19. Kapitel

 

Bobbi sah mich und Fish an. Sie hatte alles gesehen und gehört.  

»Ich wusste es. Ich wusste es«, sagte sie, stellte die Schälchen mit den Hamburgern auf den Tisch und ging ein paar Schritte rückwärts zur Tür. »Ich wusste, dass ihr nicht ganz dicht seid. Das glaubt Will mir nie.« Ehe Fish und ich auch nur ein Wort sagen konnten, war sie schon raus aus dem Lagerraum.  

Fish sprang vom Couchtisch auf. »Ich muss sie aufhalten!«  

»Da kannst du nichts machen, Fish«, sagte ich, stand schnell vom Sofa auf und packte meinen Bruder am Arm, damit er nicht irgendeine Dummheit beging. Doch das war gar nicht nötig. Fish blieb wie angewurzelt stehen und starrte zu dem kleinen Fernseher auf dem Aktenschrank.  

Ich folgte seinem Blick und zog die Luft ein. In der ganzen grieseligen Schwarzweißwichtigkeit, die so ein kleiner Fernseher zustande bringen kann, blitzten Fotos von uns auf – von Bobbi, Will, Fish, Samson und mir –, und über den unteren Bildrand liefen die Wörter ACHTUNG! VERMISST! ACHTUNG! und dazu eine 800er-Nummer, die man anrufen konnte, wenn man uns gesehen hatte.  

Wir sahen, wie die Fotos bei dem schlechten Empfang flackerten und wackelten, dann gab es einen Schnitt zu einem anderen Reporter, der den Pastor und seine Frau vor der Kirche interviewte. Miss Rosemary sah bekümmert und besorgt aus, Pastor Meeks starr und steif und stocksauer.  

Fish biss die Zähne zusammen, seine Muskeln waren angespannt. »Wir sitzen echt in der Patsche, Mibs«, murmelte er, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden.  

Ich schaute vom Fernseher zu der Tür, die ins Restaurant führte, und schluckte schwer, ich überlegte, was an diesem Tag noch alles schiefgehen könnte. Unsere Lage hatte sich immer weiter verschlimmert, und ich hatte das Gefühl, dass sie sich so bald auch nicht verbessern würde.  

In dem Moment, als Fish die Hand ausstreckte, um den Fernseher abzuschalten, sprang die Tür des Notausgangs mit einem lauten, metallisch schabenden Geräusch auf, und Fish und ich erschraken beide so sehr, dass wir einen Satz zurück machten. Ein Schrank von einem Mann in Kapuzenpulli und grünen Elastanshorts sah uns von der Tür her wütend an. Er trug eine goldene Kette um den Hals und an jeder Hand einen großen Goldklunkerring.  

Ozzie, der Geschäftsführer der Fernfahrer-Raststätte, zog einen Zahnstocher zwischen den Lippen hervor und schnippte ihn über die Schulter zum Parkplatz. Er kam herein und ging wie ein wütender Bison auf Fish und mich los.  

»Was habt ihr hier drin zu suchen?«, sagte er, und sein Atem war eine aufdringliche Mischung aus Windbeutel und Hähnchenflügeln. »Könnt ihr nicht lesen? Hier darf nur das Personal rein. Haut ab. Verzieht euch.« Ozzie kam näher und wedelte mit den Händen wie ein muskelbepackter Hexenmeister, der Hühner verscheuchen will. »Geht zu euren Eltern oder spielt mit der Jukebox oder was auch immer.«  

»Wir sind mit Lill hier«, piepste ich, als er uns zu der Tür schob, die zum Lokal führte. »Sie hat gesagt, wir dürfen hier rein.« Aber das konnte Ozzie nicht beruhigen. Im Gegenteil, es machte alles nur noch schlimmer.  

»DÖÖÖÖT!«, machte er, wie das grelle, übertriebene Geräusch eines Gameshow-Signals. »Falsche Antwort! Lill steht gerade ganz oben auf meiner Abschussliste. Es fehlt nicht mehr viel, dann fliegt sie.« Damit schob Ozzie Fish und mich aus dem Lagerraum.  

Als ich mich wieder mitten in dem lauten Stimmengewirr befand, gab ich mein Bestes, um nicht aus der Fassung zu geraten, und überlegte, wie ich die donnernden Gedanken, die nicht zu mir gehörten, dämpfen könnte, aber das konnte Jahre dauern – grässlich lange Jahre mit diesem dämlichen Schimmer – und ich hatte keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte.  

