27. Kapitel
Als wir in Wymore ankamen, ging in der großen Backsteinkirche an einer Nebenstraße der Tenth Street gerade der zweite Gottesdienst zu Ende. Lester parkte den Bus vor der Kirche und wartete, während Lill noch einmal seinen Schlips glättete und ihm Krümel vom Hemd fegte. Er strahlte unter Lills Fürsorge und seine Schultern machten nicht ruck und nicht zuck.
»So, und nicht vergessen, was wir besprochen haben«, sagte sie aufmunternd. »Sieh zu, dass du die Bibeln direkt an die Frau des Pastors ausliefern kannst. Eine Frau reagiert viel eher freundlich auf die Farbe Rosa.«
Lester nickte Lill zu und schien um mehrere Zentimeter zu wachsen, als sie ihm einen Kuss auf die Wange gab.
»Der soll dir Glück bringen«, sagte Lill und Lesters Gesicht nahm alle möglichen Rottöne an. »Du schaffst das schon.«
Lesters Mund mahlte, als ob er auf einem großen Stück von Bobbis Kaugummi herumkaute; er sah aus, als wollte er etwas zu Lill sagen und als wollten die Lippen ihm nicht gehorchen. Nach einer Weile streckte er den Arm aus und schüttelte Lill unbeholfen die Hand, als hätten sie soeben einen Vertrag geschlossen. Dann machte er sich auf den Weg, eine große rosa Bibel unter den Arm geklemmt und einen Glanz von Zuversicht um sich, der ihm passte wie ein neues Paar Schuhe. Er ging etwas steif, aber mit mehr Stolz, als ich ihm zugetraut hätte.
Lill knabberte an ihrer Nagelhaut, während sie ihm durchs Fenster nachschaute. Seit wir Lincoln verlassen hatten, hatte sie ihn gecoacht, ihm Tipps gegeben, wie er mit den Leuten reden sollte und wie er sich als Geschäftsmann darstellen konnte statt als kleiner Bote, den man nach Belieben herumschubsen und niedermachen kann. Jetzt war es an ihr, zappelig und nervös zu sein.
Während Fish und Will sich über die Sitze hinweg mit Papierkugeln bewarfen, die sie aus Lesters Zeitschriftenvorräten gebastelt hatten, setzten Bobbi und ich uns zu Lill. Ich brauchte Lill nichts mit meinem glänzenden Silberstift auf die Haut zu malen, um zu wissen, dass sie bis über beide Ohren in Lester verliebt war. Ich konnte es zwar nicht verstehen, aber ich dachte mir, dass es Happy Ends wohl in allen Formen und Größen gab.
Es dauerte nicht lange, da kehrte Lester zurück, strahlend übers ganze Gesicht. Er kam die drei Stufen hoch und stieß einen Freudenschrei aus. Er machte einen Hüpfer, bei dem er die Hacken in der Luft zusammenschlug, beugte sich zu Lill hinab, nahm ihr Gesicht in die Hände und drückte ihr einen langen, festen Kuss auf den Mund. Lill schlang ihm die Arme um den Nacken und erwiderte seinen Kuss so heiß und heftig, dass wir alle den Blick abwandten – lieber alles andere angucken, nur nicht das.
Mit einem unwirschen Schaudern streckte Bobbi die Zunge raus, rückte von dem glücklichen Paar ab und setzte sich auf die andere Seite des Ganges, doch mir entging nicht das Lächeln, das blitzartig aufleuchtete, wie ein Gefühlsriss in ihrer Teenagerrüstung.
Als Lester die Lippen von Lill löste, straffte er sich und verkündete: »Nicht nur, dass der Pastor hier die Lieferung annimmt, der Frauenverein von Wymore will auch noch drei z-zusätzliche Kisten Heartland-Bibeln k-kaufen.«
Lill klatschte in die Hände wie meine Schwester Gypsy, mit freudiger Begeisterung.
