36. Kapitel
Im ersten Moment sah Poppa noch nicht mal aus wie Poppa. Er hatte einen Verband rund um den kahlen Kopf gewickelt. Er hatte Drähte und Schläuche und Apparate, die ihm bei allem halfen, und sein Gesicht war bleich und eingefallen. Wir fassten einander bei den Händen und traten näher an Poppas Bett heran. Er hatte einen Schlauch in einem Arm und eine Blutdruckmanschette an dem anderen. Am ganzen Körper war er an Drähte und Sensoren angeschlossen und sein Zeigefinger sah aus, als ob eine dicke fette Wäscheklammer daran klemmte. Poppas Arme schauten unter der Decke hervor; seine Handflächen zeigten wie hilfesuchend nach oben.
Ich kam mir vor, als hätte ich das Atmen verlernt. Der normale, einfache Akt, die Lungen zu füllen und wieder zu leeren, war auf einmal das Schwerste, was ich je getan hatte. Ich hatte Angst zu schlucken, denn ich wusste, dass ich damit die Tränenflut auslösen würde, die hinter meinen Augen brannte.
Opa Bomba kämpfte mit dem Deckel des Einmachglases in seinen alten Händen, seine knotigen Finger bekamen ihn nicht richtig in den Griff, als er das Glas öffnen wollte. Sanft nahm Rocket es ihm aus den Händen und klopfte ein- oder zweimal vorsichtig mit dem Deckel an den Nachttisch. Dann schraubte er den Deckel eine halbe Drehung auf, und Mommas und Poppas endloses Liebeslied strömte laut ins Zimmer. Momma nahm Rocket das Glas ab und schraubte den Deckel eine Vierteldrehung zu, um die Musik etwas leiser zu stellen, damit die Schwestern nicht hereinkamen und uns zur Ruhe ermahnten. Doch ihre Hände zitterten dabei.
Ich strich mit den Fingerknöcheln sacht über Poppas Kinn und fühlte seine Bartstoppeln, dann ließ ich die Hand zu seinem Arm sinken. Mit zitternder Hand fuhr ich leicht über Poppas Arm und hielt mit einem Finger an der Innenseite seines Handgelenks inne, als wollte ich seinen Puls fühlen. Da musste ich unweigerlich an den Obdachlosen an dem Müllcontainer hinter der Fernfahrer-Raststätte von Emerald denken. Der Mann hatte auch geschlafen. Hatte geschlafen und war ganz allein gewesen. Ohne jede Hoffnung. Er hatte niemanden gehabt, der ihm Lieder vorspielte, der zuhörte, sich um ihn kümmerte. Doch Poppa hatte uns alle, und wir würden ihn nie aufgeben.
»Mibs«, sagte Fish, so leise, dass ich es kaum hörte. Ich schaute ihn an, und er tippte sich vielsagend auf den Unterarm, dann machte er eine Kopfbewegung zu Poppa. »Die Meerjungfrau, Mibs«, flüsterte er. »Was ist mit der Meerjungfrau?« Da schaute auch Samson mich an, die dunklen Augen groß und rund.
Ich konnte es gar nicht fassen, dass ich das vergessen hatte. Wie konnte ich Poppas verblichenes Tattoo aus der Navy-Zeit vergessen? Wie konnte ich die Meerjungfrau vergessen?
Ganz sanft, um nicht gegen irgendwelche wichtigen Schläuche oder Drähte zu stoßen, drehte ich Poppas Arm herum. Da war sie, um ihren Anker geschlungen, und blinzelte unter den Haaren auf Poppas Arm hervor. Doch zu meinem Entsetzen sah sogar Poppas Tattoo leblos aus, als wäre die langhaarige Meerjungfrau einem Schiffswrack ausgewichen und an Land gespült worden.
Ich lauschte angestrengt auf die Stimme der Meerjungfrau in meinem Kopf. Mit der Fingerspitze zeichnete ich ihren langen grünen Schwanz nach. Ich machte die Augen fest zu und versuchte zu hören, was Poppa vielleicht dachte, was er fühlte, was er träumte, wünschte, wusste. Ich lauschte und lauschte und lauschte.
Doch da war nichts. Keine Stimmen in meinem Kopf. Überhaupt kein Poppa. Ich hörte das Klirren von Metall an Glas, als Fish, das Gesicht verkniffen, weil er gegen die Tränen ankämpfte, die Hand ausstreckte, um den Deckel von Oma Dollops Glas ganz zuzudrehen und das endlose Liebeslied zum Schweigen zu bringen; ich war mir nicht sicher, ob er das Glas zuschraubte, damit ich Poppa besser hören konnte, oder ob er es tat, damit uns nicht das Herz brach. Ohne das Lied war der Raum so von Stille erfüllt, dass ich mir kaputt und dunkel vorkam wie Rockets geplatzte Glühbirnen.
