18. Kapitel
»Komm, Mibs«, sagte Will ruhig, half mir auf und wischte mir den Dreck und die Steinchen von den Händen. »Wir gehen. Alle warten auf uns.« Er drehte mich von dem bewusstlosen Mann weg. Aber Will wusste nicht, was ich gehört hatte. Er wusste nicht, was ich gesehen hatte. Er konnte sich leichter abwenden als ich, er musste ja nicht zuhören. Ich war so schwach und wacklig auf den Beinen, dass es unvorstellbar schien wegzugehen. Doch als Will mich unbeholfen am Ellbogen fasste, ließ ich mich von ihm zum Lichtschein der Raststätte führen.
Die anderen warteten am Eingang. Lester hielt uns die Tür auf und wir gingen hinein. In der Raststätte war es rappelvoll, und ich musste die schmerzliche Erfahrung machen, dass Rocket voll danebengelegen hatte, als er sagte, Mädchen bekämen die stillen, freundlichen Schimmer. Lärm, Lärm, Lärm hatte ich bekommen; als ich die Raststätte betrat, war es das Gegenteil von still, und einige der Stimmen und Gedanken, die mir in den Ohren schrillten, waren alles andere als freundlich.
Als ich in die Raststätte voller tätowierter Biker und Trucker kam, war das, als hätte jemand in meinem Kopf Radio Gaga eingeschaltet – ein Radio mit Drehscheibe, das mit Zing und Pling von Sender zu Sender zu Sender zu Sender wechselt. Von der Begegnung mit dem Obdachlosen schwirrte mir immer noch der Kopf, und bei der erneuten Attacke der Gedanken und Gefühle und Fragen und Antworten all dieser fremden Leute wurde mir ganz übel.
Schwindel erfasste mich, der Raum wankte, und ich stolperte; ich legte mir vergeblich die Hände über die Ohren und versuchte mich auf den Beinen zu halten. Fish fasste mich an einer Seite, Will an der anderen, wütend starrten sie sich an, während sie mich beide stützten.
»Ach herrje …«, sagte Lester, steckte die Hände in die Hosentaschen und trat einen Schritt zurück, fallende Mädchen überforderten ihn offenbar.
»Alles klar, Schatz?«, fragte Lill und drehte sich hilfsbereit zu mir um. Sie achtete nicht auf die Frau in grünweißer Arbeitskleidung, die genauso aussah wie ihre eigene. Die andere Frau hatte rote Haare und schaute mürrisch drein, sie versuchte Kannen mit Kaffee und Wasser in Lills Richtung zu schieben und jammerte wie eine nasse Katze über Lills Zuspätkommen.
»Ich glaub, die lange Busfahrt ist meiner Schwester nicht bekommen«, sagte Fish nervös und hastig zu Lill. Fish versuchte Ausreden für mich und meinen Schimmer zu erfinden, obwohl er sich noch nicht ganz im Klaren war, wofür er da Ausreden erfand. Ich war ihm dankbar und schämte mich. Ich wusste, dass ich ihm alles erzählen musste: über die Stimmen und dass ich uns alle für nichts und wieder nichts in diesen Schlamassel geführt hatte.
»Hm, vielleicht sollte Mibs sich eine Weile im Hinterzimmer hinlegen«, sagte Lill. Mit schnellen langen Schritten, mit denen wir anderen nur hüpfenderweise mithalten konnten, führte sie uns an dem Geseier und Geschimpfe der Rothaarigen vorbei, an Tischen voller Gäste und ihren gellenden Gedanken. Lill führte uns an einer langen Theke entlang, an der Leute auf runden Hockern saßen, Zwiebelringe aßen und Kaffee tranken, und brachte uns zu einer Personaltür neben der Küche.
Wir fanden uns in einem engen Lagerraum wieder, in dem es nach Ketchup, sauren Gurken und Senf roch. Lill zog ihren Pulli aus und hängte ihn an eine Garderobe an der Innenseite der Tür. Die Wände waren vollgestellt mit Regalen, darin waren Brötchen, Mayonnaisegläser und riesige Dosen mit Bohnen und Tomaten; es erinnerte mich an unseren Keller damals in Mississippi und Oma Dollops Radiogläser. In der einzigen regallosen Ecke standen Aktenschränke, ein überladener Schreibtisch und ein durchgesessenes Sofa. Neben einer Hintertür mit der Aufschrift Notausgang lag ein Stapel Zeitungen auf dem Boden, und vor dem Sofa stand ein Couchtisch, der mit Krümeln und leeren Getränkedosen bedeckt war.