»Womit ich alle B-Bibeln verkauft hätte, die ich gestern nicht losgeworden bin«, sagte Lester erleichtert und klopfte auf die Lehne seines Fahrersitzes, als wäre sein Bus jetzt gerettet und er selbst erlöst.
Lester heuerte Fish und Will dafür an, ihm beim Tragen der Kisten vom Bus in die Kirche zu helfen. Die Jungen zogen die Köpfe ein und trugen die Kisten möglichst hoch, um ihre Gesichter so gut es ging zu verbergen, damit niemand sie von den ACHTUNG-VERMISST-ACHTUNG-Nachrichten erkannte.
Als sie zurückkamen, hatte Lester Bargeld und Fish und Will hatten die Hände voller geviertelter Donuts mit Puderzucker. Will wischte sich weißen Zucker von seinem schwarzen T-Shirt, als er mir ein Stück Donut reichte, dann leckte er sich noch mehr Zucker von den Fingern und setzte sich neben mich – dicht neben mich. Trotz der Donuts blickte Fish auf der anderen Seite des Ganges dunkel wie eine Sturmwolke, und ein Schatten fiel auf die Sonne. Will schaute besorgt von Fish zu Lester zu mir.
»Lester sagt, er muss noch einen Zwischenstopp einlegen, bevor wir nach Salina fahren, Mibs«, sagte er. »Ich glaub, er muss irgendeiner Frau Geld aus den Bibelverkäufen geben, und es liegt auf dem Weg. Aber er hat versprochen, dass er uns bald zum Krankenhaus bringt – es dauert nur ein paar Stunden.« Will versuchte mich zu beruhigen. Er wusste, wie eilig Fish, Samson und ich es hatten, zu unserem Poppa zu kommen, und er war unsicher, was passieren könnte, wenn wir noch unzufriedener und ungeduldiger wurden.
Ich hielt das Donutstück vorsichtig zwischen zwei Fingern und sah zu, wie der Puderzucker auf meinen Schoß schwebte, während der Bus ruckelnd und röhrend wieder erwachte. Es dauerte so endlos, endlos lange, bis wir zu Poppa kamen; noch ein paar Stunden in dieser Ungewissheit und Angst fühlten sich an wie Tage, Monate oder Jahre mit alltäglichen Sorgen – alltägliche Sorgen wie zum Beispiel die Frage, was ich mit einem gewissen Jungen mit lockigen Haaren machen sollte.
Will aß seinen Donut auf und verzog das Gesicht, er sah ärgerlich und verlegen aus. Er langte unter sein Bein und zog eine Kugel aus Zeitungspapier hervor, auf der er gesessen hatte. Irgendetwas an dem zerknüllten Hochglanzpapier stach mir ins Auge. Ich stopfte mir das Donutstück in den Mund und nahm Will die Papierkugel aus der Hand; ich musste ein bisschen husten, weil ich Puderzucker eingeatmet hatte. Ich faltete das Papier auseinander, strich es auf dem Schoß glatt und achtete nicht darauf, dass Wills Knie dabei gegen meins stieß. Auf dem Blatt war das Titelbild mit dem menschlichen Herzen, das so aussah wie eine große matschige Wassermelone, die von feinen, blassen Wurzeln durchzogen war. Als ich das Bild zum ersten Mal gesehen hatte, hatte ich gefunden, dass das Herz darauf zart und zerbrechlich aussah, so gar nicht der kräftige Muskel, wie ich es gelernt hatte. Jetzt begriff ich, dass es beides war.
Mit diesem Gedanken im Kopf wandte ich mich zu Will und mein Herz schlug poch-poch-poch gegen meine Rippen. Ich wollte, dass Will junior mir genau zuhörte. Ich rückte ein Stück von ihm ab, legte das zerknitterte Bild zwischen uns und nahm sein Gesicht in die Hände, wie Lester es bei Lill gemacht hatte. Den Kopf eines anderen wie einen Basketball in den Händen zu halten, fühlte sich längst nicht so unangenehm an, wie ich gedacht hätte, obwohl es mir furchtbar peinlich gewesen war, Lester und Lill so zu sehen. Aber ganz anders als bei den beiden vorhin waren diesmal keine Küsse im Spiel.
