22

Chase tippte die Nummer schon zum dritten Mal in den Tastenblock der öffentlichen Telefonzelle, dann stieß er wie auch die vorigen Male einen deftigen Fluch aus und knallte den Hörer auf die Gabel zurück, noch bevor es am anderen Ende zum ersten Mal geklingelt hatte.

»Scheiße«, murmelte er und fuhr sich mit den Fingern über den Kopf, wo schon fast die ganze Nacht eine üble Migräne hämmerte.

Er wusste, warum er die hatte. Derselbe schneidende Schmerz wütete auch in seinen Eingeweiden und drängte ihn, den Anruf zu vergessen, für den er doch sowieso zu feige war, und sich Produktiverem zuzuwenden.

Sein Körper zitterte heftig vom Bedürfnis nach Nahrung. Er versuchte, den kalten Krampf in seinen Adern zu ignorieren, der seinen ganzen Körper zum Zittern brachte und ihn rastlos und nervös machte. Wenigstens seine Fänge hatten sich zurückgezogen, und seine Augen warfen keinen bernsteinfarbenen Schein mehr auf die schmutzige, dunkle Ecke in der City, wo er stand, auch spiegelten sich im abgeplatzten Chromgehäuse des Telefons keine geschlitzten Katzenaugen.

Wenigstens war er noch nicht völlig verloren. Auch wenn dieser sengende Hunger ihn jetzt ständig in den Klauen hatte, noch hatte die Blutgier ihn nicht endgültig gepackt. Noch war er kein Rogue.

Er war verdammt schlecht drauf, und er wusste es.

Aber noch war sein Verstand nicht so zersetzt, dass er Murdocks Geständnis vergessen hätte, und was das für den Orden bedeutete, erschreckte ihn zutiefst.

Wieder nahm er den Hörer ab und hämmerte die Nummer in die Tastatur, die ihn zu Gideons gesicherter Verbindung ins Hauptquartier umleiten würde. Als es am anderen Ende zu klingeln begann, hielt er den Atem an. Beim zweiten Läuten wurde abgenommen.

»Ja.«

Chase runzelte die Stirn, aus dem Tritt gebracht. Das war nicht Gideons vertrauter britischer Akzent. Er setzte zum Sprechen an, aber seine Stimme klang rostig, seine Kehle war ausgedörrt und brannte vor Durst, den er jetzt unbedingt ignorieren musste. Er schluckte und versuchte es noch einmal. »Tegan … bist du das?«

»Harvard«, antwortete der Gen-Eins-Krieger ausdruckslos. Es war keine Begrüßung und erweckte nicht einmal den Anschein von Freundlichkeit. »Was zur Hölle willst du?«

Er wusste, dass er es nicht anders verdient hatte, aber es tat trotzdem weh. Chase holte tief Atem und stieß ihn langsam wieder aus. »Bin überrascht, dass du Telefondienst machst, Tegan«, sagte er und hoffte, dass er das Eis am anderen Ende etwas brechen konnte. »Gideon lässt doch sonst niemanden an sein Hightech-Spielzeug ran.«

»Ich sag’s noch mal, Harvard. Was willst du?«

So viel zum Thema Eisbrechen. Das hätte er sich eigentlich denken können. Schließlich war er derjenige, der den Orden verlassen hatte. Es gab keinen Grund, warum sie ihn zurücknehmen oder auch nur seine Existenz zur Kenntnis nehmen sollten. Chase räusperte sich. »Ich muss Lucan sprechen. Es ist wichtig.«

Tegan grunzte. »Pech für dich, jetzt hast du mich an der Strippe. Also rede endlich oder verschwende nicht länger meine Zeit.«

»Ich habe Murdock gefunden«, platzte er heraus.

»Wo?«

»Ist jetzt egal, er ist tot.« Ein paar Meter weiter trat eine Nutte auf den Gehweg und schlenderte auf roten High Heels langsam auf Chase zu. Ihre kurze Winterjacke stand auf und enthüllte jede Menge Bein und Busen und viel zu viel nackten Hals für seinen fragilen Geisteszustand. Chase riss den Blick von seinem potenziellen Mitternachtssnack los und ließ die Stirn gegen das kühle Metall der Telefonzelle sinken. »Murdock hat mir Informationen gegeben, die Lucan hören muss. Sieht nicht gut aus, Tegan.«

Der Krieger stieß einen deftigen Fluch aus. »Hab ich auch nicht erwartet. Sag mir, was du weißt.«

»Dragos fährt größere Geschütze auf. Laut Murdock hat er Lakaien bei der menschlichen Polizei gemacht, und anscheinend hat er ein Auge auf einen Bostoner Politiker geworfen. Murdock hat diesen neuen Senator erwähnt, der eben ins Amt gewählt wurde.«

