14. Kapitel
Was war an meiner Familie denn nun so besonders? Ich wusste nur, dass das Anderssein durch unsere Adern fließt. Opa hatte es mir vor Jahren erklärt, kurz nach Oma Dollops Tod, lange bevor wir nach Kansaska-Nebransas gezogen waren. Er nahm mich mit zu einem Strandspaziergang, hielt meine Hand mit seiner knotigen Hand und erzählte mir, wie die außergewöhnlichen Gaben unserer Familie weitervererbt werden.
Opa erzählte Geschichten von unseren Vorfahren und von nahen und entfernten Verwandten. Der Name Beaumont kam von Poppa, und die Familien in Opas Geschichten hießen Yeager und Mendelssohn und Payne, Danzinger, O’Connell und Beacham. Er sprach von Cousins und Tanten und Neffen und Nichten, die ihre Schimmer für gute Zwecke eingesetzt hatten, und von jenen, die sich anders entschieden hatten – wie Oma Dollops jüngste Schwester Jubilee, die jedes Schloss öffnen konnte und ihr Talent dazu nutzte, Dinge in ihren Besitz zu bringen, die ihr nicht gehörten.
»Ein Schimmer ist keine Krankheit, Mibs«, sagte Opa. »Und es ist auch keine Hexerei oder Zauberwerk. Dein Schimmer liegt dir im Blut. Es ist etwas, was du geerbt hast, wie deine braunen Augen oder die langen Zehen deiner Großmutter oder ihr Talent zum Polkatanzen.« Oma Dollop war ganz verrückt nach den Um-ta-ta-Klängen der Polka und hatte bis zu ihrem Tod viele Gläser voll davon gesammelt, Momma hatte sogar noch ein oder zwei davon auf unseren Küchenschränken in Kansaska-Nebransas stehen, und nach dieser Musik tanzte Gypsy am liebsten mit ihren ausgedachten Geschöpfen.
Aber nachdem Opa Oma Dollop erwähnt hatte, war es mit den Geschichten erst mal vorbei an jenem Tag am Strand. Die Erinnerung an sie stach noch zu sehr. Wenn ich auf Opas Gefühle nicht Acht gab, konnte es passieren, dass die Erde von seinem Kummer grollte, dass sich die Gehwege wölbten und die Gartenzwerge des Nachbarn in den nächsten Garten wanderten. Ich tat so, als ob ich die Tränen auf Opas Wangen nicht bemerkte, während wir weiter am Strand spazierten. Doch den ganzen Heimweg lang hielt ich seine Hand fest in meiner.
Momma sagte, ganz viele normale Leute hätten auch einen Schimmer, aber die meisten würden ihn gar nicht erkennen. »Manche Menschen wissen, dass sie anders empfinden, Mibs«, sagte Momma. »Aber die meisten wissen nicht so genau, woran das liegt. Da ist vielleicht jemand, der so leckere Erdbeermarmelade kochen kann, dass alle ganz verrückt danach sind. Ein anderer weiß vielleicht genau, wann man den Mais pflanzen muss, damit er am heißesten Sommertag süß und saftig ist.« An dieser Stelle hatte Momma gelacht, und ich hatte nicht so recht gewusst, ob sie die Wahrheit sagte oder ob sie mir einen Bären aufband. »Es gibt sogar Leute, die sich nie mit Matsch bespritzen, auch nach strömendem Regen nicht, und solche, die den ganzen Sommer über keinen einzigen Mückenstich haben.«
Doch als ich größer wurde, begriff ich allmählich, dass ein Schimmer einfach eine andere Art Wissen ist. Manche Leute werden als Wunderkinder oder Genies bezeichnet, weil sie so unglaublich gut Rätsel lösen oder musizieren können, oder sie können die Ziffern der Zahl Pi auswendig hersagen, 3,141592653…, stundenlang und immer so weiter, ohne zu überlegen. Andere können schnell rennen und gewinnen Medaillen, und wieder andere können jedem alles Mögliche aufschwatzen. Das alles ist nur eine Art Spezialwissen.
