32. Kapitel

 

Die nächste Stunde war das reine Chaos. Wenige Augenblicke nachdem die ersten patschnassen Polizisten Carlenes Wohnwagen gestürmt hatten, erschienen weitere Streifenwagen auf der Bildfläche. Ermittler drängten sich durch den Wohnwagen und durch den Heartland-Bibelbus. Als der Regen aufhörte und der Himmel wieder klar wurde, strömten neugierige Nachbarn, die alle einen ruhigen Sonntagnachmittag zu Hause verbrachten und sich über ein bisschen Live-Unterhaltung freuten, in die Straße und schauten zu, wie der Sturm verebbte und sich das Drama abspielte. Jemand nahm Carlene den Besen ab, und die drei Erwachsenen – Lester, Lill und Carlene – wurden hinausgeführt und von der Polizei befragt. Eine Sozialarbeiterin von der Fürsorge, eine Frau mittleren Alters mit grauer Hose und flachen Schuhen, stellte sich schützend vor uns Kinder. Überall um uns herum wurde geredet, aber die Stimmen waren nicht in meinem Kopf, so dass ich sie ausblenden und mich ganz auf Samson konzentrieren konnte.  

Bobbi, Will und Fish saßen nebeneinander auf Carlenes Sofa. Bobbi lümmelte sich in den Kissen und gab sich demonstrativ angeödet, ließ Kaugummiblasen zerplatzen und riss neuen Kaugummi ab, was die Sozialarbeiterin offensichtlich nervte, während Will sehr aufmerksam das Kommen und Gehen der Polizisten beobachtete. Fish sah blass aus; sobald wir Samson gefunden hatten, hatte sich sein Sturm gelegt, doch er war völlig erschöpft von der Anstrengung, ihn zu bezwingen.  

Samson und ich saßen vor den anderen ans Sofa gelehnt auf dem Boden. Samsons bekritzelte Hand lag in meiner, den Kuli hielt er immer noch fest umklammert. Ab und zu schnappte ich in dem Kuddelmuddel seiner Gedanken ein Wort oder einen Satz auf, und so ungereimt und melodiös, wie seine Worte waren, wurde seine Stimme schon bald zu einer beruhigenden Hintergrundmusik.  

Bald kamen Sanitäter herbei, sie boten uns Decken und Wasser an und untersuchten uns alle, stellten jede Menge Fragen und machten Aufnahmen von Wills blauem Auge und Fishs zerkratztem Gesicht.  

Immer wieder versuchten wir zu erklären, was passiert war, während die Leute sich Notizen machten. Ich versuchte der Polizei, der Sozialarbeiterin und den Sanitätern zu erklären, dass das alles nur meine Schuld war. Ich versuchte ihnen zu erklären, wie wahnsinnig wichtig es war, dass wir zu Poppa kamen – und zwar bald! All die wertvollen Minuten, die jetzt verstrichen, waren Minuten mit ihm, die wir verpassten.  

»Ich übernehme die Verantwortung!«, wiederholte ich verzweifelt. »Es war meine Idee, nach Salina zu fahren. Meine Idee, heimlich in den Bus einzusteigen. Es war sogar meine Idee, Lill vorzumachen, wir würden zu Hause anrufen«, sagte ich. Die Erwachsenen hörten auf ihre Erwachsenenart zu und nickten und machten hm-hm und aha. Aber ich hatte nicht so richtig das Gefühl, dass irgendwer mir glaubte … und dabei hatte ich noch nicht mal meinen Schimmer erwähnt.  

Ich hatte Angst, dass es für Lester und Lill übel enden würde; mir war ganz elend vor Sorge um sie und ich schämte mich dafür, dass wir sie so hintergangen hatten. Ich hatte nicht besonders gut auf sie aufgepasst.  

Für Carlene sah die Zukunft auch nicht gerade rosig aus – dass sie Samson in ihre Rumpelkammer gesperrt hatte und so. Aber über sie zerbrach ich mir nicht weiter den Kopf. Sie war nur ein fieser, fauler Apfel.  

