25. Kapitel
Die Jungs gingen wieder rüber in ihr Zimmer, um die bunten Badeshorts anzuziehen, die Lill für sie ausgesucht hatte. Bobbi verschwand im Bad und nahm glücklich einen kirschroten Bikini mit. So schnell ich konnte, zog ich den lila Badeanzug an und war frustriert, weil er zu groß war, ganz gleich, was ich mit all den gelben Riemchen und Bändern anstellte.
Bis dahin hatte ich mich noch nie im Badeanzug geniert, aber zurzeit änderte sich in meinem Leben alles so schnell, dass ich gar nicht mitkam; ich fühlte mich ein bisschen verletzlich und kam mir pudelnackt vor in diesem Badeanzug, der einem älteren Mädchen besser gestanden hätte. Ich zog mir ein Schlabbershirt über den Kopf, und genau in dem Moment kam Bobbi heraus, hübsch und adrett und erwachsen in ihrem Bikini, den sie perfekt ausfüllte. Als sie mich ansah, zog sie die Nase kraus.
»Wozu das T-Shirt?«
»Der Badeanzug sitzt nicht so gut.«
»Lass mal sehen.«
Ich zog das T-Shirt aus, und Bobbi schnürte all die gelben Bänder neu. Als sie fertig war, saß der Badeanzug viel besser.
»Danke«, sagte ich schwach, obwohl es mir immer noch peinlich war, ohne T-Shirt zu gehen.
Bobbi zuckte die Achseln. »Gerne.« Wir verließen das Zimmer, wobei wir aufpassten, dass uns niemand sah, dann gesellten wir uns zu den Jungs im leeren Pool unten.
Es war heiß und feucht in dem Raum, der lindgrün gekachelt und mit staubigen künstlichen Bäumen und anderen Pflanzen bestückt war. Das Schwimmbecken war klein und nierenförmig, aber für uns vier war es genau richtig. Samson war nirgends zu sehen, aber deswegen machten wir uns keine Sorgen, wir hatten uns alle daran gewöhnt, dass er immer mal wieder verschwand.
Will war schon im Wasser, die nassen, tropfenden Haare hingen über seinem blauen Auge. Fish stand mit verschränkten Armen am Beckenrand und starrte ins Wasser, ein entschlossener Ausdruck ließ sein zerkratztes Gesicht härter erscheinen.
»Kommst du mit rein?«, fragte ich meinen Bruder vorsichtig und behielt Bobbis Engel im Auge, der auf ihrem Rücken zitterte; mit der einen Hand fasste er seinen spitzen Teufelsschwanz, mit der anderen griff er nach dem Heiligenschein, als Bobbi vor mir ins Wasser stieg. Fish lächelte sein großspuriges Bruderlächeln und nickte.
»Ich bin gut«, sagte er nur.
»Gut.«
»Kalt … k-kaaalt.« Das kalte Wasser überspülte das Bild des kleinen Engels, als Bobbi untertauchte, und die stockende Stimme in meinem Kopf wurde gedämpft und undeutlich.
Will junior hüpfte im Wasser hoch, packte mich am Handgelenk und zog mich hinein, mit einem Platsch landete ich neben ihm. Als ich den Kopf wieder über Wasser und mir die nassen Haare aus den Augen gestrichen hatte, war Wills Gesicht plötzlich ganz nah, während er mich unter Wasser immer noch leicht am Handgelenk hielt. Dann beugte er sich vor und seine Lippen berührten meine, schnell und unbeholfen, mit dem Geschmack von Chlor und Salz, als wäre er womöglich nur ausgerutscht und mit dem Gesicht versehentlich an meinem gelandet. Es ging so schnell, dass ich kaum Zeit hatte zu reagieren, als ein tanzender Wassertrichter Will voll an den Kopf klatschte.
Er ließ mein Handgelenk los, hustend und prustend, und versuchte sich davon zu erholen, dass er Wasser in die Nase bekommen hatte. Dann schaute er hoch zu Fish, der immer noch so trocken wie nur was am Beckenrand stand, die Arme vor der Brust verschränkt, ein selbstgefälliges, süffisantes Grinsen im Gesicht.
»Das brauchst du bei meiner Schwester gar nicht erst zu versuchen«, sagte Fish.
Erst dachte ich, Will würde wütend werden, und machte mich auf eine weitere Rauferei gefasst. Stattdessen schenkte er mir ein kurzes Banditenlächeln, dann machte er eine schnelle Bewegung auf Fish zu, schob mit den Händen einen Wasserschwall in Fishs Richtung und spritzte ihn nass.