Da merkte ich, dass Fish und Samson mich immer noch ansahen, sie atmeten kaum. Sie sahen mir beim Lauschen zu. Sie wollten wissen, was ich hörte – wollten wissen, was die Meerjungfrau über Poppa zu sagen hatte und wann er aufwachen wollte. Momma und Rocket wussten noch nichts über mich und die Tinte auf der Haut und die Gefühle und Gedanken und das Lauschen, und vielleicht war es nicht der beste Moment, ihnen davon zu erzählen, denn es konnte nicht gut sein, dass ich nichts hörte – überhaupt nicht gut. Fish und Samson wussten Bescheid. Sie wussten Bescheid und sie sahen mich an, um möglichst viel zu erfahren.
Langsam schüttelte ich den Kopf.
Ohne eine Bö oder eine Brise machte Fish kehrt und ging aus dem Zimmer.
»Fish?« Besorgt folgte Momma ihm in den Flur, sie nahm Gypsy mit, als sie ging, um nach Fish zu sehen. Rocket versuchte Samson zu trösten, aber Samson stand wie versteinert an Poppas Bett.
Es war unvorstellbar, dass ein ganzes Zimmer voller beaumontschem Spezialwissen unserem Poppa nicht helfen konnte. Ich konnte nur sinnlos lauschen. Und das tat ich. Ich lauschte, bis mir die Ohren klingelten von dem leisen Piepen und Rauschen und Summen und Brummen der Apparate um Poppa herum. Ich lauschte, bis mir der Kopf wehtat und meine Augen brannten von all den Tränen, die ich, leer wie ich war, nicht weinen konnte.
Rocket beobachtete mich und Samson genau, er passte für Momma auf uns auf, während sie mit Fish und Gypsy auf dem Flur war. Opa Bomba sank am Fußende von Poppas Bett auf einen Stuhl nieder, er sah verloren aus und älter als alt.
Dann beugte ich mich unendlich vorsichtig über Poppas Bett und flüsterte ihm ins Ohr: »Hör mir mal zu, Poppa. Jetzt musst du meine Stimme in deinem Kopf hören. Du denkst vielleicht, du hättest keinen Schimmer, Poppa, aber das stimmt nicht. Du hast einen Schimmer. Wirklich.« Ich dachte wieder an alles, was ich über Poppa wusste. Ich dachte an die Geschichte, wie er Momma kennengelernt und um sie geworben hatte, wie er nicht aufgegeben hatte, bis sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte, selbst nachdem Tante Dinah ihm gesagt hatte, er solle abhauen. Ich dachte an die weltgrößte Verandaschaukel und wie Poppa immer geschworen hatte, uns eines Tages eine eigene zu bauen. Ich dachte daran, wie Poppa spät von der Arbeit nach Hause gekommen war, weil er entschlossen gewesen war, das allerschönste Festtagskleid auszusuchen, das er finden konnte.
»Du hast einen Schimmer, Poppa. Wirklich«, sagte ich immer wieder in sein Ohr. »Du gibst nie auf, Poppa, niemals. Das ist dein Schimmer. Dass du nie, nie aufgibst.«
Ich schloss die Augen und wünschte mir etwas, in meiner Vorstellung war es ein verspäteter Geburtstagswunsch. Ich wünschte mir, Poppa könnte mich hören. Ich wünschte mir, Poppa würde lauschen. Dann beugte ich mich hinunter und küsste ihn auf die Stirn.
»… aufgeben«, sagte eine Stimme in meinem Kopf, ganz, ganz schwach.
Ich schlug die Augen auf. Samsons Hand ruhte leicht auf Poppas Schulter.
»… nicht … aufgeben.« Da war die Stimme wieder, ein klein wenig lauter jetzt.
Ich schaute Samson an. Ich wusste nicht, ob ich meinen kleinen Bruder je hatte weinen sehen, er hatte immer alles so gut verborgen, aber jetzt weinte er, ohne ein Schluchzen, ohne einen Ton. Die größten, leisesten Tränen glitten über Samsons Gesicht und fielen auf Poppas Brust, fielen wie Fishs Regen.
