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»Willst du hier den ganzen Morgen auf und ab tigern, Lucan? Etwas Ruhe würde dir nur gut tun, weißt du.«

Gabrielle klopfte auf den leeren Platz neben ihr im riesigen Bett. Laut dem Nachttischwecker war es später Vormittag, aber er war schon seit gestern nonstop auf den Beinen.

Es gab zu viele Brände für ihn zu löschen, zu viele, für deren Leben er verantwortlich war – unter anderem der neugeborene Sohn von Dante und Tess.

Und dann war da noch Sterling Chase im Einzelarrest auf der Krankenstation. Lucan und der Rest des Ordens waren in heller Alarmbereitschaft, seit er vor über vierundzwanzig Stunden auf dem Grundstück des Anwesens aufgetaucht war, mit mehreren blutenden Schussverletzungen und einem Fahndungsbefehl der menschlichen Behörden.

Die Fernsehsender hatten ihren großen Tag mit seinem Phantombild. Seit dem Zwischenfall auf der Weihnachtsfeier des Senators brachte es jede Nachrichtensendung, regional, überregional und auf Kabel, und außerdem war es permanent auf diversen News-Seiten im Internet eingestellt. Lucan fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis das Interesse der menschlichen Behörden an Chase wieder abflaute.

Es war nicht gut, dass der Orden einen Mann versteckte, der von der Bostoner Polizei und sogar den gottverdammten Bundesbehörden zur Fahndung ausgeschrieben war.

So wütend er auch auf Chase war – nicht nur weil Dragos ihm auf der Feier des Senators entwischt war, sondern auch, weil er sich dabei hatte anschießen und sehen lassen –, musste er zugeben, dass Chase einen verdammt guten Riecher gehabt hatte. Trotz seiner persönlichen Probleme der letzten Zeit war auf Chases Instinkte Verlass gewesen, und auch wenn er die Ausführung in den Sand gesetzt hatte, war es ihm mit seiner Aktion offenbar gelungen, Dragos’ Pläne zu verhindern.

Und dass Dragos etwas geplant hatte, war für Lucan keine Frage. Der hinterhältige Bastard war definitiv nicht nur wegen Small Talk und Lachshäppchen dort gewesen.

Ihm graute bei dem Gedanken, was Dragos hätte anrichten können, wenn man bedachte, dass einige der höchsten Regierungsbeamten der Vereinigten Staaten dort gewesen waren.

Lucan lief weiter eine Spur in den Teppich. »Da ist was Großes im Gange. Ich spür’s in meinen Knochen, Gabrielle, da wird schon bald was ganz Übles passieren, und wenn ich nicht schnell herausfinde, was da los ist, und die nötigen Maßnahmen ergreife, fliegt uns die ganze Chose bald um die Ohren.«

»Komm her«, sagte sie stirnrunzelnd, schlug die Bettdecke zurück und machte ihm Platz im Bett. Ihr nackter Körper war atemberaubend und trotz des Ernstes der Lage zu verlockend, um zu widerstehen. »Du tust schon, was du kannst«, sagte sie zu ihm, als er sich neben sie legte. »Wir finden das raus, wir alle zusammen. Du bist nicht allein, Lucan.«

Er spürte, wie er sich bei ihren Worten entspannte und seine Sorgen etwas in den Hintergrund traten, einfach nur, weil sie bei ihm war. Dass sie solche Macht über ihn hatte, erfüllte ihn immer noch mit Staunen. »Wie hab ich’s bloß geschafft, dich zu überreden, meine Stammesgefährtin zu werden?«

Er hatte den Kopf auf ihre Brust gelegt, und ihr leises Lachen vibrierte an seinem Ohr. »Ich erinnere mich da an einen, der sich mit Händen und Füßen gewehrt hat.«

Er sah auf und starrte ihr in die Augen. »Hab ich nicht.«

»Vielleicht nicht«, gab sie zu, und ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem belustigten Grinsen. »Aber leicht hast du dich nicht geschlagen gegeben, das musst du zugeben.«

»Man sagt von mir, ich bin schwer von Begriff«, sagte er. »Die meiste Zeit habe ich keine Ahnung, was gut für mich ist.«

Sie hob ihre rötlichen Augenbrauen. »Zum Glück weiß dafür ich ganz genau, was gut für dich ist.«

Sie zog ihn hoch und küsste ihn so langsam und leidenschaftlich, dass er in seinen Drillichhosen hart wie Granit wurde. Mit einem lustvollen Knurren fasste er sie an ihrem zarten Genick und stieß ihr die Zunge zwischen die Zähne.

