11. Kapitel

 

Wie sich zeigte, war Lester ziemlich froh über die Reisebegleitung. Er machte die ersten Reihen der schäbigen, schmuddeligen Sitze frei und ermunterte uns vorn zu sitzen. Bobbi und Will junior setzten sich auf die eine Seite, direkt hinter den Fahrersitz, wir Beaumonts und die Merkwürdigkeiten, die um uns herum passierten, waren ihnen wohl plötzlich nicht mehr so ganz geheuer. Fish und ich setzten uns zusammen auf die andere Seite des Gangs, wir konnten es beide kaum abwarten, wieder loszufahren. Samson blieb lieber hinten im Bus, er verzog sich mit der Chipstüte wieder unter das Feldbett, die Würstchen und den Zeitschriftenstapel allzeit griffbereit.  

»Das alte Mädchen hier hat zwar nicht die allerbesten K-Kolben, und der V-Vergaser müsste auch mal ausgewechselt werden, aber sie ist noch lange nicht am Ende.« So faselte Lester über den großen rosa Lieferbus, während er am Steuer saß. Er redete so, als wäre der Bus ein zartes Pflänzchen, mit dem er sehr behutsam umgehen müsste. »Natürlich muss ich immer darauf achten, sie unter 90 zu halten.« Lester verzog das Gesicht, als müsste er an all die Male denken, wo er nicht darauf geachtet hatte. »Nur ein bisschen drüber, dann v-verabschiedet sie sich. Ich weiß noch, einmal, als …«  

»Wie lange dauert es denn bis Salina?«, fragte Fish ungeduldig in Lesters Geschwafel hinein. »Unser Poppa ist schlimm dran. Wir müssen ganz bald zu ihm.« Mein Herz setzte einen Schlag aus und mein Magen drehte sich um, als ich an Mommas Worte dachte: Die Ärzte sagen, wir müssen abwarten. Will und Bobbi rutschten unruhig herum, als wäre auch ihnen wieder eingefallen, weshalb wir eigentlich in den Bus gestiegen waren.  

»Tja«, sagte Lester, den es offenbar überforderte, mitten im Satz das Thema zu wechseln. »Mal überlegen. B-bis fünf muss ich in Bee sein.« Während er mit einer Hand das Lenkrad festhielt, holte er mit der anderen eine Uhr mit kaputtem Armband aus der Tasche seiner Latzhose.  

»Verdammt noch mal!«, sagte er und wäre fast von der Fahrbahn abgekommen, als er auf die Uhr sah. »Ich bin zu spät!« Der Bus ächzte und röchelte, als Lester fester aufs Gaspedal trat. Fish und ich dachten daran, was Lester uns eben gerade über den Bus erzählt hatte, und spähten über Lesters Schulter hinweg nervös auf den Tacho.  

»Und dann«, fuhr Fish fort. »Was ist nach Bee? Wenn Sie da fertig sind, fahren Sie dann zurück nach Salina?«  

»Hmm?« Lester sah Fish abwesend an, als hätte er gar nicht zugehört. »Nach Bee? Nein, dann geht’s weiter nach Wymore, dann muss ich kurz nach Manhattan, um eine Freundin zu b-bezahlen – sie ist die C-Cousine von meinem Chef Larry, und wenn ich ihr das Geld nicht bringe, wird sie echt sauer. Und danach geht’s zurück nach Salina.«  

Inzwischen war Bobbi auf ihrem Sitz ganz nach vorn gerutscht, sie spähte angestrengt um die Trennwand zwischen ihrem Platz und der Rückenlehne von Lesters Sitz herum und schaute Lester finster an. »Und wie lange soll das Ganze dauern? Wann genau wollen Sie wieder in Salina sein?«  

»Och, spätestens morgen Nachmittag, schätze ich«, sagte Lester abwesend, als er die nächste Ausfahrt von der Fernstraße nahm und auf eine kleine Landstraße auffuhr, noch weiter Richtung Norden, noch weiter weg von Salina.  

»Morgen?«, riefen wir alle. »Morgen?«  

»Das ist zu spät!«, schrie ich.  

