2. Kapitel

 

Später, als ich in dem dunklen Zimmer wach lag, das ich mir mit Gypsy teilte, lauschte ich dem tiefen, gleichmäßigen Atem meiner Schwester und dem unentwegten Prasseln von Fishs Sorgenregen. Ich hörte Momma und Rocket, wie sie unten Scherben auffegten und neue Glühbirnen in die Lampen schraubten. Und obwohl Opa auch schon im Bett war, grummelte hin und wieder der Boden und unter mir wackelte es, als hätte die Erde Bauchgrimmen.  

Momma und Rocket wollten früh am nächsten Morgen nach Salina fahren und in einem Motel nicht weit vom Krankenhaus übernachten. Ich hatte gebettelt, mitfahren zu dürfen, ich wollte unbedingt Poppa sehen und in einem Motel schlafen und solche in Papier verpackten kleinen Seifen haben. Aber wir mussten mit Opa zu Hause bleiben. Rocket durfte nur mit, weil der Strom in seinen Fingern das Einzige war, womit das alte Auto ansprang.  

Keiner hatte was von meinem Geburtstag gesagt. Überhaupt hatte keiner groß irgendwas gesagt. Ich lag fast die ganze Nacht wach, ich konnte einfach nicht schlafen, bis Momma mit dem Morgengrauen zu mir ins Zimmer geschlichen kam, leise »tschüs« flüsterte und mir mit ihren vollkommenen rosaroten Lippen einen Kuss auf die Wange hauchte. Ich war immer noch wütend, weil ich nicht mit nach Salina durfte, und stellte mich schlafend, und kurz darauf hörte ich, wie die Autotüren zuschlugen und der Motor dank Rockets Funken stotternd ansprang, und dann fuhren Rocket und Momma davon.  

An dem Freitag vor meinem Geburtstag sollte Fish auf Gypsy und Opa Bomba aufpassen. Ich sollte Samson wecken, ihn für die Schule fertig machen und zusehen, dass wir beide es die drei steilen Stufen hoch in den großen orangen Bus schafften, der Samson und mich die zwanzig Kilometer zur Schule in Hebron, Nebraska, fuhr. Bis zu unserem Briefkasten, der in der Nacht von Opas Rumpelsorgen drei Meter weiter westlich geschoben worden und dann umgekippt war, ging es über einen langen Moddermatschweg, und ich musste meinen Grübelbruder schieben und schubsen. Während wir auf den Bus warteten, sagte Samson nicht viel, aber das tat er ja nie.  

»Da sind Missi-Pissi und ihre Gewitterwolke«, sagte Ashley Bing jeden Morgen, wenn Samson und ich in den Bus stiegen. Und jeden Morgen wiederholte Emma Flint »Missi-Pissi!« und prustete los, als wäre es jedes Mal ein neuer, urkomischer Witz. Meine Mitschüler hatten schon an meinem allerersten Schultag herausbekommen, dass ich in Wirklichkeit Mississippi heiße, leider. Über uns Beaumonts wurde so schon genug getuschelt und gekichert. Böse Gerüchte gingen um, und ich kannte sie alle.  

»Guck mal, da kommen die Verrückten. Meine Mom hat gesagt, die mussten hierherziehen, weil einer von ihnen Riesenärger hatte.«  

»Ich hab gehört, der älteste Bruder ist von einem Blitz getroffen worden und jetzt ist er gefährlich und geht kaum aus dem Haus.«  

»Die Familie müsste eigentlich in einer Arche leben. Bei denen stürmt es fast immer; irgendwann werden die bestimmt noch weggeschwemmt.«  

Ich wusste, dass ich, wenn ich meine dreizehn tropfenden Kerzen ausgepustet hatte, der Hebron-Schule adieu sagen würde und damit auch Ashley Bing und Emma Flint und all den anderen. Nach meinem Geburtstag würde mein armer Grübelbruder Samson als einsamer Schatten hinten in dem großen orangen Bus sitzen, während ich zu Hause mit Fish und Rocket in Einmachgläsern Moos züchtete.  

Wir Beaumont-Kinder hatten es schwer, Freunde zu finden und sie zu behalten. Solange Fish und Rocket noch lernen mussten, ihren Schimmer in Schach zu halten, war es zu gefährlich, jemanden einzuladen; wir konnten nicht riskieren, dass alles herauskam oder dass jemand, falls meine Brüder die Beherrschung verloren, durch Funken oder einen Sturm verletzt wurde. Es konnte Jahre dauern, bis man einen Schimmer gezähmt hatte, und Momma und Poppa sagten, das Auf und Ab des Großwerdens mache es noch schwieriger.  

Mein letzter Tag in der Hebron-Schule war ein schleichender Schneckentag. Es war schwer, verdammt schwer, sich auf x + y = z zu konzentrieren, wenn man mit den Gedanken die ganze Zeit im Salina Hope Hospital war. Noch schwerer war es, Akzent und Achillessehne und Accessoire (A-Doppel-c-e-Doppel-s-o-i-r-e) richtig zu schreiben, während man daran dachte, wie Poppa darauf wartete, dass Momma kam und ihn mit einem Märchenkuss wach küsste, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich besonders oft in meinem Leben Accessoire schreiben musste. Aber am schwersten zu ertragen waren die Blicke und das Getuschel von Ashley Bing und Emma Flint, als die Lehrerin sagte: Jetzt möchte ich, dass wir uns alle zusammen ganz herzlich von Mibs Beaumont verabschieden. Heute ist ihr letzter Tag an unserer Schule. Ab der nächsten Woche bekommt Mibs Hausunterricht.«  

Alle drehten sich zu mir herum und sahen mich an. Keiner lächelte oder machte sonst irgendetwas Herzliches. Die meisten zuckten die Achseln und drehten sich sofort wieder um.  

