28. Kapitel
Nach Wymore fuhren wir weiter Richtung Süden, ließen Nebraska hinter uns und fanden uns auf der anderen Seite von Kansas wieder, immer noch meilenweit von Salina entfernt. Alles Bitten und Betteln der Beaumonts half nichts; Lester bestand darauf, noch einen letzten Umweg zu machen. Also aßen wir Poptarts und Chips und Schokoriegel vom Super-Supermarkt und sahen die Landschaft an uns vorbeirauschen und versuchten nicht an Poppa zu denken, der schwer verletzt im Krankenhaus lag, versuchten nicht an das Schlimmste zu denken.
Wir befanden uns gerade nördlich von Manhattan, als eine Sirene hinter uns heulte und Lichter aufflackerten. Wir Kinder waren sofort gespannt wie Sprungfedern, duckten uns und zogen die Köpfe ein, als Lester zusammen mit den anderen Sonntagsreisenden so weit wie möglich rechts fuhr. Wir waren unendlich erleichtert, als wir sahen, wie ein weißblaues Polizeiauto an uns vorbeisauste und wir begriffen, dass es nicht – ACHTUNG! VERMISST! ACHTUNG! – hinter uns her war. Lill und Lester merkten so gut wie gar nichts, weil sie dermaßen mit sich selbst beschäftigt waren.
Bald darauf folgte Lester einer langgestreckten Kurve auf dem Highway, Fish stand auf, ging nach vorn und blieb knapp hinter der gelben Linie stehen, die auf den Boden gemalt war. Er schaute zur Windschutzscheibe hinaus auf die Straße und umfasste die Lehne von Lesters Sitz so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Ich erhob mich von meinem Platz neben Will, quetschte mich an ihm vorbei und ging zu Fish. Irgendwas war los, so sicher wie nur was.
»Fish, was ist?«, fragte ich ihn über das Dröhnen des Busses hinweg. Die anderen schauten jetzt neugierig zu uns hin.
»Ich rieche Wasser«, sagte Fish. »Viel Wasser.« Ich warf Lill neben uns einen schnellen Blick zu, sie schaute uns fragend an. Auch Lester wandte den Kopf.
»Du hast eine g-gute Nase«, sagte er zu Fish. »Wir sind nicht weit vom Tuttle Creek Lake entfernt. Das ist ein g-ganz ordentliches G-Gewässer, das kann man sagen.«
Ich legte Fish eine Hand auf die Schulter. »Du kannst es doch jetzt, Fish«, erinnerte ich ihn leise. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen … oder? Du hast es im Griff. Du hast es lasiert.«
Zu jedem meiner Sätze nickte Fish einmal kräftig, als würde er sie mit dem Kinn unterstreichen.
»Du bist gut«, sagte ich ihm. »Das hast du mir am Pool selbst gesagt, weißt du noch? Es ist nur Wasser.«
Wieder ein Nicken.
»Ich bin gut«, stimmte er schließlich zu, und der Griff seiner Hand an Lesters Sitz lockerte sich. Ich wusste, dass Fish trotz seines neugewonnenen Selbstvertrauens noch lange, lange Zeit von der Erinnerung an den mordsmäßigen Orkan zu seinem dreizehnten Geburtstag verfolgt werden würde. So etwas konnte man niemals richtig vergessen.
»Jetzt sind wir fast da«, sagte Lester. »Carlene wohnt gleich da vorn. Sobald ich meine Sch-Schulden bei ihr beglichen habe, können wir weiter nach Salina. Nicht mehr lange, dann seid ihr alle b-bei eurer Familie.«
»Carlene? Doch nicht Carlene!«, jammerte ich, ehe ich mich zurückhalten konnte. Vor Schreck scherte Lester auf die Gegenspur aus und wäre um ein Haar in einen hupenden Pick-up gerast, als er sich umdrehte und mich merkwürdig ansah.
»Was weißt du denn über Carlene, Fräulein?«, fragte Lester verdutzt. »Ich w-wüsste nicht, dass ich sie mal erwähnt hätte. Carlenes Cousin Larry gehört der Heartland-Bibel-Lieferdienst. Sie hat mir zu dem Job verholfen.«
»Es ist nur … ich … haben Sie nicht Carlene auf dem Arm tätowiert?«, sagte ich schnell und versuchte den Patzer wiedergutzumachen. Ich stieß Fish mit dem Ellbogen in die Rippen. Mein Bruder machte große Augen, als ihm klarwurde, dass ich Sachen über Lester gehört hatte, von denen sonst niemand wusste, und er versuchte mir zu helfen.