Er hatte sie schon unter sich gedrückt, als die Gegensprechanlage summte; es war Gideon aus dem Techniklabor.

Prompt schrillten Lucans innere Alarmsirenen auf, er riss sich von Gabrielles warmem Körper los und drückte den Hörer ans Ohr. »Was gibt’s, Gideon?«

»Ihr habt da drüben nicht zufällig die Glotze an?«

»Nein.«

Gideons Stimme hatte all ihre übliche Leichtigkeit verloren. »In der Stadt ist die Hölle los, Lucan. Du kommst besser schleunigst rüber. Das musst du sehen.«

Chase hob den Kopf vom Kissen seines Krankenbettes und strengte sich an, um besser auf den Fernsehbildschirm in der Zimmerecke sehen zu können. Dort lief schon eine ganze Weile eine dieser bescheuerten Morgensendungen, in denen zwei Moderatoren nichtssagende Newsstories des Tages durchhechelten, dabei an ihren Latte macchiatos nippten und mit unnatürlich weißen Zähnen in die Kamera grinsten. Selbst mit abgestelltem Ton hatte die Sendung ihn schon genervt, aber er hatte die Glotze angelassen, nur um irgendetwas anderes zu sehen als diese vier weißen Wände, in denen er eingesperrt war.

Entweder das oder wahnsinnig werden und dem Hunger nachgeben, der immer noch in ihm tobte. Der Junkie in ihm wollte ums Verrecken hier raus – aber er wusste, wenn er auch nur den Schatten einer Chance haben wollte, seinen endgültigen Abstieg in die Sucht aufzuhalten, musste er zuerst den Entzug überstehen. Und um das zu versuchen, konnte er sich keinen besseren Ort vorstellen als hier im Hauptquartier, bei den einzigen Freunden, die er hatte.

Seinen Freunden, denen er allen Anlass dazu gegeben hatte, ihn fallen zu lassen.

Und doch hatten sie ihn wieder bei sich aufgenommen.

Sie hatten ihn gefesselt und in der Krankenstation eingesperrt, aber zum Henker noch mal, das war doch genau, was er jetzt brauchte.

Als er jetzt zum Monitor hinaufspähte, wurde ihm flau im Magen. Eben wurde die Sendung von einem Live-Bericht unterbrochen, und er griff nach der Fernbedienung auf dem Beistelltisch neben seinem Bett – nur um daran erinnert zu werden, dass er festgeschnallt war. Seine Fesseln klirrten, hielten aber. Er hätte sie abreißen können, aber scheiß drauf, er kam auch ohne die verdammte Fernbedienung aus.

Chase drehte den Ton mit bloßer Willenskraft lauter und schaute in hellem Entsetzen zu, wie Live-Bilder einer riesigen Explosion irgendwo in Boston den Bildschirm ausfüllten, kommentiert von der Stimme einer Reporterin.

»… im UN-Gebäude in der Innenstadt. Die Polizei trifft eben am Schauplatz ein, und die Newsteams von Channel 5 sind unterwegs. Ersten Berichten zufolge handelt es sich um ein Bombenattentat. Es wird von massiven Schäden am Gebäude berichtet, die Innenstadt wurde großräumig abgeriegelt.«

Heiliger Bimbam. Chase beobachtete, wie der Kamera des Helikopters von Channel 5, der über der Gegend kreiste, Flammen und eine gewaltige Rauchwolke entgegenschlugen. Obwohl dieser unglaubliche, sinnlose Anschlag anscheinend nur den Zweck hatte, Schrecken zu verbreiten, sagte ihm sein Bauchgefühl klar und deutlich, dass er auf Dragos’ Konto ging.

