24. Kapitel

 

»Wenn ich bis morgen die Verantwortung für euch habe, gehe ich am besten erst mal einkaufen.« Lill war so glücklich in dem Glauben, mit unseren Eltern wäre alles geklärt, dass sie fünf Jahre jünger und zehn Zentimeter größer aussah. »Hat einer von euch Lust, mit mir über die Straße zu gehen? Als wir kamen, hab ich einen Super-Supermarkt gesehen, und ich hab noch ein bisschen Geld übrig.« Wir schüttelten alle den Kopf und sagten nichts. Lieber nicht nach draußen, dachte ich. Schließlich suchten sie immer noch nach uns.  

»Keiner?«, sagte Lill mit ihrer kleinen Stimme. »Na gut. Dann wartet hier und seht fern, bis ich wieder da bin.« Lill wollte die Fernbedienung von dem Tisch neben dem Telefon nehmen, aber Fish sprang auf und kam ihr zuvor. Warum sagen die Erwachsenen den Kindern immer, sie sollen fernsehen, als hätten wir nichts Besseres zu tun?  

»Hab sie schon«, sagte Fish, hielt die Fernbedienung hoch und lächelte ein schiefes Fish-Lächeln. Lill schaute uns alle vier an, wir hatten uns auf den Betten und Stühlen ausgestreckt.  

»Wo ist …?«  

»Samson geht’s gut«, sagte Fish, bevor sie fragen konnte. »Er ist in dem anderen Zimmer. Uns geht’s gut. Sie können einkaufen gehen – wir kommen schon klar.« Noch ein Lächeln.  

»Na dann, also schön«, sagte Lill ein wenig unsicher. Bevor sie das Zimmer verließ, drehte sie sich noch einmal nach uns um, als wäre da noch ein kleines nagendes Misstrauen. »Ich bin ruck, zuck wieder da – spätestens in zwanzig oder dreißig Minuten.«  

Kaum war Lill aus der Tür, schnappten wir nach Luft, als hätten wir seit unserer Ankunft im Motel nicht mehr geatmet.  

»Ich fass es nicht, dass das geklappt hat«, sagte Bobbi.  

»Erinnere mich dran, dass ich Mutter nie verrate, dass du das kannst«, sagte Will.  

»Wir haben ein größeres Problem«, sagte Fish und machte unseren kleinen Augenblick des Triumphs zunichte, indem er den Fernseher einschaltete und bis zu einem regionalen Nachrichtensender durchzappte. Es dauerte keine Minute, da flimmerten unsere Fotos über den Bildschirm, und über den unteren Rand liefen die Worte ACHTUNG! VERMISST! ACHTUNG!, genau wie Fish und ich es auf dem kleinen Fernseher in Emerald gesehen hatten.  

»Das ist ja wohl ein Witz«, sagte Bobbi, die, ebenso wie Will, die Nachrichten in der Raststätte nicht gesehen hatte.  

Mit offenem Mund starrte jetzt auch Will auf den Bildschirm. Mit schicksalsergebener, unglücklicher Miene warf Fish die Fernbedienung von einer Hand in die andere wie eine heiße Kartoffel.  

»Mann, jetzt sitzen wir aber in der Klemme«, sagte Will, schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf, als sein eigenes Konterfei im Fernsehen aufblitzte. »Vielleicht hätten wir echt zu Hause anrufen sollen.«  

»Besser nicht«, sagte Bobbi. »Oder willst du etwa, dass die Polizei heute Nacht hier einfällt? Wenn wir zu Hause angerufen hätten, dann hätte Mutter den großen Bruder angerufen und der wär schneller hier gewesen, als du gucken kannst – und mit ihm alle anderen Polizisten von hier bis Topeka. Was glaubst du, was dann mit Lester und Lill passieren würde? Sie würden riesigen Ärger kriegen.«  

Mit einer ruckartigen Bewegung wandte Will den Kopf.  

»Bill spielt ja gern den Beschützer«, fuhr Bobbi fort.  

»Der wird ausrasten«, sagte Will, und zum ersten Mal auf der ganzen Reise sah er so richtig unglücklich aus.  

»Schsch!« Mit einer heftigen, gezielten Windbö brachte Fish alle zum Schweigen, und für einen Moment sah er ziemlich zufrieden mit sich aus. Dann stellte er den Fernseher lauter.  

