7. Kapitel
Zankende Stimmen weckten mich. Ich war immer noch dumpf und dösig im Kopf, und rund um mich her wurde gestritten. Ich lag auf dem blaukarierten Sofa in Pastor Meeks’ Büro. Der Pastor umklammerte eine große rosa Bibel und brüllte einen Mann an, der so dünn war, dass er sich hätte verdoppeln müssen, um einen Schatten zu werfen.
»Das hier …« Pastor Meeks schlug mit einer schweren Hand auf die große rosa Bibel. »Das hier! Das habe ich nicht bestellt!«
»Ich b-bin nur der Bote, Sir«, stammelte der Mann mit zuckenden Schultern. Der Bote trug eine Latzhose mit einem Button-Down-Hemd und eine fleckige rosa Krawatte. Am linken Träger der Latzhose steckte eine verwelkte Nelke und die schütteren Haare hatte der Mann wie eine Matte über den Kopf gekämmt. Er hatte ein freundliches, trauriges Gesicht – das Gesicht eines Mannes, der gerade seinen Hund verloren hat –, und er hielt ein Klemmbrett vor sich wie einen Schild. Doch weder sein Klemmbrett noch sein trauriges Gesicht konnten den Mann vor dem polternden Gebrüll des Predigers schützen.
»Als ich die Bibeln bestellt habe, hat mir keiner gesagt, dass sie rosa sind!«, schimpfte Pastor Meeks. »Was glauben Sie, was wir sind? Eine Kirche voller weichgespülter Waschlappen?«
Die Schultern des Boten zuckten schon wieder, als wollte er verhindern, dass die Träger seiner Latzhose runterrutschten. Er brachte nicht mehr heraus als »Also …« oder »Nein …« oder »Wenn Sie dann bitte hier unterschreiben würden …«, bevor der Prediger ihm wieder ins Wort fiel.
Auf der anderen Seite des Zimmers, vor dem großen Eichenschreibtisch, stritt Fish mit Miss Rosemary, ihnen gegenüber döste Opa Bomba in dem großen Ledersessel des Pastors.
»Mibs braucht keinen Arzt, Miss Rosemary«, sagte Fish immer wieder und griff nach dem Telefon in ihrer Hand. »Sie muss einfach nur nach Hause. Und zwar sofort!« Fishs Wind pfiff durch das Büro, fegte Papiere vom Schreibtisch und ließ allen die Haare auf dem Kopf tanzen; das schüttere Haar des Boten flatterte wie ein Bettlaken an der Wäscheleine.
»Diese Entscheidung musst du schon den Erwachsenen überlassen, junger Mann«, beharrte Miss Rosemary und versuchte Fish das Telefon zu entwinden. Doch die umherfliegenden Papiere und der unerwartete Wind im Zimmer irritierten sie, und sie bekam es nicht richtig zu fassen.
»Roger! Roger! Kannst du nicht mal einen Augenblick die Bibeln vergessen und mir helfen?«, rief Miss Rosemary ihrem Mann zu, aber der war zu sehr in seinem Ärger über die Kisten mit waschlappigen Bibeln gefangen, um auf sie zu achten.
»Wenn das unbedingt ein Erwachsener entscheiden soll, dann fragen Sie doch unseren Großvater!«, schrie Fish. Er schaffte es schließlich, das Telefon ganz zu erobern, und kletterte über Pastor Meeks’ Schreibtisch, wobei er Bilderrahmen und Briefbeschwerer zu Boden warf. Fish stellte sich neben Opa Bomba, der immer noch vornübergebeugt in dem Ledersessel saß. Mein Bruder hielt das Telefon hoch über dem Kopf, als wollte er zu Miss Rosemary sagen: Komm doch und hol’s dir. »Sag es ihr, Opa«, sagte Fish.
Unglücklicherweise war Opa Bomba, da er ja ein alter Mann war, eingeschlafen und schnarchte leise. Miss Rosemary warf triumphierend den Kopf zurück, die Hände in die Seiten gestemmt.
»Roger! Ich brauche deine Hilfe!« Miss Rosemarys Stimme wurde schrill. Ich wusste, dass es diesmal viel schlimmer für uns enden würde als damals, als Fish und Rocket im Gemeindesaal roten Punsch über dem ganzen Teppich verschüttet hatten.
Ich setzte mich auf, mir war immer noch schwummrig.