Ich hielt mich so weit wie möglich am Rand des Geschehens, stand schwankend neben der langen Theke, an der Wand, die der Küche am nächsten war. Ich nahm das Klappern von Tellern auf Tellern in der Küche wahr, das Klirren von zu Boden fallendem Besteck und das Zischeln und Brutzeln der Hamburger. Doch die lärmenden Stimmen in meinem Kopf wälzten sich über die gewöhnlichen Geräusche wie Schlachtschiffe über einen aufgewühlten Ozean.  

Ich hätte nicht sagen können, ob der Raum sich drehte oder ob ich es war, und die nun folgende Szene rauschte an mir vorbei wie eine Serie von Schnappschüssen, untermalt von dem penetranten Potpourri fremder Gedanken und Gefühle.  

Als Ozzie das Lokal betrat, stand Lill hinter der Theke, drei Torten vor sich, und schnitt gerade mit einem langen, keilförmigen Kuchenmesser die Bananencremetorte an. Lester saß auf einem runden Hocker in ihrer Nähe, er biss in einen dicken Hamburger und kleckerte gelben Senf auf den rosa Schlips.  

»Bobbi steht mit Will junior an der Jukebox«, sagte Fish mir ins Ohr. Ich schaute zur anderen Seite des Raums und sah, wie Bobbi mit Will sprach und zu uns zeigte.  

»Sie erzählt ihm alles«, sagte Fish düster. Ich sah, wie Will zwischen mir und seiner Schwester hin- und herschaute, aber inzwischen tat mein Kopf so weh, dass es mich nicht kümmerte. Und jetzt hatte Ozzie auch wieder angefangen zu brüllen.  

Er ging zu Lill hinüber, packte die Bananencremetorte und nahm ihr das Messer aus der Hand.  

»Das war’s, Lill«, sagte Ozzie und fuchtelte mit dem sahneverschmierten Messer in der Luft herum, dabei traf er Lester mit einer verirrten Bananenscheibe am Kopf. »Meine Geduld ist am Ende. Du magst ja eine ganz passable Bedienung sein – wenn du ausnahmsweise mal pünktlich bist –, aber mir reicht’s jetzt. Das ist das letzte Mal, dass du zu spät kommst, und das letzte Mal, dass du in meinem Lokal Torte schneidest.«  

»Aber Ozzie …«, setzte Lill an.  

»Ich will, dass du auf der Stelle verschwindest, Lill Kiteley!«, schrie Ozzie in seinen Elastanshorts. Ganz offensichtlich genoss er den Klang seiner eigenen Stimme und die Aufmerksamkeit, die ihm die rothaarige Kellnerin schenkte. Jetzt hatten alle in der Raststätte aufgehört zu reden und beobachteten die Szene, die sich zwischen Ozzie und Lill abspielte. Sogar der Song in der Jukebox verstummte, als wollte er mithören. Lester ließ seinen Hamburger sinken und wischte sich mit einer langsamen Bewegung die Banane aus dem schütteren Haar. Will und Bobbi traten näher an die Theke heran, blieben jedoch stehen, als sie sahen, dass Ozzie das Messer schwang. Jetzt, wo sich die Aufmerksamkeit aller auf den großen, allmächtigen Ozzie richtete, verstummten sogar die Stimmen in meinem Kopf.  

Ozzie hielt immer noch die Torte in der Hand, als vertraute er Lill nicht genügend, um sie in ihrer Nähe abzustellen, und legte das Messer in eine Waschschüssel unter der Theke. Als ich ihm dabei zusah, entdeckte ich Samson, der still und leise neben der Schüssel unter der Theke saß, so dunkel und schemenhaft, dass Ozzie ihn überhaupt nicht bemerkt hatte.  

»Ozzie, ich kann dir …«, setzte Lill wieder an.  

»DÖÖÖÖT!« Ozzie gab wieder diesen nervigen Gameshow-Ton von sich und schnitt Lill das Wort ab. »Du bist draußen, Lill!«  

Ozzie drehte sich um, die Torte in der linken Hand, mit der Rechten öffnete er die Kasse. Er nahm ein Bündel Scheine heraus und warf sie mit einer theatralischen Geste Lill entgegen, die so aussah, als könnte sie jeden Moment mit einer Tränenflut weggespült werden, sollte sie die Fassung verlieren und der Damm brechen.  

»Da«, sagte Ozzie, als die Geldscheine vor Lills großen Füßen zu Boden flatterten. »Heb deinen Trostpreis auf – dein letzter Lohn, das dürfte reichen.«  

Ich sah, wie die rothaarige Kellnerin feixte, als Lill sich mit der ganzen Würde, die sie zustande brachte, bückte und das Geld vom Boden aufhob.  