»Quellen vor Ort berichten von einer Verfolgungsjagd von Polizei und Tatverdächtigen. Die mutmaßlichen Täter dieses Terroranschlags wurden von Augenzeugen gesehen, wie sie sich unmittelbar vor der Explosion vom Tatort entfernten. Der Helikopter von Channel 5 ist zum Schauplatz unterwegs, wir melden uns in Kürze mit weiteren Informationen.«

Chase ließ den Kopf wieder sinken und murmelte einen deftigen Fluch zur Decke. Wenn Dragos hinter diesem Coup steckte, was zur Hölle hatte er damit vor?

Chase wollte sich von seinen Fesseln losreißen, seine Zwangspause beenden und ins Techniklabor hinübergehen, wo gerade sicher der ganze Orden versammelt war und sich denselben beunruhigenden Bericht ansah. Gideon beobachtete die Nachrichten der Menschen ständig, und ein Terroranschlag in der Woche vor Weihnachten war garantiert auf allen Kanälen.

Aber er hatte am langen Konferenztisch im Techniklabor nichts mehr zu suchen. Seine Missionen für den Orden waren in der letzten Zeit eine einzige Pannenserie gewesen, und dann hatte er den Orden verlassen. Er konnte sie nicht bitten, ihn zurückzunehmen, bis er nicht ganz sicher war, dass er das Gröbste überstanden hatte.

Als er so mit seinen Selbstvorwürfen beschäftigt war, meldete sich auf dem Bildschirm wieder die Reporterin.

»Wir schalten live zum Helikopter von Channel 5. Am Stadtrand verfolgen Einsatzfahrzeuge der Polizei eben das Fahrzeug der mutmaßlichen Tatverdächtigen des Bombenanschlags auf das UN-Gebäude heute Morgen. Für unsere Zuschauer, die gerade zuschalten: Das Team von Channel 5 war als Erstes vor Ort und berichtete von einer riesigen Explosion in der Innenstadt vor wenigen Minuten, offenbar ein Bombenattentat …«

Während sie redete, beobachtete Chase zuerst verblüfft, dann mit wachsendem Argwohn und schließlich in hellem Entsetzen, wie eine Flotte von Polizeiautos und Bussen der Spezialeinheiten einen roten Pritschenwagen neueren Datums aus der Innenstadt in einen Außenbezirk verfolgten, ein Stadtviertel mit herrschaftlichen Villen auf riesigen baumbestandenen Grundstücken.

Sie hielten genau auf das Anwesen des Ordens zu.

Chase versuchte sich aufzusetzen und spürte, wie seine Fesseln ihm in Handgelenke und Knöchel schnitten. Der stahlverstärkte Ledergurt um seinen Oberkörper ächzte, als er sich abmühte, besser auf den Bildschirm sehen zu können.

Es sah nicht gut aus.

Der Pritschenwagen nahm die letzte Kurve und raste auf der sonnenhellen Straße direkt auf den äußeren Einfassungszaun ihres Anwesens zu.

Herr im Himmel.

Heilige Muttergottes …

Ein Funkenregen ging nieder, als der Pritschenwagen in voller Fahrt das elektrische Einfahrtstor durchbrach. Mehrere Männer sprangen aus dem Wagen und rannten über den verschneiten Rasen auf das Anwesen zu, mit über einem Dutzend Cops hart auf den Fersen.

Dragos hatte sie hergeschickt.

Das wusste er.

Er wusste es, so wie er wusste, dass es sich hier um einen Vergeltungsschlag handelte und nicht nur um einen bizarren Zufall. Das war Dragos’ Rache für letzte Nacht.

Diese Katastrophe hatte er heraufbeschworen … auf den Orden, auf seine Freunde.

Mit einem gequälten Aufschrei riss sich Chase von seinen Fesseln los und floh mit seiner ganzen übernatürlichen Geschwindigkeit aus der Krankenstation.

Lucan stand mit dem gesamten Orden im Techniklabor und sah ungläubig die Fernsehnachrichten.

