8. Kapitel
»Ich muss nach Salina, Will.«
»Geht es dir wirklich gut, Mibs?«, fragte er, die Hand immer noch auf meiner Schulter. »Du warst ja gerade ohnmächtig, weißt du? Vielleicht bist du ein bisschen durcheinander.«
Ich schaute Will junior in die Augen. »Will, bitte. Ich bin nicht durcheinander. Hilf mir hier wegzukommen. Ich muss unbedingt nach Salina.«
Will junior sah mich betrübt an und drückte meine Schulter. »Bestimmt vermisst du deine Mutter und deinen Vater sehr, gerade an deinem Geburtstag.«
Ich schob seine Hand weg und wandte mich zur Tür. »Ich muss nach Salina«, wiederholte ich.
»Vielleicht kann Mutter dich fahren …«, setzte Will an und lief hinter mir her.
»O nein. Ich muss allein dorthin.« Ich wusste, dass ich redete wie eine Verrückte. Ich war gerade erst dreizehn geworden und bildete mir ein, ich könnte die hundertfünfzig Kilometer nach Salina ganz allein bewältigen. Aber wenn es sein musste, würde ich per Anhalter fahren. Oder zu Fuß gehen. Es musste sein. Es war undenkbar, mit der Frau eines Predigers irgendwohin zu fahren, wenn ich Stimmen in meinem Kopf hörte. Fish hatte Recht gehabt, ich durfte heute nicht in der Kirche sein. Ich musste hier weg, und zwar auf der Stelle. Ich musste Poppa finden und ich musste meinen Schimmer anwenden, um ihn aufzuwecken. Mehr nicht.
Ich ging geradewegs auf die Flügeltür der Kirche zu. Im Gemeindesaal hörte ich Tumult und Tamtam, und ich war mir sicher, Ashley Bing kichern zu hören und dann Emma Flint, die ihr nachgluckste. Ich sah, wie zwei Jungs aus Samsons Sonntagsschule mit kuchenverschmiertem Mund an mir vorbeiliefen. Die Party hatte ohne mich angefangen. Und so würde sie wohl auch enden müssen.
Ich ging aus der Kirche und war wild entschlossen, notfalls den ganzen Weg nach Salina zu rennen. Will junior ging mir nach und trat mir fast auf die Hacken.
»Hey, nicht so schnell, Mibs! Warte auf mich!«
Als wir zum Parkplatz kamen, schaute ich mich um. Ein paar Kinder spielten auf dem Rasen, aber die meisten waren jetzt in der Kirche. Fishs Sturmwolke lauerte über der Kirche und drohte mit Regen.
Ich ging an einem Auto nach dem anderen vorbei zur Straße. Vor dem rosa Heartland-Bibelbus blieb ich stehen. Wieder hatte ich das säuselnde Geflüster in den Ohren, ganz leise, ich sah Bobbi, die allein am Bus lehnte, und die Art, wie sie ihren Kaugummi kaute und Blasen zerplatzen ließ, hatte etwas Abweisendes, Rebellisches. Sie war wohl wirklich ziemlich rebellisch, mit dem Augenbrauenpiercing und dem Tattoo, und vielleicht hatte der kleine Engel mit dem Teufelsschwanz ja Recht: In diesem Moment sah Bobbi einsamer aus, als ich es bei einem Mädchen wie ihr für möglich gehalten hätte.
Ich versuchte das Flüstern in meinem Kopf zu ignorieren, und da fiel mein Blick auf die Schrift auf dem Bus. Das Schwarz der großen Buchstaben von Heartland-Bibel-Lieferdienst blätterte ab, darunter war Rosa und darunter das ursprüngliche Schulbusorange. Eine Zeile tiefer standen in kleineren schwarzen Buchstaben Adresse und Telefonnummer der Firma. Ich stutzte, ich konnte mein Glück nicht fassen. Der Bus des Heartland-Bibel-Lieferdiensts kam ausgerechnet aus Salina, Kansas, so stand es da schwarz auf Rosa. Und ich dachte mir, wenn der Bus aus Salina gekommen ist, dann muss er auch wieder nach Salina zurück. Vielleicht ruhte Gottes Auge ja doch auf mir.
Mit einem schnellen Dankeschön gen Himmel ging ich an Bobbi und ihrem großen rosa Kaugummi vorbei, ich fuhr mit dem Finger über den kühlen rosa Stahl des Busses und machte einen sauberen Strich im Staub unter das Wort Salina, als hätte ich soeben einen Vertrag unterzeichnet.
Will junior, der mir immer noch auf dem Fuß folgte, zog die Augenbrauen hoch, als er die unterstrichenen Buchstaben auf dem Bus sah. Doch er sagte nichts, als ich an Bobbi vorbeilief, auf die erste Stufe des Busses stieg und einfach hineinging.