Es wäre für alle besser gewesen, hätte Ozzie sich ein wenig zurückgehalten. Als er fies und feist über die arme Lill lachte, die jetzt auf dem Boden hockte, um ihren Lohn einzusammeln, brach der Krawall erst richtig los.  

»Hören Sie mal«, sagte Lester, legte seinen Burger hin und haute mit der Faust auf die Theke; seine Schulter zuckte auf und ab wie die Kolben in dem Motor seines Busses. »So behandelt man doch keine Dame.« Mit diesen Worten schob Lester seinen Teller beiseite und erhob sich, ging um die Theke herum und half Lill, die Scheine aufzusammeln.  

Im selben Moment beugte Samson sich in seinem Schlupfwinkel hinter der Theke vor und biss den großen, allmächtigen Ozzie fest ins Bein.  

Ozzie kreischte los wie ein kleines Mädchen, die Bananencremetorte flog ihm aus den Händen und landete mit einem ekelhaften Platsch vor ihm auf dem Boden, Sahneseite nach unten.  

»Na warte, du kleiner …!« Während Ozzie sich das Bein hielt und auf einem Fuß herumhüpfte, holte er drohend das Kuchenmesser wieder aus der Schüssel.  

»Nein!«, schrie ich.  

Als Bobbi und Will sahen, dass Samson hinter der Theke aufgetaucht war und sich in Reichweite des wütenden Mannes mit dem Messer befand, kamen sie quer durch das Lokal gerannt. Beide versuchten über die Theke nach dem Messer zu greifen, während Samson zur anderen Seite hinausflitzte und von Ozzie weg in Richtung Lagerraum rannte. Fish und ich stürmten los und stießen Ozzie mit vereinten Kräften in den muskulösen Rücken, so dass er nach vorn stolperte und durch die Torte schlitterte. Der bullige Kerl rutschte auf einem Fuß durch Bananen und Creme dahin, während Fishs Wutwind durch das Lokal fegte und Ozzie noch mehr aus dem Gleichgewicht brachte. Mit einem dumpfen Schlag plumpste Ozzie aufs Hinterteil.  

Die rothaarige Kellnerin schrie, die Gäste sprangen auf, unschlüssig, ob sie helfen sollten und, wenn ja, wem.  

»Wir müssen hier raus!«, rief Bobbi, sauste um die Theke herum und half Lill und Lester das restliche Geld einzusammeln. Dann trieb sie zusammen mit Will junior die beiden verdatterten Erwachsenen an dem fluchenden, strampelnden Ozzie vorbei zur Personaltür, um durch den Notausgang zu entkommen, und Fish und ich folgten ihnen, ohne zu zögern.  

Auf dem Weg durch den Vorratsraum schnappte Lill sich ihren Pulli vom Haken und sah uns kopfschüttelnd an. Sie war rot im Gesicht und ihre großen weißen Schuhe waren kuchenbekleckert.  

»Tut mir leid«, sagte Lill atemlos, als wir zum Ausgang rannten. »Sieht so aus, als müssten die bösen Kinder und Außenseiter wieder los.« Sie zeigte auf die Schälchen, die immer noch auf dem Schreibtisch standen, wo Bobbi sie abgestellt hatte. »Schnappt euch die Hamburger, Kinder. Die könnt ihr im Bus essen.« Lill schaute zu Samson hinab, der ihre Hand gefasst hatte und bekümmert aussah. »Tut mir leid mit der Bananencremetorte, Kleiner«, sagte Lill aufrichtig. Lester blieb wie angewurzelt stehen.  

»Wartet mal kurz!« Lesters entschiedener Ton ließ uns alle verharren. Ohne ein einziges Mal zu zucken, hob er einen Finger, als wollte er das Kommando zum Angriff geben, dann drehte er sich um und verschwand durch die Tür wieder ins Lokal. Einen Augenblick dachte ich, jetzt wäre Lester völlig durchgeknallt und aus Versehen in die falsche Richtung gelaufen. Doch eine Sekunde später war er schon wieder da und hielt eine zweite Cremetorte wie eine Trophäe über den Kopf. In Windeseile rannte er zum Ausgang, und Lill versetzte dem schäbigen Sofa im Vorratsraum einen letzten entschlossenen Tritt, genau wie sie es mit ihrem kaputten Auto gemacht hatte. Dann schob sie uns hinter Lester aus der Tür, und wir taumelten hinaus auf den Parkplatz hinter dem Lokal, weg von Ozzie und der Fernfahrer-Raststätte von Emerald.