»Tja, da kann ich nichts dran ä-ändern«, sagte Lester, der das Gespräch unbedingt beenden wollte. »Ich kann es mir nicht leisten, meinen Job zu verlieren. Wenn ich jetzt z-zurückfahre, werd ich garantiert gefeuert. Dann heißt es keine Bibeln, keinen B-Bus und keine Zukunft für den armen alten Lester.«  

Ich schluckte schwer, dachte an die Klemme, von der ich schon so oft gehört hatte, und kapierte erst jetzt so richtig, wie blöd es war, wenn man darin saß. Wie konnte ich einen Mann, den ich noch nicht mal kannte, bitten, für mich seine Lebensgrundlage aufs Spiel zu setzen? Aber andererseits, wie konnte ich noch einen Tag warten, bis ich zu Poppa kam?  

»Morgen. Ist doch optimal.« Bobbi drehte sich um und schaute mich an, als würde sie mich am liebsten verhexen. »Morgen«, sagte sie noch einmal, nickte und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Das ist super.«  

Auch Fish und Will junior schauten zu mir herüber. Ich verkroch mich in meinem Sitz, ich war todunglücklich über unsere Lage. Zu meiner Überraschung zwinkerte Will mir mit schiefem Grinsen zu, und da ging es mir ein wenig besser. Will war der Einzige im Bus, der so aussah, als fände er die Sache ganz lustig.  

Die klitzekleine Stadt Bee war tatsächlich kaum größer als eine Biene; wenn man nur einen Augenblick zu spät hinguckte, konnte sie glatt an einem vorbeisausen. Als wäre unsere Situation nicht so schon schwierig genug, wurde alles noch verquerer und verkorkster, als wir in diese Fipselstadt kamen.  

In Bee gab es nur eine einzige Kirche. Sie war so kastenförmig und winklig wie ein Akkordeon, doch die Fenster der Kirche waren dunkel und die Türen waren fest verschlossen.  

Lester Swan schaute von seiner Armbanduhr zur Sonne – jetzt kaum noch am Horizont zu sehen –, während er an den Türgriffen zog und über den knallgrünen Kunstrasen ging, der zum Seiteneingang führte. Lester setzte sich auf die Betonstufe vor der Kirche und kratzte sich am Kopf. Ich ging weg, weil ich nicht hören wollte, wie Carlene und Rhonda über Lesters neuesten Patzer lästerten und stänkerten. Von den Tussis wurde mir übel, sie waren so widerwärtig. Wenn ich an meine Momma dachte, tat Lester mir leid. Rhondas Stimme klang ganz und gar nicht so, wie die Stimme einer Mutter klingen sollte. Meine Momma ist natürlich etwas ganz Besonderes, dachte ich dann. Meine Momma ist vollkommen.  

»Bei mir hat es damals Monate gedauert, ehe ich herausfand, was mein Schimmer ist«, hatte Momma mir einmal gesagt. Da waren wir in der Küche gewesen, Momma, Gypsy und ich, und Momma hatte versucht mir beizubringen, wie man eine vollkommene Pastete macht. Aber meine Pastete wurde alles andere als vollkommen. Gypsy war mehr daran interessiert, die Finger tief in ihren weichen Teigklumpen zu drücken, sie pfriemelte kleine Fitzelchen heraus und futterte sie, wenn Momma nicht guckte.  

Mein Pastetenteig wurde entweder krümelig und brüchig oder zäh und klebrig; ich pappte ihn immer wieder zusammen und versuchte ihn auszurollen, während Mommas Teig sich wunderbar hochheben und seidenweich in die Form gleiten ließ – so vollkommen wie nur was.  

»Und wie hast du es dann rausgekriegt, Momma?«, fragte ich. Mehl kitzelte mir in der Nase und rieselte dort, wo ich mit meinem großen Nudelholz stand, wie Schnee vom Tisch herunter. »Wie hast du rausgekriegt, was dein Schimmer ist? Wann wusstest du zum ersten Mal, dass du vollkommen bist?«  

Momma schaute auf das Durcheinander auf dem Tisch und lachte; ein Lachen wie die Kirchenglocken in Hebron an einem klaren Morgen. Erst dachte ich, Momma lachte über meinen klobigen, klitschigen Teigklumpen, als mir einfiel, dass sie so etwas nie tun würde. Sie zog einen Küchenstuhl heran und setzte sich, legte mein Nudelholz beiseite und nahm meine Mehlfinger in ihre. Sie lächelte mich lieb an.  