»Scheiße«, sagte Tegan. »Das gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Kannst du laut sagen«, stimmte Chase ihm zu. »Aber das ist nicht das Schlimmste. Murdock sagte mir, Dragos will den Orden vernichten und hätte von einer Art Trojaner geredet. Ich habe das ungute Gefühl, das hat was damit zu tun, dass die Archers letzte Woche ins Hauptquartier gekommen sind.«

»Was du nicht sagst«, bemerkte Tegan und klang jetzt gelangweilt. »Update für dich, Harvard. Nachdem du vor ein paar Nächten deinen großen Abgang gemacht hast, hat der Junge ein Ortungsgerät ausgekotzt. Er hat absolut keine Erinnerung daran, wo es herkam oder wie es in ihn reingekommen ist. Da seine Entführer ihn praktisch sofort bewusstlos geschlagen haben, dürften sie es ihm gewaltsam eingeführt haben.«

»Scheiße«, zischte Chase. »Also hatte Murdock recht. Und jetzt weiß Dragos, wo das Hauptquartier ist.«

»So sieht’s aus«, antwortete Tegan.

»Was ist dann der Plan? Wie will Lucan die Situation da drüben angehen? Ihr könnt doch nicht einfach tatenlos rumsitzen und auf Dragos’ Angriffsschlag warten …«

Am anderen Ende herrschte beredtes Schweigen, und schließlich sagte Tegan: »Was wir diesbezüglich unternehmen, ist Ordenssache, mein Alter.«

Er sagte es ohne Feindseligkeit, hatte sich aber klar genug ausgedrückt: Ordenssache. Die mit Außenstehenden nicht diskutiert wurde. Chase gehörte nicht mehr dazu.

»Es sei denn, du rufst an, weil du zurückkommen willst«, fuhr Tegan fort. »Wenn dem so ist, warne ich dich: Wenn du Lucan überzeugen willst, wirst du wahrscheinlich alles brauchen, was du bei deinem Jurastudium gelernt hast. Das Gleiche gilt für Dante – der ist stinksauer auf dich, mehr als alle anderen hier.«

Chase schloss die Augen, um die wohlverdiente Standpauke zu verdauen, er ließ den Kopf hängen und stieß einen langen Seufzer aus. Das Allerletzte, was Dante jetzt brauchen konnte, war diese Art von Ärger, wo seine Gefährtin doch schon in ein paar Wochen ihren Sohn bekommen würde. »Wie geht’s ihm und Tess?«, murmelte Chase. »Haben sie sich schon auf einen Namen für das Baby geeinigt?«

Tegan schwieg lange. »Warum kommst du nicht zurück ins Hauptquartier und fragst sie das selber?«

»Nö«, antwortete Chase automatisch, hob den Kopf und sah zu den Junkies und Nutten hinaus – all den Versagern, die in dieser heruntergekommenen Straße in der übelsten Gegend von Boston herumlungerten. »Ich bin gerade gar nicht in der Stadt. Weiß noch nicht, wann ich wiederkomme …«

Tegan schnitt ihm mit einem leisen Fluch das Wort ab. »Jetzt hör mir mal gut zu, Harvard. Du bist komplett am Arsch. Wir wissen beide, was da los ist, also versuch nicht, mir was vorzumachen. Du hast ein ernstes Problem. Vielleicht steckst du schon tiefer in der Scheiße, als du denkst. Aber schon die Tatsache, dass du jetzt mit mir sprichst – dass du dastehst und dich fragst, ob du noch klar im Kopf bist oder dir schon alles scheißegal ist, sagt mir, dass du immer noch eine Chance hast. Du kannst wieder zurückkommen, aber du musst es tun, bevor für dich jede Hilfe zu spät kommt.«

»Ich weiß nicht«, murmelte Chase. Ein Teil von ihm wollte das Friedensangebot sofort annehmen. Aber es gab noch einen anderen Teil von ihm, der sich gegen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit oder Vergebung sperrte. Und dieser Teil von ihm konnte nicht aufhören, die junge, nur allzu willige Frau anzustarren, die ihren knapp bekleideten Hintern inzwischen demonstrativ an der roten Ziegelwand des Nachbargebäudes geparkt hatte. Auch sie hatte ihn beobachtet und war zweifellos erfahren genug, das Interesse in seinen halb geschlossenen Augen zu sehen.

