16

Sie kamen in einem tiefer gelegten lilafarbenen El Camino, den Hunter in New Orleans requiriert hatte, am Flughafen an.

Sein Besitzer hatte den Wagen am Bordstein stehen lassen, denn er war gerade in einen hitzigen Wortwechsel mit ein paar leicht bekleideten jungen Frauen an der nächsten Straßenecke verwickelt, die ihm offenbar Geld schuldeten. Während er sie anschrie und ihnen Obszönitäten zubrüllte, hatte Hunter Corinne auf dem Beifahrersitz untergebracht, war hinters Steuer geschlüpft und davongebraust, bevor der Mann überhaupt merkte, was los war.

Der Jet des Ordens wartete schon auf sie, als sie den gestohlenen Wagen in das riesige private Hangargebäude fuhren. Corinne sah zu Hunter hinüber, sie versuchte immer noch, seine sanfte Berührung im Jazzclub mit der tödlichen Effizienz in Einklang zu bringen, mit der er die beiden Agenten in der Gasse umgebracht hatte. »Diese Wachen vorhin in der Stadt«, murmelte sie, als er den Wagen parkte und den Motor abstellte. »Du hast ihnen das Genick gebrochen wie Streichhölzer.«

Seine Miene war undurchdringlich, völlig neutral. »Wir müssen los, Corinne. Gideon hat schon angerufen und den Piloten Bescheid gesagt, sie warten auf uns.«

Sie schluckte an dem Klumpen, der ihr im Hals saß, seit sie aus dem Club geflohen waren. »Du hast diese Männer umgebracht, Hunter. Kaltblütig ermordet.«

»Ja«, sagte er ruhig. »Bevor sie Gelegenheit hatten, dasselbe mit uns zu tun.«

Ich bin ein Killer.

Das hatte er erst letzte Nacht zu ihr gesagt. Er war in diese Rolle hineingeboren und speziell dafür ausgebildet, unaussprechliche Dinge zu tun. Bis jetzt waren das für sie einfach nur Worte gewesen, keine reale Gefahr. Jetzt saß sie neben ihm und würde ihm gleich aus dem gestohlenen Wagen in das Flugzeug folgen, das sie Gott weiß wohin bringen würde.

Doch als er jetzt aus dem Wagen stieg, zur Beifahrerseite hinüberkam, ihr die Tür öffnete und seine Hand hinhielt, nahm sie sie.

Sie ging mit ihm über den Betonboden des Hangars auf die heruntergelassene Gangway des Privatjets zu. Hunter stieg vor ihr hinauf, dann winkte er ihr, ihm in die geräumige Kabine zu folgen.

»Die Piloten müssen im Cockpit sein«, sagte er, als sie an ihm vorbei auf einen der sechs riesigen Ledersitze zuging. »Ich sage ihnen, dass wir hier sind.«

Corinne sah sich um und nickte.

Aber als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Hunter richtete, schien plötzlich alles um sie herum schrecklich still zu werden. Seine Augen blitzten warnend, und er streckte die Hand nach ihr aus.

»Corinne, steig aus. Raus hier, sofort …«

Bevor sie reagieren konnte, brach etwas Riesiges aus dem geschlossenen Cockpitbereich hinter ihm hervor. Es war ein Stammesvampir, genauso so riesig wie Hunter, von Kopf bis Fuß in schwarzer, hautenger Kampfmontur.

Hunter wirbelte mit Lichtgeschwindigkeit herum, stellte sich seinem Angreifer entgegen und schaffte es, seine Hand zu packen, mit der dieser eine übel aussehende schwarze Pistole umklammerte. Schüsse ertönten – eine Kugel schlug über Hunters Kopf in der Decke ein, zwei weitere in den Seitenwänden der Kabine. Ein Fenster splitterte, und um das riesige Loch, das die Kugel hinterlassen hatte, breitete sich ein Spinnennetz von Rissen aus.

Corinne kauerte sich hinter die hohe Lehne eines Ledersitzes und beobachtete mit Entsetzen und Verblüffung, wie Hunter die Handkante auf das Handgelenk seines Gegners knallte. Die Waffe fiel auf den Kabinenboden, Hunter trat sie mit dem Stiefel beiseite und versetzte dem Mann eine ganze Serie von Handkantenschlägen auf Hals und Kinn.

Aber dieser ging nicht zu Boden wie die beiden Wächter vor dem Jazzclub. Er war Hunter absolut ebenbürtig, und als Corinne ihn in hellem Entsetzen anstarrte, erkannte sie, dass er ihm auch in der Kampftechnik ebenbürtig war.