Stattdessen schaute ich Will direkt in die Augen, ohne darauf zu achten, wie Fish uns von seinem Platz aus anglotzte. Will erwiderte meinen Blick, verwundert, und ich spannte meinen Herzmuskel an, denn ich fühlte in meinem Innern etwas zittern wie die blassgrüne Knospe einer Blume, die gerade ihr Frühlingserwachen erlebt. Doch was es auch war, es war noch zu neu, um es erblühen zu lassen, es brauchte Zeit, um Wurzeln zu bilden. Eines Tages würde ich blühen wie verrückt, und dann würde ich alles haben, was ich brauchte, um mich aufrecht zu halten.
»Ich mag dich, Will«, sagte ich. »Vielleicht mag ich dich sogar ganz richtig. Aber ich bin noch nicht so weit, dich zu küssen, weißt du?« Mein Herz klopfte so heftig von dem wahnsinnigen Wirrwarr der wahren Worte, dass es kurz vorm Zerspringen war. Ich war zuversichtlich, dass Will ein kräftiges Herz hatte, und dachte mir, dass er sich nicht in eine matschige Wassermelone verwandeln würde, nur weil ich noch nicht bereit war, ihn zu küssen. Aber wir waren Freunde und das wollte ich nicht kaputt machen.
Ich ließ Wills Gesicht los und er hörte auf, mit seinem Knie an meins zu stoßen. Sein Lächeln verrutschte und sein blaues Auge verlieh ihm ein bockiges, rüpeliges Aussehen, das ich nicht so ganz deuten konnte.
»Na gut, Mibs«, sagte er. »Dann gib mir den Stift wieder.«
»Meinen Geburtstagsstift?«, fragte ich, überrascht und auf einmal ziemlich verzagt. Will zog vielsagend die Augenbrauen hoch und streckte die Hand aus. Ich bekam einen Kloß im Bauch und meine Unterlippe begann zu zittern. Ich fühlte mich jünger als jung und die ganze Verwurzelung und das Erwachsenwerden, an denen ich mich gerade versucht hatte, schienen mir zu entgleiten, als ich in die Tasche meines Festtagskleides langte. Ich fasste an der eingewickelten Seife vorbei, die ich mir heute Morgen so frohgemut gesichert hatte und die jetzt zu meinem Kummer zerbrochen war. Ich fasste tiefer und schloss die Finger um meinen schönen, schicken Geburtstagsstift mit dem silbernen Griff und der glänzenden runden Kappe.
Ich konnte Will nicht anschauen, als ich ihm den Stift hinhielt. Stattdessen starrte ich aus dem Fenster, achtete nicht auf Fishs zufriedenen Gesichtsausdruck und versuchte das Zittern meiner Lippen zu beenden, versuchte mir zu sagen, dass ich eine blöde Zauderziege war, mich so zurückgewiesen zu fühlen, wo ich doch diejenige war, die zurückgewiesen hatte. Ich sah, wie die Hügel am Busfenster vorbeiglitten wie wogende Weizenfelder. Ich spürte, wie Will mir den Stift aus der Hand nahm, und hörte, wie er mit einem schnellen metallischen Pling die Kappe abzog.
Einen Augenblick später hatte ich eine Stimme im Kopf wie eine tieftönende Glocke, und sie hallte in meinen Ohren nach.
Ich kann warten.
Ich kann warten.
Ich kann warten.
Ich wandte mich wieder zu Will, der mich anschaute und die rechte Hand erhoben hatte, wie zum Schwur oder als würde er aufzeigen – eine blaue Sonne auf seiner Handfläche, die mich anlächelte.
»Keine Sorge, Mibs«, sagte er laut.