5. Kapitel

 

An dem Samstagmorgen meines dreizehnten Geburtstags wachte ich früh auf und lag lange, lange still da und wartete nur. Bisher fühlte sich nichts großartig anders an. Ich konnte nicht durch die Zimmerdecke gucken oder mit einem Blinzeln das Licht einschalten. Ich konnte nicht von der Matratze schweben oder meine Kissen verschwinden lassen.  

Trommel, trommel, trommel machten meine Finger auf dem Bettlaken, und ich seufzte. Nichts tat sich. Jedenfalls noch nicht.  

Ich entschied, dass ich es wagen konnte aufzustehen. Vielleicht kam mein Schimmer erst in der Kirche zu meiner Geburtstagsfeier, so unpassend wie nur möglich. Ich rollte aus dem Bett und schaute zu Gypsy, die in einem Nest aus Stofftieren und Kissen lag. Alles Puschelige, Plüschige versammelte Gypsy um sich herum. Sie hatte ihre Kleinkindwelt gern weich und wohlig, ohne Ecken und Kanten. Und wenn sie einmal schlief, ließ sie sich ebenso schwer aufwecken wie ein Faultier.  

Die Dielen hatten nicht geknackt und mein Bett hatte nicht gequietscht, aber kaum, dass meine nackten Füße den Boden berührten und ich aufstand, um mein Nachthemd zu entwirren, setzte meine Schwester sich in ihrem Bettchen auf und starrte mich an.  

»Schlaf weiter, Gypsy«, sagte ich.  

»Nein-nein-nein«, sagte Gypsy – das war ihr Lieblingswort – und rieb sich störrisch die Augen.  

»Es ist noch zu früh zum Aufwachen. Augen zu – und husch zurück ins Reich der Träume.« Ich ging zu ihr hinüber, deckte sie wieder zu und verließ schnell das Zimmer, bevor sie einen Aufstand machen konnte.  

Rosafarbenes Licht schien durch die Vorhänge und tauchte den Flur in zarte Morgenröte. Ich war besonders leise, als ich mich an den anderen Schlafzimmern vorbei nach unten schlich; ich wollte niemanden wecken, wollte noch mehr Zeit für mich haben, um zu sehen, was ich sehen konnte, fühlen, was ich fühlen konnte.  

In der Küche machte ich mir eine Schale Cornflakes und nahm sie mit nach nebenan, wo ich mich im Schneidersitz aufs Sofa setzte. Ich hatte es mir gerade bequem gemacht und die Schale perfekt auf dem Knie abgestellt, als ich einen dumpfen Schlag hörte. Rums, rums, rums. Ich saß mucksmäuschenstill und schaute angestrengt in das dämmrige Zimmer, das Morgenlicht wechselte jetzt von Rosa zu Orange, warf einen pastellenen Schein auf den Stapel mit Mommas Bildern und brach sich am Aquarium von Samsons toter Schildkröte.  

Rums.  

Rums.  

Ich stellte die Schale auf den Boden, Milch schwappte über den Rand, dann folgte ich dem Geräusch, bis ich die Nase fast ans Aquarium gedrückt hatte. Und dort war Samsons Schildkröte, alles andere als tot, und versuchte vergeblich an der Scheibe nach oben zu kriechen.  

Dann hat die Schildkröte also doch Winterschlaf gehalten, dachte ich. Ich wusste, dass Samson sich freuen würde – soweit sich so ein Grübelwesen eben freuen kann. Aber wieso war die Schildkröte just in diesem Moment aufgewacht: in der Morgendämmerung meines wichtigen Geburtstags, während ich im Nachthemd dasaß und eine Schale Cornflakes auf dem Knie balancierte? Ich beobachtete die Schildkröte und tippte an die Scheibe. Ich dachte an die Schildkröte und daran, wie Gypsy, ganz gegen ihre Gewohnheit, aufgewacht war, als ich aus dem Bett gestiegen war, und da nistete sich ein wankender Verdacht in meinem Innern ein, er hielt sich den ganzen Morgen und breitete sich aus wie der Rauch eines Grasbrandes.  

Um zwei Uhr quetschten wir uns alle in Miss Rosemarys Wagen, um nach Hebron zur Kirche zu fahren. Fish und ich halfen Opa auf den Beifahrersitz, halfen ihm beim Anschnallen und schauten nach, ob das Autoradio auch ausgeschaltet war. Seit Oma Dollop gestorben war, machte es Opa immer traurig, Radio zu hören.  