Vielleicht lag es an Samson oder an meinen Worten oder an meinem Wunsch … oder es war ein Wunder. Oder vielleicht war es bei Poppa genauso wie bei Samsons toter Schildkröte, vielleicht tat die Natur nur das ihre und jetzt war es für Poppa einfach Zeit, gesund zu werden und aufzuwachen. Wir würden es nie genau erfahren. Selbst wenn man einen Schimmer hat, bleibt manches für immer ein Geheimnis.
»… nicht aufgeben.«
Die Meerjungfrau zitterte und raschelte ganz leicht mit dem Schwanz, als wäre die Anstrengung beinahe zu groß.
»Ich werde nicht aufgeben«, sagte die Stimme in meinem Kopf jetzt lauter.
»Poppa!«, rief ich, jetzt war ich mir sicher, dass es nicht nur meine Hoffnung war. Die Stimme kam von Poppa und der Meerjungfrau. »Poppa, genau! Du gibst nicht auf! Poppa, kannst du mich hören? Ich bin’s, Mibs!«
Rocket legte mir die Hände auf die Schultern und versuchte mich zum Schweigen zu bringen, aber ich schüttelte ihn ab. Opa erhob sich mit ernster Miene von seinem Stuhl.
»Poppa! Kannst du mich hören? Gib nicht auf!«, rief ich wieder.
»Mibs, hör auf so zu schreien!«, sagte Rocket. »Wir sind hier in einem Krankenhaus.«
»Er hört mich, Rocket! Ich weiß es. Und ich höre ihn auch.«
»Mibs, Poppa ist noch nicht mal bei Bewusstsein.« Jetzt wurde Rocket auch lauter, er klang müde und gereizt. Aber ich achtete nicht auf ihn und schrie Poppa weiter ins Ohr.
»Mibs!«, rief Rocket und versuchte wieder mich von Poppa wegzuziehen.
Ohne Vorwarnung drehten sämtliche der brummenden, surrenden, rauschenden Apparate und Monitore durch. Lämpchen blinkten und der Alarm ging los. Die Geräte sprühten Funken und das Auf und Ab der Kurve auf Poppas Herzüberwachungsgerät wurde mit einem einzigen grauenhaften Ton zu einer geraden Linie.
Rocket wurde kalkweiß. Entsetzen verzerrte sein Gesicht, er ging rückwärts aus dem Zimmer und stieß dabei gegen Fish und Momma, die den Tumult gehört hatten und jetzt angerannt kamen. Hinter ihnen kam die Schwester mit dem Regenbogenkittel.
»Alle verlassen auf der Stelle das Zimmer«, sagte die Schwester.
»Nein!«, rief ich. »Poppa braucht mich! Ich höre ihn!«
»Mibs, bitte …«, sagte Momma.
Ich konnte mich nicht wegschicken lassen. Ich musste bleiben und Poppa zuhören. Ich musste ihm sagen, dass es Zeit war aufzuwachen und dass ich dann bei ihm sein würde. Ich senkte die Stimme und beugte mich wieder dicht an Poppas Ohr, hielt mich an seinem Bett fest und ignorierte alle, die mich wegziehen wollten.
»Du bist mein lieber, guter Poppa und jetzt ist es Zeit, dass du aufwachst und nach Hause kommst. Du musst nach Hause kommen und uns die Verandaschaukel bauen, damit wir zusammensitzen und nachdenken und den vorüberziehenden Wolken zuschauen können. Dann kann ich dir alles erzählen von Bussen und Küssen und Stimmen und was du sonst noch alles verschlafen hast. Gib nicht auf, Poppa. Gib nicht auf!«
Weitere Schwestern stürmten ins Zimmer und ein Krankenpfleger versuchte vergeblich meine Finger von Poppas Bett zu lösen, während sich ein Arzt durch die Menge schob, um Poppas Herz zu untersuchen.
»Mibs?«
»Ja! Poppa! Ich bin da!« Ich drückte Poppas Hand. Er hörte mich. Poppa wusste, dass ich da war.
»Mibs?«
»Ich höre dich, Poppa. Ich bin’s, Mibs. Dein kleines …«
Ich hielt inne, bevor ich kleines Mädchen sagen konnte. Ich fühlte mich nicht mehr wie ein kleines Mädchen. Ich war keins mehr.
»Poppa, ich bin’s, Mibs. Ich bin da.«
Poppas Finger zuckten und seine Augen gingen flatternd auf, der Arzt lächelte und Momma schrie auf. Rocket verschluckte sich an seinen Tränen und Fish juchzte und jubelte. Ich spürte Samsons Hand in meiner, und ich wusste – so sicher wie nur was –, dass alles – alles – wieder gut werden würde.