»Bitte verrat mir«, sagte Will, »wie du das machst!«
Fish holte Luft, ganz tief, als müsste er die Furcht eines ganzen Jahres beiseiteschieben, dann sprang er mit einer fetten, spritzenden Arschbombe ins Wasser und die Jungs lieferten sich eine freundschaftliche, aber doch beängstigend heftige Wasserschlacht, allerdings hatte Fish dabei eindeutig die Oberhand. Ich war immer noch benommen von Wills schnellem salzig-süßem Kuss, hielt mich am Beckenrand fest und ließ mich im Wasser treiben; ich schaute zu, wie das Wasser um mich wogte und wallte, wenn die Wellen über die beiden Jungs schwappten und über den Rand spritzten. Die künstlichen Pflanzen, die in einer Reihe standen, raschelten in dem Luftzug mit ihren staubigen Blättern, und künstliche Birkenfeigen und Bergpalmen kippten in ihren Weidenkörben auf den nassen Boden. Doch Fish behielt alles einigermaßen im Griff und richtete keinen Schaden an.
Ich stellte mir vor, wie stolz Momma und Poppa und Opa Bomba sein würden, wenn sie erfuhren, dass Fish seinen Schimmer bezwungen und sich endlich durchgesetzt hatte, und ich fragte mich, ob Fish jetzt wohl wieder in Hebron zur Schule gehen konnte, wenn er wollte – würde Rocket dann nicht grün und gelb werden vor Neid? Wahrscheinlich wäre er so sauer, dass wir eine Woche ohne Strom dastünden.
Als die Wasserschlacht ausartete, zog Bobbi mich in ruhigeres Wasser am flachen Ende des Beckens, und wir setzten uns beide auf die Stufen, halb im Wasser, halb draußen, ein Auge immer an der Tür, während wir zuschauten, wie unsere Brüder sich gegenseitig fast ertränkten, und das wieder und wieder. Die Stimme von Bobbis Engel in meinem Kopf war immer gedämpfter und abgehackter geworden, stiller und stiller in dem lärmigen, hallenden Pool. Hin und wieder schickte Will junior ein Lächeln zu mir herüber, aber ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich zurücklächeln oder lieber im Wasser versinken wollte.
»Will mag dich sehr gern«, sagte Bobbi, den Blick immer noch auf die Jungs gerichtet. »Ich glaube, er mochte dich schon, als du das allererste Mal in unsere Kirche gekommen bist.« Obwohl das für mich nichts Neues war, wurde mein Gesicht heißrosa; als Bobbi es laut aussprach, fühlte ich mich unbeholfen, zu jung und gleichzeitig zu alt.
Ich dachte daran, wie Poppa mir das Festtagskleid geschenkt hatte, ein paar Tage war das erst her.
»Ich dachte mir, mein kleines Mädchen hat zu ihrem besonderen Geburtstag etwas Schönes, Neues verdient«, hatte er gesagt. Poppa nannte mich immer, immer sein kleines Mädchen. Aber so ein kleines Mädchen war ich gar nicht mehr. Das wusste ich jetzt, so sicher wie nur was.
»Und, magst du Will auch?«, wollte Bobbi wissen.
In meinem Innern wurde es ganz waberig und ich merkte, wie meine Gesichtsfarbe von Rosa zu Rot wechselte. »Weiß nicht«, sagte ich mit einem Achselzucken, nach dem meine Schultern fünf Zentimeter höher saßen als vorher, mein Kopf war eingezogen wie der von Samsons doch-nicht-toter Schildkröte. »Kann sein.«
Bobbi schaute mich an, und zu meiner Überraschung lächelte sie. Es war nicht ihr übliches spöttisches Grinsen oder das schnelle, blitzartige verstohlene Lächeln, das ihr im Motelzimmer entwischt war. Nein, dieses spezielle Lächeln war das frohe, nachklingende Lächeln, das eine Freundin der anderen schenkt, wenn die es richtig nötig hat.
»Ist schon gut«, sagte Bobbi. »Keine Panik. Hör auf mich, lass dir Zeit.« Das klang komisch aus Bobbis Mund, die mit ihren sechzehn Jahren so wirkte, als könnte sie es gar nicht abwarten. Wie um das noch mehr zu betonen, stieß Bobbi einen kurzen, sehnsüchtigen Seufzer aus und schnippte mit einem Finger auf die Wasseroberfläche. »Echt schade, dass Rocket nicht hier ist. Jedes Mal, wenn er in die Kirche kommt, ist so ein Prickeln im ganzen Raum. Ich wette, es würde Spaß machen, ihn zu küssen.«
Ich schaute auf Bobbis gepiercte Augenbraue und ihren kirschroten Bikini und versuchte mir vorzustellen, wie sie meinen Bruder küsste, mit Funken und allem Drum und Dran.