Auf einem der Aktenschränke befand sich ein kleiner Schwarzweißfernseher, dessen schiefe Antenne mit Schleifen aus zerknüllter Alufolie verziert war. Im Fernsehen liefen die Abendnachrichten mit armseligem, grieseligem Bild. Ein Nachrichtensprecher berichtete von irgendwo in Kansas, es ging um unerklärliche Stromausfälle und beschädigte elektrische Leitungen, die am Highway 81 entlangführten, fast durch ganz Kansas, bis nach Salina. Fish und ich tauschten wissende Blicke, wir waren uns ziemlich sicher, dass Rocket da seine Finger im Spiel hatte.
Lill stellte den kleinen Fernseher leiser und sagte zu Fish und Will, sie sollten mich auf das Sofa legen, doch ich machte eine Handbewegung, als wollte ich lästige summende Fliegen verscheuchen. Es half schon, einfach nur in dem Hinterzimmer zu sein. Mein Kopf tat immer noch furchtbar weh und mein Magen wollte wirbeln und springen und tanzen. Ich hörte immer noch all die Stimmen, aber hier im Lagerraum waren sie leise gestellt wie der Fernseher. Ich saß auf der Kante des zerschlissenen Sofas, starrte zu Boden und versuchte nicht hinzuhören – versuchte alle Geräusche, die in meinem Kopf und die draußen, zu einem endlosen, quälenden Dröhnen zusammenfließen zu lassen, während ich den Hoffnungen auf meinen Schimmer nachtrauerte – und denen für meinen Poppa.
»Sie braucht nur ein bisschen Abstand«, sagte Fish über das Stimmengewirr in meinem Kopf hinweg zu den anderen.
»Jetzt muss ich aber wirklich an die Arbeit«, sagte Lill entschuldigend und hakte sich bei Lester unter, der neben ihr stand. »Vielleicht hab ich heute Abend ja Glück, Leute. Ich hab den großen, allmächtigen Ozzie nicht gesehen, als wir reinkamen.« Sie klang erleichtert, lachte ihr kleines Lachen, stieß Lester mit der Hüfte an und warf ihn dabei fast um.
»Ozzie ist der Geschäftsführer, und wenn er sehen würde, dass ich jetzt erst komme, würde er mich fertigmachen. Mr Fish, am besten bleibst du hier bei deiner Schwester und ich sorge dafür, dass die anderen euch ruckizucki was zu essen bringen.« Fish nickte nur, ohne mich aus den Augen zu lassen. Lill zog Lester zurück ins Lokal; Bobbi und Will junior folgten ihnen. Will warf einen langen, besorgten Blick über seine Schulter, offenbar ließ er mich nicht gern allein. Ich schaute mich nach Samson um.
»Wo ist …?«, setzte ich an.
»Was weiß ich«, sagte Fish und zuckte die Achseln. »Du kennst doch Samson. Der taucht schon wieder auf.« Fish schob die leeren Getränkedosen beiseite und fegte ein paar Krümel weg, dann setzte er sich direkt vor mir auf den Couchtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Geduld war kurz vorm Zerreißen. »Schieß los.«
Fish wollte den ganzen Hokuspokus meines Schimmers wissen. Er wollte Einzelheiten. Und zwar sofort.
Um nicht in das grimmige Gesicht meines Bruders schauen zu müssen, starrte ich auf die undeutlichen Bilder in dem kleinen Fernseher; der Empfang war so schlecht, als wollte man durch Kohlensäureblasen hindurch fernsehen; der Ton war zu leise. Der Bericht über die Stromausfälle war zu Ende, der Nachrichtensprecher drehte sich hinter seinem Tisch in eine neue, noch dramatischere Position und guckte doppelt ernst. Über den unteren Bildschirmrand marschierte jetzt eine wacklige Telefonnummer, während der Nachrichtensprecher stumm die Lippen bewegte.
Ich wusste nicht recht, was ich Fish erzählen sollte. Ich war mir mit meinem Schimmer so sicher gewesen. Wäre ich nicht überzeugt gewesen, dass ich Poppa wieder nach Hause bringen konnte, zurück nach Kansaska-Nebransas, säßen wir in diesem Moment nicht im Lagerraum der Fernfahrer-Raststätte. Aber jetzt war es so klar wie Mommas Bloß-nicht-anfassen-Kristall, dass mein Schimmer etwas anderes mit mir vorhatte, und bei dem Gedanken, meinem Bruder davon erzählen zu müssen, war mir miserabel und mutlos zumute.
