12. Kapitel

 

Ehe die blaue Kulisonne ein Wort sagen konnte, hatte ich mich schon wieder aufgerappelt und rannte weg von Will junior und dem baufälligen Haus. Ich rannte an Lester Swan vorbei, der immer noch auf der Kirchentreppe saß, vorbei an Bobbi mit ihrem Kaugummi. Die Stufen rauf, rein in den Bus, schnell an Fish vorbei, der mürrisch vorn auf dem Sitz kauerte. Ich hielt erst an, als ich mich unter das Feldbett hinten im Bus gequetscht hatte, neben Samson, der wortlos zur Seite rutschte, als hätte er mich erwartet. Ich steckte mir die Finger in die Ohren. Ich kniff die Augen zu und machte summ, summ, summ, summ.  

Es nützte nichts. Ich konnte sie immer noch alle hören. Als Lester und Bobbi wieder in den Bus stiegen und sich fragten, was ich hatte, hörte ich sie alle in meinem Kopf, Carlene, Rhonda und den kleinen Engel mit dem spitzen Teufelsschwanz. Aber jetzt hörte ich dazu noch eine neue Stimme, die Stimme der lachenden blauen Sonne, die immer lauter wurde wie eine tieftönende Glocke, als Will junior in den Bus kam.  

»Ein Geheimnis für ein Geheimnis für ein Geheimnis … Will hat ein Geheimnis. Willst du es wissen?«  

Weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, rief ich: »Will junior, du musst dir die Hand waschen!«, obwohl es dämlich klang, das merkte ich selber, als meine Stimme über den Lärm in meinem Kopf hinweg durch den ruhigen Bus hallte. Ich wollte Wills Geheimnis nicht wissen. Ich wollte nichts wissen, was nicht für mich bestimmt war.  

»Mibs? Alles in Ordnung?«, rief Will, als er durch den Gang kam, und je näher er kam, desto lauter wurde die Stimme der lärmigen blauen Sonne.  

»Will hat ein Geheimnis …«   

»Bleib mir vom Leib!«, schrie ich.  

Fish, der sah, wie aufgebracht ich war, versuchte gar nicht erst herauszufinden, worum es ging, er rannte Will junior hinterher, wirbelte ihn herum und schlug ihn fest mit der Faust aufs Auge. Will stolperte rückwärts in den Gang. Jetzt mischte Bobbi sich in die Rauferei, sie kletterte über die Sitze, stürzte sich auf Fish und kratzte ihm mit den Fingernägeln über die Wange.  

Fish achtete überhaupt nicht auf Bobbi, er drängelte sich hinter Will junior her und fragte: »Was hast du meiner Schwester getan? Was hast du ihr getan?«  

»Will hat ein Geheimnis … Willst du das Geheimnis wissen?«  

»WASCH DIR DIE HAND, WILL JUNIOR!«, schrie ich wieder, jetzt noch lauter, damit er mich über das Gerangel und das Klirren von zersplitterndem Glas hinweg hörte. Als der Druck bei Fish zunahm, zersprangen die Scheiben in seiner Nähe, rasend schnell breiteten sich die Risse aus, wie Spinnweben, die durch die Scheiben sausten, während Fishs Brisen und Böen schneller und stärker wurden. Bobbi kreischte und Lester schrie auf, als erst eine, dann eine zweite Scheibe in Stücke sprang. Sich duckend und zuckend bei jedem neuen Knall, packte Lester die beiden Jungs am Kragen und zog und zerrte sie aus seinem Bus, Bobbi lief hinterher.  

»… ein Geheimnis für ein Geheimnis für ein Geheimnis …« Sie war jetzt leiser, aber noch immer jaulte die gekritzelte Sonne in meinem Kopf.  

»Will, bitte, wasch dir den Kuli von der Hand!«, rief ich, obwohl ich wusste, dass er mich nicht hören konnte. Fishs Wind fegte draußen über den Parkplatz und durch die Bäume an der Kirche. Eine dunkle Sturmwolke hatte sich über uns gebildet, Regen prasselte nieder. Nur gut, dass es kein größeres Gewässer in der Nähe gab, sonst hätte der Sturm über Bee Fishs Rekordsturm Konkurrenz machen können.  