Wie daneben ich gestern gelegen hatte, als ich dachte, ich würde lange nicht mehr Bus fahren; ich achtete nicht auf Mommas Stimme in meinem Kopf, die mir sagte, ich solle nie bei Fremden einsteigen, und auch nicht auf Poppas Stimme, die mir sagte, ich sollte immer einem Erwachsenen Bescheid geben, wo ich war, damit mir nichts zustieß. Und ich versuchte mit aller Kraft nicht auf die Stimme von Bobbis Engel in meinem Kopf zu achten. Aber das war sehr viel schwieriger.
»Sie fragt sich, ob es dir gutgeht.«
»Hey, Geburtstagsgör, was hast du denn da vor?«, sagte Bobbi ohne jede Spur von Besorgnis in der Stimme. Der Engel schien Bobbi nicht besonders gut zu kennen.
»Verzieh dich, Bobbi«, sagte Will junior und verblüffte damit sowohl seine Schwester als auch mich. »Lass uns in Ruhe, sonst erzähle ich Mutter und Vater, dass du eine Vier in der Chemieklausur hattest.« Er hatte die Hände an beiden Seiten der Bustür und einen Fuß auf der ersten Stufe, als wollte er mir direkt hinterhergehen.
Bobbi verdrehte die Augen, als wäre sie von einem Anfänger bedroht worden. »Das kriegen die sowieso raus«, sagte sie und schnaubte verächtlich. »Und es wird sie garantiert nicht überraschen.«
»Na gut«, sagte Will. »Dann erzähl ich eben, dass du immer die Schulsekretärin anrufst und dich für Mutter ausgibst, wenn du blaumachst.«
»Glaubst du etwa, das macht mir was aus?«, sagte Bobbi.
»Und ob es ihr etwas ausmacht«, sagte die Stimme hinterlistig, und ich stellte mir den kleinen Engel vor, wie er mit dem Teufelsschwanz schlug. »Ihre Geheimwaffe will sie auf keinen Fall verlieren.«
»Was habt ihr zwei überhaupt vor?« Bobbi nahm den rosa Kaugummi aus dem Mund, drückte ihn an die Seite vom Bus und verpasste dem i von Bibel damit einen Punkt. Dann ging sie zur Bustür, während Will einstieg. Durch die Windschutzscheibe sah ich Fish aus der Kirche kommen, dunkel und stürmisch, er suchte mich.
»Mibs muss nach Salina und ich fahre mit und passe auf sie auf«, sagte Will junior zu Bobbi, als hätten Gott der Allmächtige und der große Staat Nebraska ihn damit beauftragt und als würden Pastor Meeks und Miss Rosemary ihm nicht den Hintern versohlen, wenn er ohne ein Wort verschwände.
»Was glaubst du, wer du bist? Mibs’ persönlicher Sicherheitsbeauftragter?«, schrie Bobbi ihren Bruder an. »Findest du nicht, dass ein Polizist in der Familie genug ist?«
Einen Moment lang sah Will aus, als würde er in die Luft gehen. Wäre der oberste Knopf an seinem Hemd nicht schon offen gewesen, wäre er möglicherweise abgesprungen, weil Will sich so aufblies.
»Halt die Klappe, Bobbi«, sagte er. »Bis nach Salina sind es nur hundertfünfzig Kilometer. Wir sind im Nu da.«
Fish hatte uns von der anderen Seite des Parkplatzes aus gesehen und kam jetzt auf den rosa Bus zu. Das Gras am Gehweg neben ihm wogte und legte sich nieder wie unter dem wirbelnden Propeller eines Hubschraubers. Fish war fuchsteufelswild.
»Du fährst nicht nach Salina«, sagten Bobbi und ich genau gleichzeitig zu Will junior. Dann schauten Bobbi und ich uns mit zusammengekniffenen Augen wütend an – Bobbi stand immer noch unten vor der Bustür, ich oben neben dem Fahrersitz, Will junior stand zwischen uns, und Fish kam eilig näher.
Die meisten der ramponierten Sitze im Bus waren mit Kisten und Schachteln bepackt, und hinten waren anscheinend einige Sitze rausgenommen worden, um mehr Laderaum zu schaffen. Ohne Bobbi und Will junior zu beachten, ging ich nach hinten durch, weil ich mir dachte, dass ich mich dort ganz gut verstecken könnte, bis der Bus nach Kansas fuhr. Will junior folgte mir, Bobbi hinterher.
»Ohne mich fährst du nirgendwohin«, sagte sie, und jetzt stapfte auch sie die Stufen hoch in den Bus, mit dem ganzen Mumm und Schwung ihrer sechzehn Jahre. »Wenn ihr beide verschwindet, wer muss dann wohl dafür geradestehen? Wer kriegt dann eins aufs Dach? Ich, ganz klar. Und wenn ich schon eins aufs Dach kriege, soll es sich wenigstens lohnen. Ich fahre mit.«
»Kommt nicht in Frage, Bobbi«, setzte Will an. Doch Bobbi brachte ihren Bruder mit einem erhobenen Finger zum Schweigen.
