13. Kapitel
Als Lester Swan die anderen wieder in den Bus lud, sie schön weit auseinandersetzte und betrübt die beschädigten Scheiben ansah, versuchte ich mit Gott einen Handel zu machen. Ich schwor, in Zukunft klaglos meine grünen Bohnen zu essen, ein guter Mensch zu werden und mir nach der Sonntagsschule nie, nie wieder mehr als einen halben zuckergepuderten Donut zu nehmen. Wenn ich bloß nicht mehr diese Stimmen hören müsste, sobald einer in meiner Nähe etwas auf die Haut gemalt hatte – schon gar keine Stimmen, die mir Geheimnisse anvertrauen und Gefühle ausplaudern wollten, die verborgen bleiben sollten.
Seit Poppas Unfall hatte ich kein einziges Mal geweint, aber jetzt, wo ich einmal angefangen hatte, dort in dem großen rosa Bus, konnte ich nicht mehr aufhören. Alles schien zerstört und hoffnungslos zu sein. Wenn nun alles umsonst gewesen war? Wenn es Poppa schon besserging und er in seinem Bett saß und mit Momma und Rocket sprach und lachte? Aber wenn es Poppa nun schlechterging, wenn er …
Ich schluchzte heftiger, versuchte die schlimmsten Ängste wegzuschieben. Samson zwängte sich aus seinem Versteck unter dem Feldbett, die fast leere Chipstüte und die Würstchenverpackung schleifte er hinter sich her. Er setzte sich neben mich auf den Boden, bot mir wortlos die letzten salzigen Chipskrümel an und legte mir sanft eine Hand auf den Arm.
Ich weiß nicht, was mein schüchterner, schemenhafter Samson an sich hatte, aber wenn er mich berührte, ging es mir immer sofort besser. Hin und wieder, das wusste ich, kam es vor, dass jemand seinen Schimmer schon vor der Zeit bekam. Mommas Bruder, Onkel Autry, hatte fünfjährige Zwillingstöchter, die ihre Plastikpferdchen ein paar Zentimeter über dem Boden schweben lassen konnten, sie bewegten sie auf und ab wie Karussellpferde. Doch so etwas war sehr selten. Vielleicht lag es bei unseren Cousinen daran, dass sie Zwillinge waren und offenbar denselben Schimmer hatten.
Möglicherweise war Samsons stärkende Berührung nur ganz normale menschliche Magie, eine Magie, wie sie der echten, tief empfundenen Sorge eines Menschen für einen anderen innewohnt. Warum auch immer, als ich Samsons kleine Hand auf dem Arm spürte, dauerte es nicht lange, bis meine Tränen trockneten.
»Was denkt sich dieser halbgare Schwachkopf? Der sollte sich mal das Hirn untersuchen lassen«, sagte Rhonda auf Lesters linkem Arm. »Wie kann es sein, dass mein eigen Fleisch und Blut so eine Memme geworden ist?«
»Er sollte die kleinen Nervensägen am Straßenrand aussetzen, genau wie ich es mit dieser Töle gemacht habe, nachdem sie meine besten roten Schuhe aufgefressen hatte«, sagte Carlene auf Lesters rechtem Arm. »Stattdessen verbindet der Tölpel ihnen noch ihr Aua und tätschelt ihnen den Kopf.«
Ich wusste, dass ich nicht viel von Lesters Mom, Rhonda, hielt, und von Carlene hielt ich schon gar nichts. Aber Lester Swan musste die beiden einmal sehr gerngehabt haben, sonst hätte er sich wohl kaum ihre Namen auf die Haut tätowieren lassen. Ich dachte mir, dass er da zwei ganz schöne Schwergewichte mit sich herumschleppen musste. Ich kam hoch auf die Knie, spähte in der Dämmerung über die Sitze und Kisten hinweg zu Lester, der unter seinem Sitz kramte, wieder auftauchte und mit triumphierendem Blick einen verrosteten alten Metallkasten mit einem roten Kreuz darauf zutage förderte. Er reichte Bobbi den Verbandskasten, und sie schaute ihn an, als hätte Lester ihr eine tote Ratte überreicht.
»Was soll ich denn damit?«, fragte sie.
Lester druckste herum und zeigte auf den Verbandskasten. »Vielleicht könntest du dich um d-die Jungs kümmern, und ich könnte v-versuchen ein paar Scheiben abzudecken, damit wir w-weiterfahren können?«
»Ich kümmere mich nicht«, fauchte Bobbi fuchtig, die Lippen spöttisch verzogen. »Seh ich etwa aus wie eine Krankenschwester?«
»Nee, aber du siehst aus wie die Älteste«, sagte Lester mit einem halben schiefen Lächeln, doch seine Schultern zuckten schon wieder, diesmal hüpften sie fast hoch bis zu seinen Ohren. Er verschränkte die Arme und löste sie wieder, als wüsste er nicht so recht, in welcher Haltung er sich besser Respekt verschaffen konnte.
»Das ist alles Mibs’ Schuld. Soll die sich doch kümmern«, sagte Bobbi und gab Lester den Verbandskasten zurück.
Zuck. Zuck. Lester nahm den Kasten, schaute an den Sitzreihen entlang und fing meinen Blick auf, als ich über den hintersten Sitz spähte. Selbst im schwachen Licht der frühen Abenddämmerung erkannte ich den Blick eines Ertrinkenden. Ich ertrug es nicht, Carlenes und Rhondas Spott zu hören, während Lester unter Bobbis Überheblichkeit versank. Vielleicht war dies die Gelegenheit, Gott zu beweisen, was für ein guter Mensch ich sein konnte, dass ich seiner Beachtung würdig war, dass ich vielleicht etwas Besseres verdiente, als ich an meinem wichtigsten Tag bis jetzt bekommen hatte.
