4. Kapitel
»Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass morgen jemand Geburtstag hat«, sagte Miss Rosemary zu mir, wobei sie Gypsy und mich schnell aus dem Augenwinkel ansah. Sie schnitt eine Scheibe Hackbraten ab und legte sie auf Opa Bombas Teller. Sie schaute lächelnd auf den Hackbraten mit seinen großen, traurigen, wurmartigen Zwiebeln und der dünnen, trockenen Ketchupschicht. Ich schaute auf das Messer, während sie noch eine Scheibe abschnitt, und stellte mich taub.
Jetzt war es am Tisch, als säße man in einem Dampfkochtopf – Fish sorgte dafür, dass die Luft im Zimmer heiß und aufgeladen wurde. Nur Gypsy ging auf Miss Rosemary ein, weil sie erst drei war und noch nicht wusste, was wir anderen Beaumonts über Geheimnisse wussten – dass man sie brauchte, hatte und für sich behielt. Mit leuchtenden Augen klatschte sie in die Patschhändchen, voller Vorfreude auf Luftballons und Zuckerguss.
»Ich dachte mir«, fuhr Miss Rosemary fort, ohne die Spannung oder den Windhauch zu bemerken. »Ich dachte mir, eine Geburtstagsfeier könnte uns alle ein wenig aufheitern.« Sie schaute allen am Tisch ins Gesicht. Fish starrte auf die Salz- und Pfefferstreuer vor sich, die guten aus Kristall, die Momma nie benutzte, sondern hoch oben in dem Wehe, du gehst da dran-Schrank aufbewahrte. Ich sah, dass er sich große Mühe gab, seinen Schimmer in Schach zu halten. Er strengte sich so sehr an, dass er ins Schwitzen geriet und grau und elend aussah.
»Ich muss aber doch nicht dabei sein, oder, Mutter?«, sagte Bobbi, stopfte sich eine Gabel voll Hackbraten in den Mund und verdrehte die Augen, als wäre sie besessen oder hätte irgendeinen Anfall. Ein bisschen hoffte ich, ihre Augen würden so stehenbleiben, was ja angeblich passieren kann.
»Doch Roberta, wir werden alle dabei sein.«
»Doch, Roberta, wir werden alle dabei sein«, sagte Bobbi mit dem Mund voller Hackbraten und traf den Ton ihrer Mutter erschreckend genau.
»Das reicht jetzt, Roberta!« Miss Rosemary schoss einen Eisblick auf Bobbi ab, der zu einem entschuldigenden Lächeln schmolz, als sie wieder zu mir schaute. Bobbi sank tiefer in ihren Stuhl.
»Wir feiern natürlich in der Kirche«, redete die Frau des Predigers einfach weiter. »Es ist recht kurzfristig, aber noch Zeit genug, um all deine Freunde aus der Kirche einzuladen, Mibs, und alle aus der Schule, die du einladen möchtest.«
»Ich hab keine Freunde, Miss Rosemary«, sagte ich in der Hoffnung, die Wahrheit würde dem Gespräch ein schnelles Ende bereiten.
»Ich bin dein Freund, Mibs«, sagte Will junior ernsthaft. Ich schaute über den Tisch zu ihm und seinem zugeknöpften Hemd. Da grinste er mich an; wenn er lächelte, sah er irgendwie anders aus, lockerer. Weil ich in dem Moment nicht so recht wusste, wie ich Will junior finden sollte, lächelte ich nicht zurück. Aber ich guckte auch nicht unfreundlich.
»Unfug«, sagte Miss Rosemary, als hätte Will gar nichts gesagt. »Du wirst schon sehen. Heute Abend setze ich mich ans Telefon und richte dir für morgen eine schöne Geburtstagsfeier aus. Keine Sorge, Mibs, ich habe meine Verbindungen.« Miss Rosemary zeigte mit dem Finger an die Decke, aber ich dachte mir, dass sie wohl eigentlich den Himmel meinte. Offenbar sollte Gott ihr helfen, meine Geburtstagsfeier vorzubereiten. Ich dachte mir, dass Gott sehr viel Wichtigeres zu tun hatte, zum Beispiel Menschen vor dem Hungertod zu bewahren oder davor, dass sie sich gegenseitig umbrachten, oder meinem Poppa zu helfen, also hoffte ich, dass er sich aus meinem Geburtstag raushielt.
Ich merkte, dass Fish und Opa Bomba bei diesem Geburtstagsgerede immer nervöser wurden. Dreizehnte Geburtstage fanden in der Familie Beaumont ausdrücklich unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Als Rocket dreizehn wurde, war ich erst acht, aber meine Erinnerung daran war so frisch und prickelnd wie die Seeluft. An diesem weit zurückliegenden Tag in unserem Haus im Süden, als es Oma Dollop noch gab und Gypsy noch nicht, hatten Rocket, Fish und ich Oma den ganzen Nachmittag im Garten beim Einmachen geholfen, während Momma drinnen alles für Rockets Geburtstagsessen vorbereitete.