»Irgendwer muss auf euch Kinder aufpassen. Mom und Dad bringen mich um, wenn ich euch allein fahren lasse.«
»Sie bringen dich so oder so um«, sagte Will. »Sie bringen uns beide um.«
»Was ist hier los?«, wollte Fish wissen und stieg ebenfalls in den Bus.
»Ich komme nicht mit nach Hause, Fish«, rief ich meinem Bruder über die Schulter zu und kletterte über Kisten, die im Gang gestapelt waren. »Ich fahr zum Krankenhaus nach Salina. Ich fahr nach Kansas und dann gehe ich zu Poppa.«
»Mit diesem Bus?« Fish schnaubte verächtlich.
»Ja«, sagte Bobbi, und ihr aufmüpfiger Spott klang beinahe fröhlich, so dass es jetzt so aussah, als stünde sie auf meiner Seite. »Wir fahren alle nach Salina, Fishy-Boy. Wenn du zu viel Schiss hast, um mit uns gegen den Strom zu schwimmen, dann mach jetzt lieber die Biege.« Bobbi warf einen kurzen Blick über Fishs Schulter zur Windschutzscheibe hinaus. »Aber entscheide dich schnell, ich glaub nämlich, der Fahrer des Busses kommt gerade aus der Kirche.«
Wir alle wirbelten herum und sahen, dass Bobbi Recht hatte. Der Bote mit dem traurigen Gesicht kam gesenkten Blickes aus der Kirche, zwei schwere Kisten mit rosa Bibeln in den Armen. Wir schauten uns an, ich und Will junior und Bobbi und Fish, um zu sehen, wer als Erster aus dem Bus sprang und wer den Mut hatte drinzubleiben.
Der Bote war schon fast am Bus, als Miss Rosemary in der offenen Flügeltür der Kirche erschien und über den Parkplatz schaute wie ein Gefängniswärter.
»Schnell! Versteckt euch!«, rief Bobbi. »Sie darf uns nicht sehen!«
Panisch kletterten die anderen mir nach in den hinteren Teil des alten Busses, alle stolperten und holperten, stießen gegen Kisten und verstreuten Bibeln wie rosa Trittsteine auf dem Boden. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob die Idee wirklich so gut war. Vielleicht hatte ich ein bisschen vorschnell gehandelt. Vielleicht wäre es besser gewesen, den ganzen Weg nach Salina zu laufen.
»Sie hat Angst«, flüsterte der Engel in meinen Ohren.
Aber jetzt brauchte ich keinen kleinen Engel, der mir sagte, wie es Bobbi ging. Es ging uns allen gleich und keiner hatte Zeit, den anderen etwas vorzuspielen. Ohne richtig darüber nachzudenken, hatte ich uns alle in dem großen rosa Bus eingesperrt. Jetzt waren wir blinde Passagiere, es sei denn, einer wäre so mutig – oder so verrückt –, vor den Augen von Miss Rosemary und dem Boten aus dem Bus zu steigen und uns alle zu verraten. Aber keiner machte Anstalten zu fliehen und darüber war ich froh.
Wir versteckten uns hinter Kisten mit rosa Bibeln, fragten uns, ob wir wachten oder träumten, und rutschten tiefer hinter den Kistenstapel, während der Bote einstieg. Ganz hinten im Bus fanden wir zu unserer Überraschung, zwischen die Kisten gequetscht, ein Feldbett und einen Schlafsack, außerdem einen ausgedienten Koffer, aus dem Latzhosen herausquollen und Socken, die nicht zusammenpassten. Daneben lagen eine halbleere Chipstüte, abgepackte Würstchen und ein umgekippter Stapel National Geographic-Hefte – manche zerknittert und verblichen, andere brandneu.
Die größte Überraschung jedoch war Samson.
Samson hatte sich ganz klein unter dem Feldbett zusammengerollt, wie seine Schildkröte in ihrem Panzer. Als wir in sein Versteck eindrangen, schaute er sich gerade mit seinen großen dunklen Augen die Bilder eines Artikels mit der Überschrift »Merkwürdiges Treiben verbreiteter Motten« in einem urmelalten Heft an. Samson blickte nicht einmal auf, bis das lärmende Gebrumm des Motors den Bus erbeben ließ.
Ich legte einen Finger an die Lippen, damit Samson begriff, dass er still sein musste – einen Augenblick lang vergaß ich, dass mein düsterer Grübelbruder immer still war und man schon sehr laut sein müsste, um das dröhnende Röhren des alten Busses zu übertönen. Als die Räder sich in Bewegung setzten, hielten wir uns alle an den erstbesten Sachen fest, um nicht durch den Bus zu purzeln, der jetzt vom Parkplatz der Kirche hinunter Richtung Highway fuhr. Aber als der große rosa Bus auf den Highway 81 stieß, bog er nicht rechts ab, sondern links, nach Norden statt nach Süden – und plötzlich fuhren wir nicht nach Kansas, sondern von Kansas weg.