blick forschend und vorsichtig zugleich. Will junior stand hinter ihr, seine Miene war unergründlich.  

»Sag mir, was ich denke. Weißt du, was ich denke?«, sang der kleine Engel auf Bobbis Rücken in meinem Kopf. Carlenes und Rhondas Stimmen traten hinter Bobbis Engel zurück, ihr endloses Lester-Geläster war wie der Hintergrundgesang zu Bobbis neuestem Hit.  

»Sag mir, was ich denke. Weißt du, was ich denke?« Bobbi drängte mir ihre Gedanken auf, immer lauter.  

»Sag mir, was ich denke. Weißt du, was ich denke?«  

»Sag mir, was ich denke. Weißt du, was ich denke?«  

Sie machte mich wahnsinnig. Als Lester endlich die Tür aufbekam, steckte ich mir die Finger in die Ohren und summte die Nationalhymne, so laut ein Mensch nur summen kann. Doch Fish drehte mich herum, zog mir den Finger aus dem rechten Ohr und flüsterte eindringlich: »Was hörst du, Mibs?«  

»Bobbi hat ein Tattoo auf dem Rücken und es hört nicht auf zu jaulen«, flüsterte ich zurück. »Sie weiß Bescheid, Fish, schon vergessen?«  

Fish schaute kurz zu Bobbi hinüber. Sie stand an den Bus gelehnt da und sah mich an, als wäre ich eine Maus und sie die Katze – eine Katze, die gern mit der Beute spielt, bevor es ans Fressen geht. Will junior stand ein kleines Stück hinter ihr, das Gesicht verzogen, als hätte er einen Witz gehört und wüsste nicht recht, ob er die Pointe kapiert hatte oder nicht. Bobbi schaute Fish nicht an, sie war zu sehr damit beschäftigt, ihren brennenden Blick auf mich zu richten.  

»Sag mir, was ich denke. Weißt du, was ich denke?«  

»Sag mir, was ich denke. Weißt du, was ich denke?«  

»Hör damit auf, Bobbi«, sagte Fish, eine geballte Faust erhoben, als Lester und Lill mit Samson in den Bus stiegen.  

»Womit soll ich aufhören?«, fragte Bobbi unbekümmert und katzenfreundlich.  

»Du weißt ganz genau, was ich meine«, sagte Fish und warf wütend seinen Burger auf den Boden. Eine Windbö wirbelte Bobbis Haare auf, und die Luft wurde heiß und feucht. Jetzt lehnte Bobbi sich nicht mehr an den Bus, sie stellte sich ganz gerade hin. Sie blinzelte, als sie durch das Licht der Straßenlaterne zu Fish schaute, spuckte auf ein paar Haarsträhnen, die sich in ihrem Kaugummi verfangen hatten, dann warf auch sie ihren Burger auf den Boden, als nähme sie die Herausforderung zum Kampf an.  

»Ich denke nur. Soll ich etwa aufhören zu denken?«  

Fishs nächste Bö war stärker, Bobbis Haare wurden ganz aus ihrem Gesicht geweht, die Kleider klebten ihr am Körper, als stünde sie mitten in einem Sturm. Will junior ging einen Schritt zurück und wandte sich ab, um seine Augen – und seinen Hamburger – zu schützen, als Fishs Wind Dreck und Steinchen von dem bröckelnden Straßenbelag aufwirbelte, direkt zu ihm und Bobbi hin. Plastikfolienfetzen flatterten über die Gasse wie eine Schar wilder, gespenstischer Schemen. Heftiger Regen prasselte aus dem Nichts herab, und als er gegen den Bus schlug, klang das wie Wasser aus einem Rasensprenger, das auf einen Metallzaun trifft.  

Fish stand jetzt vor mir, wie ein Schutzschirm zwischen mir und Will und Bobbi Meeks. Er hatte die Füße in den Boden gepflanzt und die Arme ausgestreckt wie ein Superheld aus einem Comic, seine Haare flatterten wie wild, während er es stürmen und regnen ließ, so gewaltig, dass der Bus wackelte und Bobbi rückwärts gegen Will fiel.  

Lester steckte den Kopf zur Bustür heraus, seine schräggekämmten Haare flatterten wie eine Einkaufstüte an einem Stacheldrahtzaun. Lester sah nur den wilden Wirrwarr eines aufkommenden Sturms. Er merkte gar nicht, dass Fish der Verursacher war und dass bei mir, die hinter Fish stand, kein einziges Haar verweht wurde und das Kleid kein bisschen flatterte; es war, als stünde ich in dem stillen, unbewegten Auge eines Zyklons.

Aber Bobbi und Will sahen alles und jetzt begriffen sie. Jetzt wussten sie alles, so todsicher wie nur was.  

Jetzt hatten Bobbi und Will nicht mehr den leisesten Zweifel, dass die Beaumont-Kinder anders waren. Dass die Beaumont-Kinder auf außergewöhnliche, verrückte Weise unnormal waren. Aber alles in allem und letzten Endes begriffen Bobbi und Will auch, dass die Beaumont-Kinder ziemlich erstaunlich waren.