»Warum hast du es denn so eilig?«, fragte ich.
Bobbi schnaubte. »Du kannst doch Gedanken lesen. Also sag’s mir.«
Ich konzentrierte mich auf Bobbi und lauschte. Ich versuchte zu hören, was sie dachte, versuchte die Stimme ihres Tattoo-Engels in meinem Kopf zu hören, aber er war still … verschwunden. Ich hörte nur das lautstarke Plitsch-Platsch des Wassers und das Lachen der Jungs, das von den Wänden widerhallte.
»Es geht nicht«, sagte ich nach einer Weile. »I-ich weiß nicht, warum.« Dann dachte ich an das Allererste, was die Singsangstimme zu mir gesagt hatte. Es war erst ein paar Stunden her, in der Kirchenküche in Hebron, auch wenn es sich anfühlte, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen.
Sie ist wirklich sehr einsam, weißt du …
»Ist es schwer, die Tochter des Pastors zu sein?«, fragte ich nach kurzem Überlegen.
Bobbi sah mich scharf an. »Wie meinst du das?«
»Na ja, wahrscheinlich erwartet alle Welt von dir, dass du so perfekt bist wie nur was, obwohl du bestimmt auch mal genauso Mist bauen willst wie jeder andere auch«, sagte ich und dachte an Momma und ihren Schimmer. »Ich kann mir vorstellen, dass man sich da manchmal ganz schön einsam fühlt.« Bobbi sagte nichts, also fuhr ich fort, etwas forscher jetzt, ich ließ die Schultern ein wenig sinken und streckte den Kopf aus dem Panzer. »Vielleicht hast du es deshalb so eilig und stößt die anderen weg. Vielleicht hast du keine Lust, das vollkommene Vorbild zu sein.«
»Du hattest doch grad noch gesagt, du könntest meine Gedanken jetzt nicht lesen«, sagte Bobbi, zog auf der Treppe des Schwimmbeckens die Knie an die Brust und umschlang sie fest mit den Armen.
»Och, ich rate einfach nur. Dein kleiner Engel ist grad nicht so gesprächig. Vielleicht liegt es am Wasser.«
»Mein Engel?« Bobbi sah mich forschend an.
»Dein Tattoo«, sagte ich. »Der Engel mit dem Teufelsschwanz. Das Tattoo auf deinem Rücken. So kann ich Gedanken hören – es geht nur mit einer Zeichnung.«
»Willst du mir sagen, du kannst meine Gedanken lesen, weil ich mir heute Morgen dieses abwaschbare Tattoo draufgemacht hab?«
»Abwaschbar?«, wiederholte ich.
»Öh … ja. Dachtest du, das wär echt?« Bobbi stand auf und drehte sich herum, sie versuchte das Tattoo zu sehen, ohne Erfolg. Als ich hinschaute, sah ich zu meiner Überraschung nur ein paar Farbtupfer auf ihrer Haut, wo der Engel gewesen war, die Überreste des Bildchens, das vom Wasser und von den Chemikalien im Schwimmbecken abgewaschen worden war. Einen Augenblick lang war ich fast traurig, als mir klarwurde, dass die kurzlebige Stimme des Engels für immer verschwunden war. Aber vor allem war ich erleichtert. Erleichtert darüber, dass ich Bobbi jetzt auf ganz normale Weise kennenlernen konnte, oder überhaupt nicht, wenn wir nicht wollten.
Bobbi setzte sich wieder neben mich auf die Stufen ins Wasser und seufzte. »Mibs, hast du auch manchmal das Gefühl, dass dein Leben nur ein verrückter Traum ist, aus dem du eines Tages aufwachen wirst, um festzustellen, dass du eigentlich jemand ganz anderes bist?« Bobbi ließ sich eine Stufe tiefer gleiten, bis ihr das Wasser bis über den Mund ging, fast bis zur Nase. Sie stieß kleine Luftblasen aus und schloss die Augen. Wir ließen uns im Wasser, das von der Wasserschlacht der Jungs aufgewühlt war, auf und ab treiben.
Ich dachte lange über ihre Frage nach. Ich merkte, wie meine Haare langsam trockneten und meine Fingerspitzen und Zehen schrumplig wurden. Hätte jemand das Gleiche gestern zu mir gesagt, hätte ich vielleicht nur die Achseln gezuckt. Aber an einem Tag kann sich viel verändern. Sehr viel.