»Ich bin nicht vollkommen, Mibs. Niemand ist vollkommen. Ich hab einfach nur den Bogen raus. Deshalb wirkt es vielleicht manchmal so, als wäre ich vollkommen. Außerdem«, fuhr sie fort, und ihr Lächeln schwand, als sie meine Hände drückte, »würdest du dich wundern, wie viele Leute gar nicht gern mit jemandem zusammen sind, dem immer alles gelingt. Es ist nicht immer leicht, so zu sein.«  

Ich nickte, und Momma nahm mich in die Arme. Es war kaum vorstellbar, dass irgendwer nicht gern mit ihr zusammen war.  

»In fast jeder Hinsicht, Mibs, sind wir Beaumonts genau wie alle anderen Leute«, sagte Momma, ließ mich los und streute noch ein bisschen Mehl auf meinen Teig, während sie die Worte hersagte, die ich schon so oft gehört hatte. »Wir werden geboren, und irgendwann später sterben wir. Und in der Zwischenzeit sind wir glücklich und traurig, wir empfinden Liebe und Angst, wir essen und schlafen und wir haben Schmerzen wie alle anderen.«  

Ich dachte über Momma nach, während ich um die Kirche herumging und dem zerfurchten unbefestigten Weg ein Stück folgte. Erleichtert stellte ich fest, dass die Stimmen verhallten und ein Grillenorchester sich für das Abendkonzert einstimmte – vielleicht habe ich sie geweckt, überlegte ich. Ich trat gegen Steine, als ich den Weg überquerte und auf ein mit Brettern vernageltes, baufälliges Haus zuging, das so aussah, als wäre vor langer Zeit eine Wagenladung weißer Farbe darüber ausgekippt worden. Fish war mit Samson im Bus geblieben, er grimmte und grollte noch immer und war fast so still und finster wie unser kleiner Bruder. Bobbi war ausgestiegen, ein neues Stück Bubble Tape kauend und leise fluchend, also hielten wir alle Abstand.  

Vorsichtig trat ich auf die Veranda des alten Hauses und dachte mir, dass es mit einer Verandaschaukel perfekt gewesen wäre, vor langer Zeit einmal. Da wir in Kansaska-Nebransas keine eigene Verandaschaukel hatten, ging Poppa manchmal mit uns in den Park in Hebron, wo es die weltgrößte Verandaschaukel gibt. Fünfzehn Leute gleichzeitig haben darauf Platz. Sonntagnachmittags packte Poppa die ganze Familie ins Auto, fuhr mit Hilfe von Rockets Funken dorthin, und dann saßen wir alle zusammen auf dieser langen, verrückten Schaukel, und das ganz ohne Veranda.  

»Ein bisschen Fantasie, Mibs«, sagte Poppa, wenn ich mich beschwerte, dass eine Schaukel ohne Veranda keine Verandaschaukel sein konnte. »Mach die Augen zu und stell dir vor, was für ein prächtiges Haus eine so große Verandaschaukel haben könnte.« Doch sosehr ich es versuchte, ich sah immer nur unser Haus vor mir.  

»Jedes anständige Landhaus braucht ein Plätzchen, wo man sitzen und nachdenken und den vorüberziehenden Wolken zuschauen kann«, hatte Poppa gesagt. Poppa wollte uns eine eigene Verandaschaukel bauen, das stand immer ganz oben auf seiner Liste. Ich wusste, dass ich schnell zu Poppa musste. Ich konnte es nicht zulassen, dass ihm etwas passierte, nicht solange die Liste noch nicht abgearbeitet war – er wollte unsere Träume ganz bestimmt nicht aufgeben. Ganz bestimmt wollte er die Schaukel bauen, damit wir alle zusammen darauf sitzen konnten.  

Die Veranda ächzte und stöhnte unter mir. Ich drehte mich um und sah Will junior, der plötzlich hinter mir stand. Er kam nicht nah heran, nicht wie vorher. Er hatte die Hände in den Taschen und schaute mich an, als hätte er noch nie im Leben ein Mädchen gesehen.  