Lester sah mächtig dankbar aus, als ich aufstand und nach vorn in den Bus ging und mit einem Schluckauf und einem kläglichen, verlegenen Lächeln den Verbandskasten annahm. Schließlich hatte Bobbi Recht gehabt, als sie gesagt hatte, ich sei schuld an dieser Klemme. Wäre es nicht mein Geburtstag und hätte ich wegen dieses Geburtstags nicht gewisse Entscheidungen getroffen, wäre vielleicht alles ganz anders gekommen. Ich merkte gerade, dass das Ergebnis einer Entscheidung manchmal fast so schwer vorherzusagen und zu beeinflussen war wie ein neuer Schimmer.
Ich öffnete den Verbandskasten, während Lester vergeblich versuchte die kaputten Fenster abzudecken; drei Scheiben waren ganz rausgeflogen und eine vierte sah so aus, als würde sie beim ersten Schlagloch herausbrechen. Lester war den Tränen nah, als er schließlich den Versuch aufgab, Pappe in die Rahmen zu klemmen, und den Bus startete. Der lärmige Motor konnte die Stimmen, die immer noch in meinem Kopf tönten, kaum dämpfen.
»Dieser Lester …«, sagte Rhonda.
»Dieser Schwachkopf …«, sagte Carlene.
»Sie weiß nicht recht, ob sie dich mögen soll oder ob sie finden soll, dass du spinnst«, sagte Bobbis Engel in gelangweiltem Ton.
»Ich spinne nicht, Bobbi«, sagte ich, während ich eigensinnig Verbandsmull und ausgetrocknete, unbrauchbare Desinfektionstücher aus dem Verbandskasten nahm.
»Was?« Bobbi verdrehte den Hals und schaute mich an. »Was sagst du da?«
Ich schluckte schwer und sagte nichts, ich hatte etwas laut ausgesprochen, was ganz, ganz fest in meinem Mund hätte verschlossen bleiben müssen. Ich nahm ein verstaubtes Kühlpad aus dem Verbandskasten, so eins, das man knicken muss, damit es kalt wird, und konzentrierte mich darauf. Ich spürte Bobbis Blick auf mir, mit dem sie mich sezieren wollte wie einen Frosch, der ausgenommen vor ihr lag. Ich knickte das Kühlpad, es machte knack und langsam floss etwas Kaltes durch den kleinen Plastikbeutel. Ich wandte mich um und ging zu Will junior, der mit seinem blauen Auge drei Reihen weiter hinten saß.
Die abendliche Frühlingsluft strömte zu den kaputten Fenstern herein, als Lester allzu gewagt in die Kurve ging, und der Bus ruckte und röhrte, während wir wieder auf den Highway auffuhren; die Kisten, Zeitschriften und Bibeln gerieten ins Rutschen. Stolpernd plumpste ich auf den Sitz neben Will und drückte ihm das Kühlpad etwas heftiger als beabsichtigt aufs Auge, fast hätte ich ihm einen Nasenstüber verpasst.
»Entschuldigung«, sagte ich und versuchte schnell wieder in den Gang des holpernden, polternden Busses zu gelangen. Aber Will junior hielt meine Hand fest und zog mich wieder auf den Platz neben sich. Er drückte sich das Kühlpad fest aufs Auge und verzog das Gesicht. Ohne meine Hand loszulassen, schaute er mich mit seinem gesunden Auge geradeheraus an.
»Ich bin nicht sauer, Mibs«, sagte er. Ich wusste nicht, was er meinte, ob er nicht sauer war, weil ich ihm ein Kühlpad auf die Nase geknallt hatte, oder ob er wegen der anderen Sache nicht sauer war, wegen der Sache in Bee. Ich hoffte Letzteres.
»Ich spinne nicht«, sagte ich.
»Hab ich auch nicht behauptet.«
»Nein, aber vielleicht gedacht.«
Will schwieg, ließ das Kühlpad auf den Schoß sinken, schaute verstohlen zu seiner Schwester, dann sah er mich mit beiden Augen prüfend an, als wollte er mich durchdringen bis zur DNA.
»Hat Bobbi das gedacht?«
»Ich muss die Kratzer behandeln, die Bobbi Fish verpasst hat«, sagte ich, ohne Wills Frage zu beantworten, und wollte aufstehen. Aber er hielt meine Hand fest.
»Hat Bobbi das gedacht? Hat sie gedacht, du spinnst?«
»Kann schon sein.«
»Woher weißt du das, Mibs?«
Ich zuckte die Achseln.
»Woher weißt du das? Mibs, erzähl mir, was passiert ist, als du mir das Bild auf die Hand gemalt hast. Wieso bist du da ausgerastet? Und wie macht Fish so einen Sturm? Ich weiß, dass er das war – es kann gar nicht anders sein.« Will beugte sich näher zu mir. »Ich will nur wissen …«
Jetzt stand ihm die Neugier wieder ins Gesicht geschrieben. Er hätte für sein Leben gern mein Geheimnis erfahren.
»Erzähl’s mir einfach, Mibs. Erzähl mir, was an euch Beaumonts so besonders ist.«