»Chase«, sagte Tegan nachdrücklich, als die Sekunden ohne Antwort verstrichen. »Du musst dich entscheiden, mein Alter. Was soll ich Lucan sagen?«

Die Nutte nickte Chase zu und begann, zu ihm herüberzuschlendern. Er spürte, wie ihm ein Knurren in der Kehle aufstieg. Jetzt loderte der Hunger hell auf, der so knapp unter der Oberfläche seines Bewusstseins lauerte, trotz all seiner Anstrengung, ihn niederzukämpfen. Sein Zahnfleisch pulsierte, und seine Fänge schossen heraus.

»Chase, gottverdammt.« Schon nahm er den Hörer vom Ohr, als Tegans tiefe Stimme durch das Plastik vibrierte. »Du gräbst dir dein eigenes Grab.«

Chase legte den Hörer auf und trat aus der Telefonzelle, um die junge Frau mit sich in die Schatten zu zerren.

Hunter raste zu Fuß durch New Orleans, vom Ansturm der Erinnerungen aus Henry Vachons Blut brummte ihm noch immer der Kopf. Er hatte unaussprechlich Ekelhaftes gesehen, und alles war mit Dragos’ Zustimmung ausgeführt worden. Einiges davon hatte sich der perverse Vachon auch selbst ausgedacht.

Es kostete Hunter die ganze Disziplin seiner Ausbildung, die schlimmste dieser Erinnerungen zurückzudrängen – wie Corinne als hilfloses junges Mädchen in der Nacht ihrer Entführung von den beiden Stammesvampiren vergewaltigt und gefoltert worden war. Stattdessen konzentrierte Hunter sich nun auf eine völlig andere Erinnerung, die er Henry Vachon in den letzten Augenblicken seines Lebens ausgesaugt hatte.

Als er seinen letzten Atemzug getan hatte – und Hunter hatte dafür gesorgt, dass er die größtmöglichen Todesqualen ausstand –, hatte Vachons Blut ihm die Adresse eines Lagerhauses in der Nachbargemeinde Metairie gezeigt. Dorthin hatte er in den letzten Monaten einen Teil der Ausrüstung aus Dragos’ überstürzt abgebautem Labor liefern lassen.

Die Firma war günstig in Autobahn- und Schienennähe gelegen. Der flache weiße Backsteinbau lag an einer Straßenecke neben einem leer stehenden Bürogebäude, gegenüber einem zweigeschossigen Wohnblock. Hunter bewegte sich geräuschlos über den mondhellen, eingezäunten Firmenparkplatz, vorbei an einigen Miet-LKWs und dauergeparkten Wohnmobilen, die sich den schwachen gelben Lichtkreis einer einzigen Sicherheitslampe teilten. So spät war der Laden bereits geschlossen, das Rollgitter hinter den Glastüren an der Gebäudefront heruntergelassen.

Hunter flitzte an der Überwachungskamera vorbei, die an der oberen Ecke der Fassade montiert war, und ging um das Gebäude herum. Auf halbem Weg fand er eine Metalltür mit der Aufschrift Kein Zugang, packte den Türgriff und verbog ihn, bis der Mechanismus des Schlosses brach. Dann schlüpfte er hinein und suchte sich die Nummer des Lagerabteils, die Vachons Blut ihm geliefert hatte.

Es war am rückwärtigen Ende der Halle gelegen. Hunter riss das massive Vorhängeschloss mit einem kräftigen Ruck los, öffnete die Tür aus verstärktem Stahlblech und trat in die etwa dreizehn Quadratmeter große Zelle. Als er über die Schwelle trat, spürte er ein schwaches Vibrieren in seinem Innenohr, sah hinunter und merkte, dass er mit dem Fuß den stummen Alarm eines Bewegungsmelders ausgelöst hatte. Ihm blieb wohl nicht viel Zeit, bis jemand darauf reagierte.

Zum Glück gab es im Lagerabteil nicht viel zu sehen. Direkt neben dem Eingang stand ein feuerfester Safe, und im hinteren Teil zwei gedrungene runde Behälter aus rostfreiem Stahl mit hydraulischem Vakuumverschluss, der aussah wie ein Lenkrad aus poliertem Metall. Er erkannte die Behälter aus Henry Vachons Erinnerungen wieder, aber auch ohne seine Gabe hätte er gewusst, welchem Zweck sie dienten.

Tieftemperatur-Lagerbehälter.

Sie waren an ein riesiges tragbares Stromaggregat angeschlossen, und laut einer Digitalanzeige betrug die Innentemperatur minus 150 Grad Celsius. Hunter öffnete den Verschluss des Behälters, der ihm am nächsten war, und hob den schweren Deckel. Eisige Wolken von flüssigem Stickstoff quollen aus der Öffnung. Hunter wedelte sie beiseite und sah hinein auf unzählige Glasröhrchen im Kälteschlaf. Er brauchte keine herauszuziehen, um zu wissen, dass sie Zell- und Gewebeproben aus Dragos’ Geheimlabor enthielten. Die Resultate von Experimenten und Gentests, wie Hunter nur raten konnte, als er die unzähligen Glasröhrchen anstarrte, die sorgfältig in mehreren Reihen im Behälter aufgeschichtet waren.