»Was ist los, Mibs?«  

»Wie meinst du das?«, fragte ich, ohne ihn direkt anzusehen.  

»Ich meine, vielleicht könntest du mir mal verraten, was da im Bus los war, mit Fish und dem Sturm«, sagte Will junior und schaute mich immer noch prüfend an.  

Ich ließ die Hand über das Geländer der Veranda gleiten und fuhr gedankenverloren über die abblätternde Farbe, die das alte graue Holz wie Splitter aus Spitze bedeckte, ich konnte Will junior immer noch nicht in die Augen schauen.  

»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst«, sagte ich und kam mir fies und verlogen vor, denn ich wusste genau, was er hören wollte, aber ich konnte es ihm auf keinen Fall erzählen. Als ich ihm todesmutig ins Gesicht schaute, sah ich, dass seine Augen vor Neugier leuchteten, wie bei einem kleinen Kind, das darauf wartet, dass der Festzug um die Ecke kommt.  

»Ich hab schon immer gewusst, dass du irgendwie anders bist, Mibs Beaumont, und deine Brüder auch«, sagte Will junior. Ich zuckte die Achseln, ich stimmte nicht zu, widersprach ihm aber auch nicht.  

»Versteh mich nicht falsch – das gefällt mir an dir«, sagte Will unbeholfen und kam ein bisschen näher.  

Überrascht und verlegen stand ich auf der Veranda, sprachlos, bis das Schweigen peinlich und drängend wurde. Verzweifelt suchte ich nach einem anderen Thema, dann ging ich in die Offensive und fragte hektisch: »Warum wirst du eigentlich Will junior genannt? Soweit ich weiß, ist dein Daddy nicht Will senior. Er heißt ja noch nicht mal William.«  

Er sah mich mit einem teuflischen Grinsen an. »Vielleicht bist du nicht die Einzige, die ein Geheimnis hat, Mibs.«  

Ich schaute den Jungen von oben bis unten an und konnte nicht anders, als zurückzulächeln, auch wenn meine Wangen dabei flammend rot wurden.  

»Ich glaube, damit kann ich leben«, sagte ich, als hätten wir eine Abmachung getroffen. Unsere Geheimnisse würden geheim bleiben.  

Will junior nahm eine Hand aus der Tasche. Darin hielt er das geschenkverpackte Schreibset. Er hatte es im Bus vom Boden aufgehoben, und jetzt überreichte er es mir. Die leuchtende Verpackung war an einer Seite aufgerissen und sah leicht mitgenommen aus.  

»Du hast ja immer noch Geburtstag.«  

Ich nahm das Geschenk, und Wills Grinsen wurde noch breiter. Er hatte Recht. Ich hatte immer noch Geburtstag und ich hatte noch kein einziges Geschenk ausgepackt. Ich steckte einen Finger in den Riss an der Seite und rupfte das Papier von einer flachen aufklappbaren Schachtel ab. Eine Windbö, die hoffentlich nicht von Fish kam, riss mir das Papier aus den Händen, ließ es hochfliegen, über die Straße und weg. Als ich die Schachtel öffnete, sah ich zwei schicke Kulis mit silberglänzenden Griffen und abgerundeten Kappen. Ich legte die Schachtel auf das Geländer der Veranda und nahm einen Kuli heraus.  

»Wenn das Papier nicht weggeweht wäre, könnte ich ihn ausprobieren«, sagte ich. Will junior machte eine galante Armbewegung, dann kniete er auf den brüchigen, abgeblätterten Brettern vor mir nieder, als wollte er mir einen Heiratsantrag machen. Er hielt mir eine Hand hin, mit der Handfläche nach oben, und bot sie mir als Schreibfläche an.  

Zittrig nahm ich seine Hand. Weich und mühelos schrieb der Stift mit blauer Farbe auf Will juniors Haut, und im Nu hatte ich eine lachende Sonne gemalt. Keine Sekunde später fuhr ich zurück, stolperte über eine hochstehende Planke und fiel auf den Hintern, denn die Sonne blinzelte und räusperte sich, als wäre sie gerade aufgewacht.  

Als wäre sie gerade aufgewacht und hätte jetzt etwas zu sagen.