»Missi-Pissi bleibt jetzt zu Hause bei ihrer Mami«, sagte Ashley, als spräche sie zu einem Baby – so leise, dass die Lehrerin es nicht hörte.  

»Bei ihrer Mami«, wiederholte Emma.  

»Sie bleibt zu Hause, damit keiner sieht, was für eine einsame Irre sie ist«, höhnte Ashley.  

»Was für eine Irre«, plapperte Emma ihr nach wie ein boshafter Papagei.  

Ashley und Emma konnten von Glück sagen, dass Momma uns zu Hause ließ, sobald unser Schimmer auftauchte. Am Ende des Schultages hoffte ich, dass mein Schimmer mir die Kraft verleihen würde, fiese Mädchen in grüne Glibberfrösche zu verwandeln oder ihnen mit einem Kopfnicken den Mund zuzukleben.  

Als Samson und ich am Nachmittag nach Hause kamen, stand vor unserem Haus ein glänzender goldener Minivan, und Fish spritzte ihn wütend mit dem Gartenschlauch ab. Ich erkannte den Wagen sofort an dem Lufterfrischer in Form eines lächelnden Engels, der vor der Windschutzscheibe baumelte. Es war der Wagen von Miss Rosemary, der Frau des Predigers.  

Trotz ihrer Angst vor Schimmer-Katastrophen bestand Momma darauf, dass die ganze Familie jeden Sonntag in die Kirche von Hebron ging, und Miss Rosemary kannten wir alle gut. Sie roch nach Sagrotan und Karamell und hatte ihre ganz genauen Vorstellungen davon, was richtig und falsch war – wie Koffer, die sie andere Leute tragen ließ –, und sie sah es als ihre Aufgabe an, dass alles und jeder so tipptopp tadellos wurde, wie der Herrgott es ihrer Meinung nach geplant hatte. Irgendwie war ihr die Nachricht, dass Poppa einen Unfall gehabt hatte und wir auf uns allein gestellt waren, schon zu Ohren gekommen. Und jetzt war Miss Rosemary hier, um alles zu regeln.  

Das Wasser sprudelte aus dem Schlauch in Fishs Hand und wirbelte um den Wagen wie ein Zyklon mitten in dem Wind, der mit Fishs schlechter Laune aufgekommen war. Die Bäume am Haus, die helles, gelbgrünes Frühlingslaub trugen, wogten und neigten sich. Als Fish uns kommen sah, ließ er den Schlauch sinken, sein Gesicht stand auf Sturm.  

»Wenn ihr schlau seid, schleicht ihr euch zur Hintertür rein.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung Haus. Wir standen alle da und schauten traurig auf unser schönes Haus, als hätten wir gerade erfahren, dass in unserer Abwesenheit ein Grizzlybär dort eingezogen war, die Polster von den Möbeln und die Bilder von den Wänden gerissen und sämtliche Minimarshmallows aufgefuttert hatte – die für besondere Gelegenheiten ganz oben im Regal über dem Kühlschrank.  

Dann lächelte Fish plötzlich sein schiefes Lächeln, als würde die Sonne durch die Wolken brechen, und spritzte mit dem Schlauch in meine Richtung. »Na, Mibs, dein letzter Schultag, hm?«  

»Letzter Tag«, sagte ich und wehrte den Wasserstrahl ab. Dann überließen Samson und ich Fish seiner Arbeit und schlichen uns leise zur Hintertür hinein – in der Hoffnung, oben zu sein, ehe Miss Rosemary uns bemerkte.  

»Euer Großvater sah müde aus, ich habe ihm gesagt, er soll sich in seinem Zimmer hinlegen und ausruhen«, sagte Miss Rosemary, kaum dass wir in die Küche kamen. Sie stand hoch oben auf der Leiter, bewaffnet mit einer Sprühdose in der einen gummibehandschuhten Hand und einem Lappen in der anderen. Sie nahm die Einmachgläser von den Schränken und wischte mit gerümpfter Nase den Staub ab, während sie auf die verblichenen Etiketten schielte. Mit angehaltenem Atem schaute ich ihr zu und hoffte, dass sie keins der Gläser geöffnet hatte. Niemand, der nicht zur Familie gehörte, durfte diese Gläser anfassen – niemand. »Gypsy hält auch ein Nickerchen«, fuhr Miss Rosemary fort. »Ich erwarte also, dass ihr beide leise seid und sie nicht weckt.«  

»Ja, Miss Rosemary«, sagten Samson und ich, wobei Samson eigentlich nur die Lippen bewegte.  

»Eure Mutter hätte mich sofort anrufen sollen, als sie das mit eurem armen Vater erfuhr«, sagte Miss Rosemary und staubte schwungvoll das letzte Glas ab. Zufrieden mit ihrem Werk, drückte sie die Sprühdose und den Lappen an die Brust und schloss die Augen, als würde sie um die Kraft beten, die ganze weite Welt zu wienern. Als sie die Augen wieder öffnete, schaute sie uns ernst und streng an.  

»Ich hätte früher hier sein sollen«, sagte sie. »Kinder brauchen eine Mutter im Haus.«