Dann, als wären zwei Streitereien nicht genug, kam plötzlich ein dritter Krach aus dem Nichts und überlagerte die beiden anderen. Von dem blaukarierten Sofa aus konnte ich nicht sehen, woher die anderen Stimmen kamen. Aber zu meinem Entsetzen hörte es sich ganz so an, als kämen sie aus meinem Kopf. Es war so, als hockten zwei zänkische Zicken hinter meinen Augen.
»Das ist alles deine Schuld, Carlene, das weißt du auch, oder?«, sagte die erste Stimme, jammernd und nasal.
»Es ist nicht meine Schuld, dass dein Sohn so ein Schwachkopf ist, Rhonda – du alte Schrulle«, schoss die zweite zurück. Es war eine tiefere, rauchigere Stimme, die jünger klang als die erste. Ich schaute mich im Zimmer um. Ich konnte niemand anderen entdecken. Wie Flipperkugeln hüpften die Stimmen in meinem Schädel herum.
»Du hast ihm doch eingeredet, er soll für deinen Cousin Larry Bibeln ausliefern, statt den Job als Kaffeeverkäufer am Busbahnhof anzunehmen. Kaffee kaufen die Leute jedenfalls.«
»Und Bibeln nicht?«
»Keine rosanen!«
Mir schwirrte der Kopf von den Stimmen, die zu niemandem zu gehören schienen. Ich saß immer noch auf dem Sofa, stützte den Kopf in die Hände und fragte mich, was mit mir los war. Ich erinnerte mich, dass ich in die Küche gegangen war und Bobbis Tattoo gesehen hatte. Bobbis Tattoo, wie es sich bewegte. Ich hatte Bobbis Tattoo sprechen gehört. Was hatte es noch gesagt?
»Sie ist wirklich sehr einsam, weißt du …«
Ich versuchte bei dem Lärm so vieler keifender Stimmen in meinem Kopf und drum herum zu denken. Ich kapierte das alles nicht. Das fühlte sich ganz verkehrt an. Was war mit meinem Schimmer passiert? Opa schlief und ich hörte Stimmen. Zunehmend panisch starrte ich Opa Bomba an, der im Sessel des Predigers schlummerte. Ich nahm meine ganze Willenskraft zusammen und versuchte meinen Opa zum Aufwachen zu bewegen. Aber der Lärm im Zimmer war zu viel für mich, ich konnte mich nicht konzentrieren. Konnte nicht denken. Wenn alle mal die Klappe halten würden, dann könnte ich es vielleicht hinkriegen, dass mein Schimmer funktionierte.
Ich hielt mir die Ohren zu und versuchte vergeblich, die Geräusche auszublenden. Ich musste hier weg. Ich musste zum Salina Hope Hospital. Ich musste meinen Poppa finden, damit mein Schimmer einrastete und richtig funktionierte. Poppa brauchte mich.
Keiner im Zimmer hatte bemerkt, dass ich aufgewacht war. Pastor Meeks stand mit dem Rücken zu mir. Er warf rosa Bibeln in Kisten und schob sie über den Boden zu dem Boten. Miss Rosemary und Fish liefen um den Tisch des Predigers herum, sie stritten sich immer noch um das Telefon. Und die Frauenstimmen in meinem Kopf spielten ein endloses Pingpong von Schuld und Vorwurf, das wie Blut in meinen Ohren pochte.
Will junior spähte durch den Türspalt herein. Als er sah, dass ich wach war, lächelte er erleichtert. Ich wollte nur raus aus dem Zimmer. Weglaufen.
Ich wartete auf den richtigen Moment, bis ich sicher war, dass keiner sah, wie ich aufsprang, aus dem Büro des Pastors huschte und all die Streitereien hinter mir ließ. Als ich aus dem Zimmer floh, stellte ich beruhigt fest, dass die Stimmen von Carlene und Rhonda, den beiden unsichtbaren Damen, verklangen. Wer sie auch waren – was sie auch waren –, sie verfolgten mich nicht. Vor der Tür legte Will junior mir wieder eine Hand auf die Schulter, aber diesmal fühlte es sich nicht so seltsam an. Er hatte den obersten Knopf seines Hemdes aufgemacht, und jetzt sah er nicht mehr so erwachsen aus, eher wie ein vierzehnjähriger Junge. Er hielt das geschenkverpackte Schreibset in den Händen, das ich fallen gelassen hatte, als ich ohnmächtig wurde.
»Wie geht es dir, Mibs?«, fragte er und sah mich mit seinen dunklen Augen besorgt an.
»Ich muss hier weg«, sagte ich verzweifelt. »Du musst mir helfen zu verschwinden.«