Ebenso verblüfft wie abgestoßen wandte Hunter seine Aufmerksamkeit dem kleinen Safe zu. Er brach ihn auf und fand einen Stapel Aktenordner und Fotos sowie eine Handvoll USB-Sticks darin.

Er musste das alles, den gesamten Inhalt von Vachons Lagerabteil, dem Orden bringen.

Mit diesem Ziel im Sinn ging er zum Parkplatz nebenan hinüber und schloss einen der Laster kurz, die draußen im Dunklen standen, fuhr ihn zum Seiteneingang und ließ ihn dort stehen, während er ins Lagerabteil zurücklief, um die Sachen zu holen.

Er hatte bereits den Safe und einen der Lagerbehälter in den Kastenwagen geladen und war eben dabei, wieder umzukehren und den letzten zu holen, als er merkte, dass er nicht allein war. Der stumme Alarm war offenbar direkt zu Dragos gegangen, denn draußen vor dem offenen Lastwagenanhänger kauerte ein Gen-Eins-Killer in Kampfposition.

Der riesige Mann drückte sich auf den Fußballen ab und sprang nach vorne, bildete in seiner Kampfmontur eine pechschwarze Silhouette gegen den Nachthimmel. Er prallte gegen Hunter und warf sie beide weiter in den Laster hinein. Sie fielen gegen den Behälter, und unter der Wucht ihres Aufpralls erklang der rostfreie Stahl wie eine Glocke.

Hunter stieß sich vom Boden ab und rammte dem Killer die Schulter in den Magen. Der Mann fiel auf den Rücken, war aber sofort wieder auf den Füßen und stürzte sich mit gezücktem Dolch auf Hunter.

Ein heftiger Kampf folgte. Hunter sah seine Chance, als der Killer einem seiner Schläge auswich und dabei Kopf und Hals ungeschützt ließ. Hunter schlug ihm mit der Handkante hart auf den Kehlkopf und landete einen Volltreffer, der dem Vampir die Luftröhre abdrückte. Der Killer keuchte und taumelte einen Augenblick, dann warf er Hunter einen mörderischen Blick zu und griff ihn wieder mit seiner Klinge an.

Hunter schlug sie mit dem Arm zur Seite, riss den Ellbogen nach hinten und bekam das Handgelenk des Killers zu fassen. Mit einem heftigen Ruck riss er den Unterarm des Killers herunter und brach ihn mit einem scharfen Knacken über seinem Oberschenkel. Als die Klinge klappernd auf den Boden des Lasters fiel und der Killer einen Satz nach vorne machte, packte Hunter das schwarze UV-Halsband und knallte den Kopf des Gen Eins gegen die Kante des Tieftemperatur-Lagerbehälters.

Blut spritzte auf, aber noch wollte der Killer nicht aufgeben. Er schlug Hunter auf die Kniescheibe und hätte ihn damit zu Fall gebracht, doch Hunter hatte den Schlag kommen sehen und konterte ihn mit einem Tritt. Dann griff er um den Stahlbehälter mit dem flüssigen Stickstoff herum, packte den Deckel und riss heftig daran. Er löste sich, und Hunter riss ihn ganz auf. Bevor der Killer sein Gleichgewicht wiederfinden konnte, zerrte Hunter ihn vom Boden hoch, stieß ihn mit dem Kopf in den wabernden Stickstoffdampf, warf den Deckel zu und klemmte den Mann darunter ein.

Es dauerte nur wenige Minuten, und der Vampir hörte auf sich zu wehren.

Der Körper erschlaffte, Arme und Beine wurden reglos in der eisigen Wolke, die sich aus dem Behälter auf den Boden ergoss.

Nach ein paar Minuten hob Hunter den Deckel. Der Kopf des Killers war tiefgefroren, sein Mund in einem Schrei erstarrt, die blauen Lippen und die stumpfen, blicklosen Augen bedeckt von Eiskristallen. Hunter stieß die Leiche beiseite. Als sie mit einem harten Rums auf dem Boden aufschlug, zerbrach das dicke schwarze Halsband knisternd in mehrere Teile und fiel ab.

Nachdem er sich dieser Störung entledigt hatte, ging Hunter in das Lagerabteil zurück, um den anderen Tieftemperatur-Lagerbehälter zu holen und in den Laster zu laden.