»Wissen Sie irgendwas über Poppa?«, fragte ich die Sozialarbeiterin mit der grauen Hose; ich hoffte, dass sie mir vielleicht etwas sagen könnte. »Können wir bald zu ihm?« Doch die Frau antwortete nur mit einem bedauernden routinierten Lächeln und schüttelte den Kopf. Ganz gleich, was oder wen ich fragte, ich bekam immer nur zu hören »Das wissen wir noch nicht« oder »Wir werden sehen« oder, noch schlimmer, »Bitte verhalte dich einfach ruhig und lass die Polizei ihre Arbeit machen«.  

Das Tohuwabohu war noch lange nicht überstanden. Jetzt kam die Polizei von Kansas herbei und verstopfte die zugeparkte Straße mit zwei weiteren Fahrzeugen. Ich konnte sie von meinem Sitzplatz aus durch die aufgebrochene Tür sehen. Allmählich befürchtete ich, wir würden nie mehr nach Salina kommen. Es sah zunehmend danach aus, als sollten Pastor Meeks und Miss Rosemary kommen, uns alle in Manhattan abholen und mit zurück nach Hebron nehmen. Aber das durfte nicht passieren. Wir hatten es zu weit gebracht, um jetzt einfach wieder nach Hause zu fahren.  

Einer der Polizisten stieg in Windeseile aus seinem glänzenden silbernen Wagen aus und setzte nicht einmal seinen komischen eingedellten Hut auf. Das kleine Stück bis zum Wohnwagen rannte er. Seine dunklen Haare waren ratzekurz geschnitten, und sein junges Gesicht war angespannt vor Sorge. Der Polizist kam mir bekannt vor, und jetzt fiel mir auf, dass er eine ältere, rasiertere und muskulösere Ausgabe von Will junior war. Das musste Wills und Bobbis Bruder Bill sein.  

Ich habe noch nie jemanden so erleichtert gucken sehen wie Bill in dem Moment, als er uns alle gesund und munter im Wohnzimmer antraf.  

»Bill!«, rief Bobbi und sprang zusammen mit Will auf, sobald sie den Mann kommen sahen. Bobbi stürmte voraus und schlang ihrem großen Bruder die Arme um die Brust. Will blieb ein bisschen unsicher zurück.  

»Alles klar, Roberta?«, fragte Bill.  

»Ja, mir geht’s gut«, sagte sie, ließ ihn los und trat einen Schritt zurück.  

Kaum hatte Bill Bobbi losgelassen, da packte er Will, umarmte ihn ganz fest und sah so aus, als wollte er ihn nie mehr loslassen. Er hielt ihn immer weiter fest.  

»Was hast du dir bloß dabei gedacht, mein Junge?«, flüsterte Bill liebevoll. »Wolltest du etwa so einen Ärger kriegen, wie dein Alter ihn immer hatte? Versuch nicht, so wie ich zu sein, Will. Dafür bist du zu schlau.«  

Es dauerte einen Moment, bis ich umgedacht hatte. Anscheinend hatte ich danebengelegen wie nur was, als ich dachte, Will junior sei Bobbis Bruder.  

Will hatte ein Geheimnis. Jetzt kannte ich es.  

Es kam mir in den Sinn, dass Bill unheimlich jung gewesen sein musste, als Will geboren wurde. Ich sah Miss Rosemary vor mir, bei der immer alles picobello blitzeblank sein musste, wie sie die Erziehung ihres Enkels übernahm. Immerhin kapierte ich jetzt, was es mit Will junior auf sich hatte.  

Als Bill seinen Sohn endlich losließ, wischte er sich Tränen aus den Augen, rang um die einem Polizisten angemessene Haltung, und ich witterte eine Chance, meine Geschichte endlich jemandem zu erzählen, der vielleicht zuhörte.  

»Officer Meeks? Öhm, Mr … Bill … Sir?« Ich hatte keine Ahnung, was die richtige Anrede war, aber als er sich mir zuwandte, stammelte ich weiter, denn ich wusste, dass ich für Lill und Lester eintreten musste, ich musste sie aus dem Schlamassel befreien, in den ich sie hineingeritten hatte. »Sir, Sie müssen mir einfach glauben – das ist alles meine Schuld! Ich wollte nur zu meinem Poppa!« Und mit diesen Worten brach ich in Tränen aus.