»Es ist die Tinte, Fish«, sagte ich schließlich und schaute immer noch lieber zu dem Schwarzweißschnee der Nachrichten als meinem Bruder in die Augen.
»Was für eine Tinte, Mibs?«, sagte Fish.
»Egal, glaub ich, sie braucht bloß bei jemandem auf der Haut zu sein.«
Fish schaute mich von der Seite an. »Weiter.«
Ich wusste nicht, wie ich es erklären sollte. Ich wollte nicht in meinem Kopf nach den richtigen Worten graben und dann versuchen sie wie Puzzleteile in die richtigen Sätze einzufügen. Es war zu anstrengend. Ich war müde und hungrig. Und jetzt, da ich wusste, dass es nichts, nichts, nichts gab, womit ich Poppa helfen konnte, wollte ich nur noch nach Hause. Nach Hause zu Opa Bomba und Gypsy. Zu dem Matsch, den Fishs Regen hinterlassen hatte. Ich wollte zum Hausunterricht, wollte in Einmachgläsern Moos züchten und lernen, wie ich mit diesem Schimmer umgehen und ihm seinen Platz zuweisen konnte.
»Erzähl es mir, Mibs«, verlangte Fish. Ich wandte den Blick von dem kleinen Fernseher, wo ein Reporter einen Mann und eine Frau interviewte, die durch die Grieselgraupeln eine leichte Ähnlichkeit mit Pastor Meeks und Miss Rosemary hatten. Ich schaute meinem Bruder in die Augen und seufzte wieder.
»Vielleicht ist es am einfachsten, wenn ich es dir zeige.« Ich holte den silbernen Stift, den Will junior mir zum Geburtstag geschenkt hatte, aus der Rocktasche. »Streck die Hand aus und denk an eine Zahl – irgendeine Zahl. Aber nimm eine schwierige.«
Fish zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen. »Was hast du vor, Mibs?«
»Es ist kein Hurrikan, Fish«, sagte ich ungeduldig. »Und kein Dynamit. Vertrau mir.« Steif streckte Fish mir die Hand entgegen, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Ich merkte, dass er wütend auf mich war – die Haare flogen mir aus dem Gesicht und die Zeitungen an der Tür raschelten und flatterten. Ich berührte Fishs Handfläche mit der Spitze des Stifts, dann hielt ich inne.
»Denkst du an eine Zahl?«, fragte ich streng. »Ich will nichts anderes hören, nur eine Zahl.« Das Letzte, was ich hören wollte, war das, was im Kopf meines Bruders vor sich ging. Ich schauderte. Igitt.
Fish kniff wieder die Augen zusammen und nickte, kurz und schroff. »Ich hab eine Zahl.«
»Dann denk einfach die ganze Zeit daran«, sagte ich und malte mit dem Stift schnell einen kleinen Kreis mit den Augen und dem Mund eines Smiley-Gesichts, das aber nicht so richtig lächelte. Der Mund verzog sich zu einer Fratze und die Augen zwinkerten zweimal.
»Zweitausendzweihundertzweiundzwanzigeinhalb … Zweitausendzweihundert…«
Schnell spuckte ich auf Fishs Hand und wischte das Gesicht weg, bevor Fishs Gedanken abschweifen konnten. Fish rührte sich nicht, er saß nur da und sah mich an, als wäre ich so eine quasselige Quacksalberin auf dem Jahrmarkt, die ihm aus der Hand liest und ihm erzählt, wie viele kreischende, krakeelende Kinder er später mal haben wird.
»Zweitausendzweihundertzweiundzwanzigeinhalb«, wiederholte ich. »Stimmt’s?«
Fish nickte nüchtern, er sah ernst, aber unerschüttert aus. »Du kannst hören, was ich denke?«
»Was du denkst und was du fühlst, glaub ich.«
»Dann kannst du also Gedanken lesen, oder was?« Eine Säuselstimme erhob sich aus dem dröhnenden Gebrüll und summte in meinem Kopf.
Da stand Bobbi in dem Lagerraum und sah so aus, als würde sie im nächsten Moment alle Plastikschälchen mit Hamburgern und Pommes fallen lassen, die sie trug.
»Dann kannst du also Gedanken lesen, oder was?«