Die Scherben auf dem Parkplatz knirschten unter Fishs Füßen, als er plötzlich aufhörte, gegen Lester Swan zu kämpfen, und mein Gesicht am Fenster sah. Er sah, wie ich schrie und mir die Ohren zuhielt, er sah die Tränen wie aus einem tropfenden Wasserhahn über meine Wangen laufen, endlich drangen meine Worte zu ihm durch und er hörte zu. Blitzschnell wandte er sich von mir zu Will junior, als hätte er plötzlich zwei und zwei zusammengezählt und siebenundzwanzig erhalten, während bei den meisten Leuten bloß vier herauskommt. Der Sturm ebbte ab, Fish packte Will am Handgelenk und sah die blaue Sonne in seiner Hand. Noch ein letztes Mal schaute mein Bruder von der simplen Zeichnung zu mir, wie ich jämmerlich hinter dem zerbrochenen Fenster saß. Da begriff er, dass mein Anfall mit den überraschenden Ereignissen zu tun haben musste, die eintreten, wenn ein Beaumont dreizehn wird, und er tat, was zu tun war.  

Ohne Wills Handgelenk loszulassen, bewegte er den Mund eine lange Sekunde, dann spuckte er seine fette saftige Spucke direkt in Will juniors Hand.  

»Bah, igitt!«, rief Will angewidert. »Das ist ja ekelhaft!« Er versuchte die Hand wegzuziehen, aber Fish hielt ihn fest und verrieb die Spucke, vermischte sie mit der Kulitinte, bis nur noch ein großer Schmierfleck übrig war, der dem großen Veilchen ziemlich ähnlich sah, das sich bereits um Will juniors Auge herum bildete.  

»Lass mich endlich los!«, rief Will und schlug mit der freien Faust nach Fish.  

Mit Fishs Spucke begann die neue Stimme in meinem Kopf zu gurgeln und zu gluckern, zu brodeln und zu blubbern. Geheimnis wurde zu Geibnis, dann zu Geins, und Geins glitt davon wie Wasser in einen Gully, und so war Will juniors Geheimnis gerettet und in meinem Kopf blieben nur drei Stimmen übrig.  

Lester Swan gab sein Bestes, die beiden Jungs auseinanderzuhalten und Bobbi hinter sich abzuwehren, wobei er auf den Scherben rutschte und glitschte. Sobald Fish sah, dass mein Gesicht sich entspannte und meine Schultern in ihre normale Haltung sanken – sobald er meinen erleichterten Blick sah –, zog er sich zurück, wand sich aus Lesters Griff und wich Wills Fäusten aus. Fish wusste vielleicht nicht genau, weshalb er die Kulizeichnung von Will juniors Hand entfernen musste, aber er hatte kapiert, dass es wichtig für mich war, und dafür war ich dankbar. Manchmal hatte es was für sich, große Brüder zu haben.  

Mit einer Mischung aus Ekel und Befremden wischte Will junior seine nasse, befleckte Hand an der Hose ab. Das Hemd hing ihm aus der Hose und die Haare über seinem verfärbten Auge waren wirr und zottig.  

Ich merkte, dass ich immer noch den schicken Silberstift in der Hand hielt, den Will mir geschenkt hatte. Er war bleischwer in meiner Hand. Ich verschloss ihn mit der Kappe und steckte ihn in eine meiner tiefen Rocktaschen; die Schachtel und den anderen Stift hatte ich bei dem verfallenen Haus gelassen. Ich war geschafft und müde, und ich fand es nicht besonders toll, ein Teenager zu sein. Als sich der letzte Sonnenstrahl dem tiefen Abendblau ergab, ließ ich mich im Bus auf den Boden sinken und versuchte wieder, nicht zu denken und nichts zu hören.   

»Wo ist Lester denn nun schon wieder reingeraten?«, murmelte Carlene hinter meinen Augen.  

Und Rhonda schnalzte mit der Zunge und sagte: »Er sitzt mal wieder in der Klemme, wie üblich.«