Bei uns Beaumonts und unseren Verwandten ist es gar nicht so viel anders. Wir haben nur einen Namen für unsere Talente, und es gibt einen ziemlich genauen Zeitpunkt, an dem sich unser Erbe und unser Wissen einschaltet und wir lernen müssen damit umzugehen – unseren Schimmer entweder einzusetzen oder zu umschiffen. Als Will junior mich jetzt fragte, buff-peng, wie eine Kugel aus einer Luftpistole, was an meiner Familie besonders sei, da erzählte ich ihm, was meine Verwandten den Leuten seit Generationen erzählen, wenn sie sich Fragen gegenübersehen, die beantwortet werden müssen.
»Wir Beaumonts sind genau wie alle anderen, Will.« Ich leierte die Worte herunter, als spräche ich den Fahneneid. »Wir werden geboren, und irgendwann später sterben wir. Und in der Zwischenzeit sind wir glücklich und traurig, wir empfinden Liebe und Angst, wir essen und schlafen und wir haben Schmerzen wie alle anderen.«
»Und?«, sagte er, so einfach wollte er mich nicht davonkommen lassen.
»Nichts und. Unser Wissen hat nur eine etwas andere Note als das der meisten.«
»Worin besteht denn dein ›Wissen‹, Mibs?«, sagte er und beugte sich noch näher zu mir.
»Also, ich möchte jetzt mal wissen, wann ich mein Pflaster kriege, sonst werde ich ungemütlich.« Vor uns stand Fish, er hielt sich an den Lehnen der Sitze fest, um in dem Rumpelpumpelbus nicht umzukippen. Er schaute mich an wie eine drohende Sturmwolke, und sein Blick sagte: Wehe, du verrätst was! Wehe!
Ich starrte ihn wütend an. Wie ich so zwischen den beiden Jungen gefangen war und zwischen meinen Ängsten davor, ein Geheimnis zu verraten oder auch nicht, zuckte ich abschätzig die Schultern. »Mehr kann ich dir nicht sagen«, sagte ich schließlich zu Will.
Die Familienregel lautete: Halt den Mund. Niemand verrät etwas, es sei denn, er ist dazu gezwungen oder er heiratet und gründet eine Familie. Es ist immer besser, demjenigen, mit dem man sich zusammentut, zu erzählen, dass die Kinder, die man bekommen wird, womöglich die Fähigkeit entwickeln werden, durch Wände zu gehen oder auf dem Klavier des Nachbarn zu spielen, ohne es zu berühren.
Poppa war in der Navy gewesen und er war in Gulfport, Mississippi, stationiert, als er Momma auf einem Straßenfest zum Labor Day in der Nähe vom Strand kennenlernte. Momma war damals erst siebzehn, und sie war mit ihrer älteren Schwester Dinah ans Meer gefahren. Unsere Tante Dinah war nicht vollkommen wie Momma. Dafür konnte sie die Leute dazu bringen, das zu tun, was sie sagte. Auf ein Wort von Dinah hörten Babys auf zu weinen. Mürrische pubertierende Jungs rissen sich am Riemen und umarmten ihre Mütter. Selbst der stieseligste Stoffel schwang das Tanzbein, wenn Dinah ihn darum bat. Momma sagte, Dinah hätte sogar schon mal einen Bankräuber aufgehalten, sie hatte ihm einfach gesagt, er solle sich hinsetzen und ruhig warten, bis die Polizei käme. Wir alle hatten Tante Dinah furchtbar gern, aber wir waren sehr froh, dass sie nicht unsere Momma war.
An jenem Tag auf dem Straßenfest wusste Poppa noch nichts von Leuten mit einem Schimmer wie Momma und Dinah. Er und seine Navy-Kameraden waren auf Urlaub und amüsierten sich, sie stolzierten in ihrer Seemannsuniform herum und pfiffen den Mädchen hinterher. Aber kaum hatte Poppa Momma gesehen, war es um ihn geschehen, er sah sofort, dass sie ein vollkommenes Mädchen war.