Als Opa bequem saß, ging Fish noch mal ins Haus, um Samson zu suchen und ihn von seinem jetzt aktiven, doch-nicht-toten Haustier zu trennen. Miss Rosemary und ich kämpften mit Gypsys Kindersitz, während die Jungs einstiegen. Ich trug mein neues Festtagskleid, das Poppa in einem großen Kaufhaus in Salina ganz allein für mich ausgesucht hatte.  

»Ich dachte mir, mein kleines Mädchen hat zu ihrem besonderen Geburtstag etwas Schönes, Neues verdient«, hatte er an dem Abend gesagt und mir eine große weiße Schachtel überreicht, die mit einem dünnen, runden, dehnbaren Goldband zusammengebunden war. Das Kleid in der Schachtel war zartgelb, es hatte eine hoch angesetzte Taille und einen Tellerrock mit tiefen Taschen. Zwei Reihen weiße Zackenlitzen säumten den Rock und die Puffärmel. Aber das Beste an dem Kleid war die große lila Blume aus weichen Seidenbändern, die wie ein Anstecksträußchen oben an der Schulter aufgenäht war.  

»Ich verstehe nicht allzu viel von Kleidern«, gestand er. »Aber ich wollte trotzdem nicht aufgeben. Ich habe das Geschäft erst verlassen, als ich mir sicher war, dass ich genau das Richtige gefunden hatte.« Ich stellte mir meinen Poppa vor, wie er durch das Kaufhaus wanderte und ein vollkommenes Kleid für mich suchte, und lächelte.  

Unser Poppa hatte keinen Schimmer und keine Haare auf dem Kopf. Trotzdem war Poppa ganz besonders: Er war lieb und gut und hatte wilde schwarze Augenbrauen, die sich zwirbelten wie tanzende Käferbeine, und er hatte ein verblichenes Tattoo aus seiner Navy-Zeit – eine Meerjungfrau mit langem Haar, die sich auf seinem Unterarm um einen Anker schlang, genau über Poppas schwerer silberner Uhr. Wochentags, wenn Poppa in dem Betonbau in Salina arbeitete, hielt er die Meerjungfrau gut versteckt unter feschen weißen Hemdsärmeln. Doch wenn er abends nach Hause kam, hatte er die Ärmel hochgekrempelt und die Meerjungfrau zeigte ihr Lächeln. Es störte uns gar nicht, dass Poppa keinen Schimmer hatte, und ihn störte es nicht, dass der Rest der Familie einen hatte … oder noch bekommen würde.  

An dem Abend, als er mir das Kleid schenkte, war er zum letzten Mal aus Salina zu uns nach Hause gekommen, es war das letzte Mal, dass wir alle zusammen waren.  

»Gefällt es dir denn?«, hatte Poppa gefragt und sich mit den Fingerknöcheln das Kinn gerieben, während er mir zusah, wie ich das Kleid aus der Schachtel nahm.  

»Es ist wunderschön, Poppa!«, sagte ich und tanzte mit dem Kleid in den Armen zweimal durchs Wohnzimmer, bevor ich ihm um den Hals fiel. »Vielen Dank!«  

Ich wusste, dass ich den besten Poppa der Welt hatte, und ich wusste, dass jeder, der Augen im Kopf hatte, sehen konnte, dass mein Kleid ein Festtagskleid war – auch wenn das Fest selbst nicht so werden würde wie geplant.  

Als ich in den Wagen stieg, sah ich, wie Miss Rosemary auf die große lila Blume an meiner Schulter schaute. Bestimmt hätte sie auch gern so ein Kleid gehabt wie ich. Sie trug immer gerade und hochgeschlossene Kleidung.  

Als wir uns alle in den Wagen gezwängt hatten, rumpelten und pumpelten wir über die Holperstraße zum Highway und fuhren zu der Kirche, in der meine ungebetene Geburtstagsfeier stattfinden sollte. Ich tat so, als bemerkte ich nicht, dass Fish und Opa mich so anschauten, als wäre ich eine Art Sprengstoff, der bei dem nächsten Ruckeln oder Rumsen des Wagens explodieren könnte. Bis jetzt war noch nichts davon zu spüren, dass mich irgendwas Spektakuläres, Markerschütterndes gepackt und mir verraten hätte, was mein Schimmer sein könnte, so wie es damals bei meinen Brüdern war; ich wusste, dass mein Schimmer etwas ruhiger, weniger weltbewegend sein würde – dafür aber einer, der Poppa viel besser helfen konnte.  