»… wie aus dem näheren Umfeld der Familie zu erfahren war, gehört der Vater von drei der vermissten Kinder zu den Opfern der Massenkarambolage, die sich am letzten Donnerstag auf dem Highway 81 bei Salina, Kansas, ereignet hat. Der Mann erlitt schwere Verletzungen und befindet sich im Salina Hope Hospital. Er ist nach wie vor ohne Bewusstsein und sein Zustand ist weiterhin kritisch.«  

Ich ließ mich rückwärts auf die geblümte Tagesdecke fallen und schlug die Hände vors Gesicht.  

»Es wird alles gut«, säuselte eine Stimme in meinem Kopf.  

Ich schaute zu Bobbi, die mit festem Blick zurückschaute. Sie nickte einmal kurz.  

»Es wird alles gut«, wiederholte der Engel. Bobbi lächelte ein kurzes, freundliches Lächeln – es war da und wieder weg wie einer von Rockets Funkenblitzen.  

Bobbi stand auf und schaltete den Fernseher ab. »Der bleibt jetzt aus«, sagte sie und schaute von mir zu Will zu Fish. Wir nickten alle und schauten zu, wie Bobbi sicherheitshalber den Stecker herauszog.  

»Es wird alles gut«, sagte Bobbi laut zu uns allen.  

Fast eine Stunde später kam Lill zurück mit einem Lächeln, das beinahe groß genug für ihren Körper war, und mehreren Tüten vom Super-Supermarkt. Sie kippte den Inhalt auf dem nächstgelegenen Bett aus.  

»Heute ist euer Glückstag, Kinder«, sagte sie, als wir den Haufen durchwühlten, verblüfft darüber, wie viel sie gekauft hatte. Da war ein Berg von Schokoriegeln, T-Shirts, Chips, Lipgloss in Rosa und Rot, Poptarts, Spielkarten, Zeitschriften, Wattestäbchen, Nagellack, Buntstifte, Isolierband, ein neuer Verbandskasten, ein sauberer neuer Schlips für Lester, eine Slinky-Spirale, sieben Zahnbürsten, zwei Meter Erdbeer-Bubble-Tape für Bobbi, fünf Paar Flipflops, vier Deostifte, eine Packung Kämme, Zookekse, Unterwäsche und Schwimmzeug.  

Lill lachte. »Ich hab einfach immer weiter eingekauft, bis ich sicher war, dass ich jeden Dollar ausgegeben hatte, den ich bei Ozzie vom Boden aufheben musste. Das Geld war zu schmutzig, um sein Herz daran zu hängen, genau wie der ganze Laden.« Sie warf Fish Badeshorts zu. »Die Größen musste ich raten, kann also sein, dass sie nicht hundertprozentig passen.«  

»Können wir schwimmen gehen?«, fragte ich und hielt einen lila Badeanzug mit gelben Trägern hoch, der fast genau richtig für mich aussah.  

»Kinder und Schwimmbäder … das ist doch wie Vögel und der Himmel, oder?«, sagte Lill. »Außerdem brauchen auch böse Kinder ab und zu mal ein bisschen Spaß.«  

Sprachlos starrten wir Lill an.  

»Na macht schon«, sie lachte wieder. »Starrt mich nicht so an, als wär ich gerade vom Himmel gefallen, zieht euch lieber um. Wozu soll ein Pool gut sein, wenn keine Kinder drin sind? Ich geh mal raus zum Bus und sehe nach Lester; ich hab da eine Idee, wie er die rosa Bibeln an den Mann bringen kann. Ich glaube, er braucht einen neuen Ansatz. Lester muss nur etwas mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten haben.« Sie wedelte mit dem Isolierband herum. »Außerdem braucht er jemanden, der ihm hilft die kaputten Fenster in seinem Bus zu reparieren.«  

Lill schob sich die Rolle Isolierband über die Hand wie einen dicken silbernen Armreif und nahm den neuen Schlips, der nicht rosa war, sondern blau mit grünen Streifen. Sie glättete den seidigen Schlips mit den Fingern und lächelte in sich hinein; Lester war nicht der Einzige, der seinen Charme spielen ließ. Vielleicht hatte dieses Riesenchaos, das ich angerichtet hatte, am Ende ja doch noch sein Gutes.