»Stimmt, Sie haben Tattoos auf beiden Armen, oder?«
»Hm, ja, das ist lange her«, murmelte Lester und versuchte die Hemdsärmel über die Tattoos herunterzukrempeln und zuzuknöpfen, während er fuhr. Seine rechte Schulter begann auf und ab zu zucken, als versuchte er, einen hartnäckigen Vogel oder eine Biene davon abzuhalten, auf seiner Schulter zu landen. Lill wandte den Blick von ihm ab und starrte auf ihre Schuhe.
»Was macht Lester denn immer noch mit diesen blöden Kindern.« Wie Essig strömte Rhondas Stimme wieder in meinen Kopf.
»Er ist einfach zu dämlich, das ist das Problem«, mischte Carlenes Stimme sich ein. Ich war enttäuscht, die beiden Frauen wieder zu hören. Eine Weile waren Lesters Gedanken so sehr von Lill erfüllt gewesen, dass für die Stimmen kein Platz war; ich fand es schrecklich, dass er sie wieder hereingelassen hatte.
»Lester der Vollidiot.«
»Lester die Dumpfbacke.«
»Lester der Trottel.«
»Lester der …«
»Aufhören!«, schrie ich, und alle starrten mich an. Da merkte ich, dass ich mir die Ohren zuhielt, und abgesehen von dem Krach, den der Bus machte, war es still.
»Warum hörst du auf sie, Lester? Carlene hat deinen Hund am Straßenrand ausgesetzt, nur weil er ihre besten roten Schuhe aufgefressen hat!« Ich hielt es nicht mehr aus. Lester machte eine Vollbremsung, lenkte den Bus noch einmal an den Straßenrand und blieb schlingernd stehen. Er schaute mich nicht an und rührte sich nicht. Er saß nur da und starrte bei laufendem Motor zur Windschutzscheibe hinaus.
»Sie hat einen schlechten Charakter, diese Carlene«, sagte ich, dann presste ich die Lippen fest zusammen; ich wusste, dass ich schon zu viel gesagt hatte.
»Mibs, Schatz«, sagte Lill sanft. »Vielleicht ist es besser, wenn ihr euch wieder hinsetzt, Fish und du.«
»Nee, Lill«, sagte Lester, und sein Kiefer bebte vor Zorn oder vor Trauer oder beidem. »Das Mädchen hat Recht. Ich weiß nicht, wie sie drauf gekommen ist, aber sie hat Recht.« Er schniefte kurz und wischte sich die Nase am Ärmel ab. »Ich hab immer gewusst, dass C-Carlene meinen Hund weggeschafft und mich angelogen hat. Ich hab einfach … aber sie hat … na ja, immerhin hat sie m-mir den Job hier besorgt.« Er fuhr mit einem Finger über das Lenkrad. »Sie hat mir den Bus b-besorgt.«
»Lester die Memme.«
»Lester der Softie.«
»Lester der …«
»Setz dich wieder hin, Mibs«, wiederholte Lill sanft. Fish nahm mich am Arm und führte mich zu einem Platz. Bobbi ließ eine Kaugummiblase zerplatzen und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, sie sagte nichts, doch sie sah so aus, als würde sie mich verstehen. Will saß auf der Kante seines Sitzes und hielt sich an der Lehne des Vordersitzes fest, als wollte er mir jeden Moment zu Hilfe eilen.
Lester ließ den Motor einige Minuten lang am Straßenrand laufen. Ich versuchte mit aller Kraft, Rhondas und Carlenes wüste Beschimpfungen zu überhören. Es machte mich ganz krank, dass Lester solche Worte in seinem Kopf zuließ, und ich schwor mir, dass Ashley Bing, Emma Flint oder wer auch immer niemals eine solche Macht über mich haben dürften. Ich würde es nicht zulassen, dass Lästerer und Hetzer und Leute, die mich kaum kannten, sich einen Weg in meinen Kopf bahnten und sich dort einnisteten.
Schließlich wandte Lester sich zu Lill wie ein geprügelter Mann, der um Gnade fleht. »Ich will nur mit ihr quitt sein, Lill. Ich muss Carlene ihren Anteil an den B-Bibeln zahlen und dann bin ich fertig mit ihr, dann gehöre ich dir – das heißt, wenn du mich haben willst.«
Lills Lächeln war so breit, dass ihre imposante Erscheinung ganz klein dagegen wirkte. »Natürlich, Lester«, sagte sie, und Lesters Gesicht verwandelte sich. Er sah aus wie ein Mann, der endlich seinen persönlichen Schutzengel gefunden hat.
»Dann bin ich ein glücklicher Mann.« Die Stimme erfüllte meinen Kopf.
Und wenn ich mich nicht täuschte, war es Lesters eigene.