Als Momma am Morgen angerufen und mir zum Geburtstag gratuliert hatte, da hatte ich gefragt: »Hast du ihn geküsst, Momma?«

»Ja, Mibs. Ich habe Poppa geküsst«, sagte sie leise.  

»Ist er aufgewacht?«  

Momma atmete lange und langsam aus, als sänge sie den letzten Ton eines Schlaflieds, und es brach mir fast das Herz, so traurig klang es. »Nein, Liebes«, sagte sie schließlich. »Poppa ist nicht aufgewacht. Jedenfalls noch nicht. Die Ärzte sagen … na ja, sie sagen, wir müssen abwarten.« Nach Mommas Anruf wusste ich genau, was ich zu tun hatte – ich wusste nur noch nicht genau, wie ich es anstellen sollte.  

Als wir bei der Kirche ankamen, merkte ich schon bald, dass Gott auf Miss Rosemary besser hörte als auf mich. Der Parkplatz war voll, überall wimmelte es von Kindern. Das war nicht nur eine kleine Feier. Es war ein Riesentamtam.  

Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, dass Samson verschwand, noch ehe der Wagen richtig hielt, denn als wir ausstiegen, war er schon weg. Er würde irgendwann wiederauftauchen, nach mehreren Stunden in irgendeinem staubigen Schlupfloch, unter der Orgel oder bei den Mopps in der Besenkammer. Opa Bomba kaute nur auf seiner Wange und murmelte kopfschüttelnd vor sich hin, als Miss Rosemary ihn und Gypsy zur Kirche führte, vorbei an einem Bus, der so rosa war wie Gypsys Fußsohlen und Reklame für den Heartland-Bibel-Lieferdienst machte.  

Kaum hatte Miss Rosemary uns den Rücken zugedreht, packte Fish mich am Arm und führte mich weg von dem rosa Bus, weg von der Kirche.  

»Mibs, du kannst das hier nicht machen«, sagte Fish mit einem Windstoß, der mich traf wie ein Schlag. »Du kannst hier heute nicht sein. Es ist zu riskant, das weißt du.«  

»Das geht in Ordnung«, versicherte ich ihm. »Ich weiß schon, was mein Schimmer ist, Fish, und er tut keinem weh. Im Gegenteil …«  

»Du weißt es?« Fish ließ mich gar nicht ausreden. Er packte mich noch fester am Arm. Die Panik meines Bruders und die Windbö ließen mich einen kurzen Augenblick zweifeln. Aber nein, ich wusste, dass ich es wusste.  

»Ja, Fish, ich weiß es. Mach mal nicht so einen Wind.«  

Fish sah mich gespannt an. Ich wollte erklären, dass ich diejenige war, die Poppa aufwecken musste. So einfach war mein Schimmer – er bestand darin, dass ich andere aufwecken konnte, so wie Samsons Schildkröte. Ich war mir sicher. Ich wusste, dass man einen Schimmer nicht herbeiwünschen konnte, aber ich hatte ja den Beweis, dass alles, was ich brauchte, um Poppa aufzuwecken, schon in mir drinsteckte, es wartete nur darauf herauszuplatzen wie Rockets Funken oder Fishs Wind und Regen – wenn ich es nur bis nach Salina schaffte. Das alles wollte ich meinem Bruder gerade erzählen, aber da entdeckte Will junior uns.  

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Mibs«, sagte er und lächelte. »Kommst du nicht zu der Feier?«  

»Ich komme«, sagte ich zu Will und befreite mich mit einem Ruck aus Fishs festem Griff.  

Fish ließ mich gehen, aber er sah mich mit einem messerscharfen Blick an, und dann ließ er aus den Wolken über uns ganz unvermittelt Regentropfen wild herunterprasseln. Ich warf Fish einen ebensolchen Blick zu, dann lächelte ich mein Lächeln für Will junior und ließ mich von ihm in die Kirche ziehen, geradewegs hinein in die Katastrophe meines dreizehnten Geburtstags.