Ihre Ungläubigkeit war nichts gewesen im Vergleich zu dem kalten Grauen, dem ersten wirklichen Anflug von Angst, den Lucan seit sehr langer Zeit gespürt hatte, als der rote Pritschenwagen mit den mutmaßlichen Bombenlegern das Tor ihres Anwesens rammte.

Im Techniklabor breitete sich Schweigen aus.

Draußen war es heller Tag, sie hatten keine Chance zu entkommen. Jetzt saßen sie in der Falle und hatten keine andere Wahl, als das Scharmützel oben im Anwesen zu beobachten und zu hoffen, dass die Polizei wieder abzog, ohne auf dem Anwesen herumzuschnüffeln oder die Eigentümer zu vernehmen.

Und nun ging Lucan auf, dass genau das die ganze Zeit über Dragos’ Plan gewesen war. Darum hatte er das Ortungsgerät in Kellan Archer eingesetzt. Das war also sein Plan, den Orden zu vernichten.

Er wollte es nicht selbst tun, sondern es die Menschen machen lassen.

»Alle Zugänge zum Hauptquartier schließen und verriegeln«, sagte er zu Gideon. »Wenn diese Scheißterroristen oder die Bullen so dumm sind und ins Haus kommen, wollen wir nicht, dass sie neugierig werden, was darunter liegt.«

Wenn es so weit kam, hatte der Orden keine andere Wahl, als sie alle zu töten.

Und das wäre verdammt schwer zu vertuschen, besonders da die ganze verdammte Verfolgungsjagd live in den Medien übertragen wurde.

»Alles abriegeln, sofort«, sagte er und schlug mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass sich in seiner Mitte ein langer Riss ausbreitete. »Das war Dragos. Er hat sie hergeschickt, direkt zu unserer Schwelle.«

»Zugänge zum Hauptquartier abgeriegelt«, meldete Gideon. Dann zischte er einen Fluch, den Lucan momentan definitiv nicht hören wollte. »Ach du Scheiße. Das gibt’s doch nicht.«

Er sah sich hastig zu Lucan um und zeigte auf einen der Überwachungsmonitore der Kameras oben im Herrenhaus.

»Verdammt«, keuchte Nikolai von seinem Platz. »Das ist Harvard. Was zur Hölle macht er da oben?«

»Er rettet uns«, antwortete Dante mit völlig ausdrucksloser Stimme.

In fassungslosem Schweigen sahen sie zu, wie Chase ruhig auf die Eingangstür des Anwesens zuging und sie öffnete. Draußen auf dem Hof wimmelte es von uniformierten Polizisten, Angehörigen der Spezialeinheiten und Agenten des Geheimdienstes. Als er zum Zeichen der Kapitulation die Hände hob, umfloss das helle Sonnenlicht seine Silhouette wie der Strahlenkranz eines Racheengels.

Die Menschen rannten auf ihn zu, um ihn abzufangen, etliche sahen sich Chase sehr genau an und sprachen hastig in ihre Funkgeräte, zweifellos erkannte jeder da draußen ihn von dem Phantombild, das in jeder Polizeiwache zwischen Boston und der Bundeshauptstadt zirkulierte.

Lucan sah zu, beschämt und dankbar. Wenn Chase sich nicht geopfert hätte, hätten diese Männer ihr ganzes Anwesen auseinandergenommen. Das war zwar immer noch drin, aber nun hatte der Orden Aufschub bekommen. Statt einer Razzia am helllichten Tag hatten sie nun die Chance, ihre Sachen zu packen und das Hauptquartier beim Anbruch der Dunkelheit zu verlassen.

Und das hatten sie Sterling Chase zu verdanken.

»Verdammte Scheiße«, murmelte Brock neben Lucan. »Wir können doch nicht zulassen, dass die ihn einfach so abführen. Wir müssen was tun.«

Lucan schüttelte grimmig den Kopf und wünschte sich, irgendwie helfen zu können. »Diese Möglichkeit hat Harvard uns eben aus der Hand genommen. Er ist jetzt ganz auf sich allein gestellt.«