Der Mann packte Hunter am Genick, schleuderte ihn gegen die nächste Wand und versetzte ihm ein Sperrfeuer von Schlägen auf Gesicht und Kopf. Hunter schaffte es, sich aus seinem eisernen Klammergriff zu winden. Mit einer Hand packte er das Handgelenk seines Angreifers und verrenkte ihm den Arm so heftig, dass Corinne Knochen knirschen hörte.

Und doch stieß Hunters Angreifer lediglich ein Grunzen aus, wirbelte gleich wieder zu ihm herum und versuchte, die Oberhand zu gewinnen. So weit ließ Hunter es nicht kommen. Er knallte ihm den Stiefelabsatz seitlich gegen die Kniescheibe, rammte ihm die Faust in den Magen und dann gegen die Schläfe. Der Angreifer ging zu Boden, beim Aufprall verrutschte seine schwarze Skimaske und entblößte sein Gesicht.

Corinne keuchte erschrocken auf.

Während Hunters dichtes Haar kurz geschoren war, war der andere Vampir völlig kahl rasiert. Ein verschlungenes Muster von Gen-Eins-Dermaglyphen zog sich um seine Ohren bis auf seinen Kopf hinauf. Bei jedem anderen Stammesvampir würden sie vor Wut und Schmerzen farbig pulsieren, aber ihre Farben waren gedämpft und zeigten keinerlei Gefühlsregung. Und unter den dicken dunklen Augenbrauen blickten die grauen Augen des Angreifers so kalt und ausdruckslos wie Stahl.

Er war so ruhig und kühl wie Hunter. Und genau so tödlich.

Obwohl die beiden sich eigentlich nicht ähnlich sahen, waren sie doch ein und dasselbe.

Beide geborene Killer.

Beide dazu abgerichtet, auf Dragos’ Befehl zu töten.

In dem Augenblick, den sie brauchte, um das zu erkennen, zielte Hunter mit dem Stiefel auf das Gesicht des anderen Mannes. Als sich seine Oberschenkelmuskeln anspannten und der Stiefelabsatz niederfuhr, rollte sich der andere Mann zur Seite und warf sich in die kleine Bordküche zwischen der Kabine und der zertrümmerten Cockpittür.

Während ein Arm gebrochen und nutzlos herabhing, streckte der Eindringling den anderen aus und riss einen Schrank voller Glasgeschirr um. Dann wirbelte er wieder zu Hunter herum und zückte eine lange, glitzernde Glasscherbe wie eine Klinge. Er stach zu, und Hunter konnte nur knapp ausweichen. Und dann rammte er seinem Angreifer die Faust in den Unterbauch. Der Schlag brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und die gläserne Klinge fiel zu Boden und zerbrach unter ihren Füßen, als sich der Kampf in der Bordküche fortsetzte.

Corinne hätte weglaufen können. Das hätte sie wohl auch tun sollen. Aber Hunter mit diesem offenbar unbesiegbaren Killer allein zu lassen kam überhaupt nicht infrage. Sie kroch hinter dem Sitz hervor und sah sich um, wie sie ihm helfen könnte. Ihre Gabe war hier nutzlos. Ohne irgendein länger anhaltendes Geräusch konnte sie ihre Fähigkeit, Schallwellen zu verstärken, nicht herbeirufen.

Aber wenn sie die Waffe in die Hand bekam, die nur einige Meter zwischen ihr und den Kämpfenden lag …

Sie hatte sie zu spät gesehen.

Hunters Angreifer arbeitete sich bereits auf sie zu, er wehrte Hunter ab und versuchte, die Waffe mit dem Fuß in seine Reichweite zu kicken.

Sie wirbelten herum und versetzten einander Schläge, von denen andere Männer bewusstlos zusammengebrochen wären. Und dann griff Hunters Gegner so schnell, dass Corinne die Bewegung kaum wahrnehmen konnte, nach der Waffe, hob sie auf und zielte ihm direkt ins Gesicht.

»Nicht!« Corinnes Füße bewegten sich wie von selbst, noch bevor sie Atem holen und erneut schreien konnte. Sie rannte von hinten auf den anderen Mann zu und sprang ihm auf den Rücken. Mit einer Hand klammerte sie sich fest und krallte ihm die Fingernägel der anderen in Gesicht und Augen. Sie drückte zu, so fest sie nur konnte, kämpfte wie ein Tier, um eine von Dragos’ Bestien daran zu hindern, jemanden zu verletzen, der ihr etwas bedeutete.