Sie lernten sich beim Ringewerfen kennen. Momma wollte eigentlich gar nicht mitmachen, sie sagte zu Dinah, es sei unfair – sie wusste, dass sie jeden Ring mit vollkommener Sicherheit über einen wackelnden, zuckenden Stab werfen konnte, und sie hielt nichts davon, ihren Schimmer öffentlich vorzuführen. Dinah lachte und bestand darauf, dass Momma mitmachte – und damit war die Sache geritzt. Es dauerte nicht lange und Momma war von einer Menschenschar umringt, die zuschaute, wie Momma jedes Mal gewann – und in dieser Schar standen auch Poppa und seine Kameraden.
Nachdem Poppa zugesehen hatte, wie Momma fünfzehn Stäbe hintereinander getroffen hatte, zwängte er sich durch die Menge und machte sich direkt an Momma heran.
»Hör mal«, sagte Poppa ihr übermütig ins Ohr und rieb sich mit den Fingerknöcheln über das Kinn. »Wenn du den nächsten auch noch triffst, kaufe ich einen Ring und heirate dich.« Mit einem listigen Lächeln nahm Momma noch einen Ring und zielte ganz genau. Sie betrachtete den Stab und warf den Ring mit einer geschickten Drehung. Alle verstummten, als der schmale Metallreifen zu den Reihen ruckender, schwankender Stäbe flog … und sie knapp verfehlte, an die Stäbe klirrte und zu Boden fiel. Daneben, vollkommen.
Momma zog eine Augenbraue hoch und schaute Poppa mit einem entschuldigenden Achselzucken an, aber allzu bedauernd sah sie nicht aus. Dinah ließ ihren Schimmer spielen und sagte zu Poppa, er solle abhauen, aber Poppa lächelte nur. Poppa hatte noch nie so leicht aufgegeben, selbst wenn Tante Dinahs Wille im Weg war. Genau gesagt gab Poppa niemals auf, wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, und das sagte er Momma auch ohne Umschweife.
An dem Tag, als Poppa Opa Bomba und Oma Dollop um ihren Segen für die Heirat mit Momma bat, erfuhr er auch, dass manche Leute nicht ganz so sind, wie man denkt. An dem Tag schuf Opa für Poppa und Momma zweieinhalb Hektar Land, auf dem sie ein Haus bauen konnten – ihre neuen Nachbarn schob er alle nach Osten und Westen –, und Oma Dollop fing dem jungen Paar ein Liebeslied in einem Glas ein, damit sie es bei jeder Gelegenheit hören konnten. Das Glas stand immer auf dem Kaminsims, und hin und wieder schraubten Momma und Poppa den Deckel los, und dann erfüllte das endlose Lied das Haus.
Von dem Lied bekam ich immer gute Laune, und in dem rosa Bus hätte ich es gern bei mir gehabt. Fish und Will schossen wütende Blicke hin und her wie einen Fußball, und ich fürchtete schon, sie würden ihren Zweikampf direkt wieder aufnehmen. Ich wollte Fish gerade sagen, er solle sich wieder hinsetzen, als Lester voll auf die Bremse stieg. Der große rosa Bibelbus stöhnte und bebte wie ein Wal, der am Schwanz gepackt wird, Fish ruderte prustend mit den Armen und landete mit dem Hintern in einer Lawine aus Bibeln und Kisten. Ein wütendes Hupen ertönte und ein Auto sauste um uns herum; wir standen mitten auf der dunklen Landstraße.
Lester schaltete die roten Blinklichter des Busses ein und fuhr mit einem Hebel das Stoppschild des Busses aus, um die wenigen Autos zu warnen, die auf dieser verlassenen Straße unterwegs waren. Dann öffnete er die quietschende Tür, stand auf, ohne ein Wort zu sagen oder auch nur in unsere Richtung zu schauen, steckte sein Hemd in die Latzhose und stieg aus.