Der Picknicktisch stand voll mit Omas durchsichtigen Einmachgläsern, alle hatten sie einen Metalldeckel und waren mit einem weißen Etikett versehen. Wir Kinder sollten sie beschriften. Aber unsere Oma machte keine Pfirsiche, Tomaten oder sauren Gurken ein, sondern Radiowellen. Oma wählte immer nur die allerbesten aus – ihre Lieblingslieder, -geschichten und -reden aus dem Regionalradio –, aber trotzdem standen überall in unserem Keller hohe Regale voller verstaubter Gläser, in denen sich die Radiosendungen vieler Jahre befanden. Wie Oma Dollop die Radiowellen in die Gläser sperrte, war mir ein Rätsel; sie griff einfach in die Luft und fing sie wie Glühwürmchen. Dann stopfte sie die unsichtbaren Dinger in die Gläser und sagte uns, was wir auf die Etiketten schreiben sollten. Und dann brauchte man bloß den Deckel eines Glases ein kleines bisschen aufzuschrauben, um zu hören, was drin war. Aber man musste aufpassen, dass man den Deckel nicht ganz abhob, sonst flutschten die Töne und Lieder hinaus und waren für immer verloren, es sei denn, Oma war dabei und fing sie rechtzeitig wieder ein.
An jenem Tag, als wir im Garten saßen und zusahen, wie Oma ihre Radiowellen fing, war Rocket brummiger als ein Bär im Winter. Die Sonne seines dreizehnten Geburtstages war schon fast untergegangen, bis jetzt war noch rein gar nichts passiert, und mein Bruder hatte Angst, dass auch nichts passieren würde. Rocket war ja das erste Kind unserer Eltern, und da Poppa aus einer stinknormalen Familie kam, die sich nur dadurch auszeichnete, dass die Männer, noch ehe sie dreißig waren, ihre Haare verloren, fürchtete Rocket, dass er nach Poppa käme – und schimmerlos und haarlos enden würde.
Es wurde Abend und die Sonne verkroch sich. Wir hatten gerade begonnen, die Einmachgläser ins Haus zu tragen, als Rocket stutzte und mit den Radiosendungen des Tages in den Armen dastand, so still wie nur was. Seine Haut sah blass aus im frühen Abendlicht, er beugte sich über die Gläser in seinen Armen und taumelte, als hätte er sie gerade aufgefangen.
Auch Oma Dollop war stehen geblieben, sie hielt den Kopf schräg, als ob sie lauschte. Meine Haare stellten sich auf, als eine kribbelige elektrische Strömung die Luft erfüllte.
»Komisch«, sagte Oma, während sie immer noch lauschte. »Mit dem Radiosender stimmt irgendwas nicht. Ich höre nur ein Rauschen.«
»Ist was, Rocket?«, fragte ich meinen Bruder vorsichtig. Ich machte mir Sorgen, weil er ganz verkniffen aussah und es so schien, als wäre jeder Muskel seines Körpers angespannt.
»Ich glaub, mir wird schlecht«, sagte Rocket. Dann gab es eine grelle Explosion von blauen Glitzerfunken, wie am vierten Juli, nur ohne Rot und Weiß, und mein Bruder fiel auf die Knie. Die Einmachgläser, die er in den Armen hielt, fielen klirrend zu Boden und zerbrachen, neun verschiedene Radiosendungen auf einmal ertönten, und ein Chor von Stimmen und Tönen schwebte in die Abendluft. Im selben Augenblick erloschen alle Lichter drinnen und draußen. Zischplopp verabschiedeten sich die Straßenlaternen mit einem kleinen Glasregen, und in allen Häusern der Straße gingen die Lichter aus. Der Stromausfall begann in unserem Haus und endete erst, als er den übernächsten Ort lahmgelegt hatte.
Rocket hatte seinen Schimmer und der war echt sensationell.
Als ich an dem Abend vor meinem eigenen wichtigsten Geburtstag ins Bett ging, nachdem Miss Rosemary Hackbraten aufgetischt und sich eingemischt hatte, betete ich nicht für einen mächtigen Schimmer, wie Rocket ihn hatte. Ich betete nicht dafür, einen Röntgenblick zu haben, superschnell rennen oder unter Wasser atmen zu können. Ich betete auch nicht für Opa oder für Gypsy. Ich betete noch nicht mal, dass Poppa aufwachte.
An diesem Abend betete ich, dass niemand – absolut niemand – zu meiner Geburtstagsfeier kommen würde.