Der Killer verzog keine Miene. Er rammte ihr hart den Ellbogen gegen den Kopf und presste ihre Lippen gegen die Zähne. Sie schmeckte Blut, spürte, wie es ihr übers Kinn rann. Ihre Lippe war aufgeplatzt.

Und dann wurde sie nach hinten geschleudert, er hatte sie mit seinem breiten Rücken mühelos abgeworfen.

Missglückt oder nicht, mit ihrem Angriff hatte sie den Killer einen Augenblick so weit abgelenkt, dass Hunter die Waffe beiseiteschlagen konnte, gerade als der Eindringling wieder abdrückte. Hunter senkte den Kopf und rammte den anderen Mann mit seinem ganzen Körper, stieß ihn mit seiner mächtigen Schulter nach hinten auf die offene Tür zu, die auf die Gangway führte.

Sie stürzten zusammen aus dem Flugzeug. Corinne stand auf, rannte zur Tür hinüber und sah, wie die beiden hart auf dem Betonboden des Hangars aufschlugen.

Hunter sah kurz zu ihr hoch – nur um festzustellen, ob sie in Ordnung war. Sie spürte die Hitze seiner goldenen Augen in ihrem Gesicht, als sie auf das dünne Blutrinnsal fielen, das sie sich eben vom Kinn wischte.

Sie hörte sein tiefes Knurren, der erste Laut, den er während des ganzen gnadenlosen Kampfes von sich gegeben hatte. Als er sich wieder dem Killer zuwandte, der halb bewusstlos unter ihm auf dem Boden lag, bewegte er sich präzise und zielstrebig. Er nahm dem Angreifer die Waffe aus der schlaffen Hand und stand auf. Dann setzte er sich rittlings auf den riesigen schwarz gekleideten Körper und richtete die Mündung der Waffe auf den kahl rasierten, glyphenbedeckten Schädel.

Nein, das tat er nicht, bemerkte Corinne jetzt.

Er zielte nicht auf den Kopf des Killers, sondern auf den seltsamen Ring aus einem harten schwarzen Material, den er wie eine Art Kragen um den Hals trug.

Selbst von hier oben konnte sie sehen, dass die Augen des Killers sich vor Angst weiteten, als Hunter die Waffe auf den dicken Ring senkte. Jetzt endlich hatte er erkannt, dass er verloren hatte.

Hunter feuerte.

Auf den Schuss folgte ein so gleißender Lichtblitz, dass Corinne die Augen abschirmen musste. Einen Augenblick später verlosch er, und von der Stelle, wo der Killer lag, stieg dünner Rauch auf. Sein riesenhafter Körper lag leblos auf dem Betonboden, sein Kopf säuberlich abgetrennt daneben.

»Oh mein Gott«, flüsterte sie, unsicher, was sie da eben mit angesehen hatte.

Hunter kam hinter der Gangway hervor, als sie auf der untersten Stufe angekommen war. »Bist du in Ordnung?«

Sie nickte, dann schüttelte sie schwach den Kopf, versuchte zu verstehen, was hier soeben geschehen war. »Wie hast du … was hast du mit ihm gemacht?«

Er war schon wieder stoisch geworden, aber beim Anblick ihrer aufgeplatzten Lippe blitzten in seinen Augen einige bernsteinfarbene Lichtfunken auf. Hunter führte sie von dem Gemetzel auf dem Boden fort, dann ging er noch mal zurück und zog den dicken schwarzen Ring vom verkohlten Hals des Killers. »Die Piloten waren tot, noch bevor wir angekommen sind. Dragos muss seine Leute in der ganzen Stadt haben, und er wird uns mehr von dieser Sorte hinterherschicken. Wir müssen hier weg.«

Er führte sie von der Leiche fort, und sie warf einen ungläubigen Blick zurück über die Schulter. »Willst du ihn einfach so liegen lassen?«

Hunter nickte grimmig. »Die Hangartore stehen auf. Wenn der Morgen kommt, brennt die Sonne ihn weg.«

»Und wenn nicht?«, drängte sie. »Was, wenn Dragos oder seine Männer zuerst hier sind und sehen, was du getan hast? Was, wenn sie dich verfolgen?«

»Dann wissen sie, was sie erwartet, wenn sie es versuchen.« Er hielt ihr die Hand hin, die Handfläche nach oben, wartete darauf, dass sie sie nahm. »Lass uns hier verschwinden, Corinne.«

Sie zögerte, unsicher geworden. Aber dann schob sie ihre Hand in seine und ließ sich von ihm von dem Gemetzel wegführen.