18

Am frühen Vormittag war im Bostoner Hauptquartier des Ordens für Lucan und die anderen Bewohner normalerweise Schlafenszeit.

Aber nicht heute.

Und obwohl niemand etwas Entsprechendes gesagt hatte, wusste Lucan als Vorstand dieses Haushaltes, der sich laufend vergrößerte, dass sich die Anspannung, die sie alle ergriffen hatte, ihrem Höhepunkt näherte. Selbst Mira neben Renata am riesigen Esszimmertisch wirkte gedämpft, die scharfsichtige kleine Seherin vertilgte die letzten Bissen ihrer Pfannkuchen und Würstchen ungewöhnlich still, statt wie sonst nonstop zu quasseln.

Das spontane Frühstückstreffen war Gabrielles Idee gewesen. Lucan hatte darauf bestanden, dass die weiblichen Ordensmitglieder zusammen mit ihren Kriegern unten im Hauptquartier aßen, statt wie sonst oben im Haus. Obwohl es sich seltsam anfühlte, die gesamte Belegschaft in seinem und Gabrielles Quartier zu haben – neunzehn Personen waren um den langen Tisch, eine Spezialanfertigung, die Gabrielle vor Monaten von einem Handwerker aus den Dunklen Häfen bestellt hatte, versammelt –, war ihm das weiß Gott lieber, als die anderen tagsüber aus den Augen zu lassen, wenn er nichts tun konnte, um sie zu schützen.

Sie schützen? Ach Scheiße.

Was für ein verdammter Witz das inzwischen geworden war.

Lucan war sich nur zu bewusst, dass der Orden noch niemals zuvor so anfällig gewesen war wie jetzt. Das einst so sichere Hauptquartier war nur noch eine brüchige Fassade, jetzt, wo Dragos seine genauen Koordinaten kannte.

Und laut Hunters Statusmeldung vor einigen Stunden ging Dragos jetzt anscheinend auch andernorts zur Offensive über. Einer von Dragos’ Gen-Eins-Killern hatte ihr Hangargebäude auf dem Flughafen angegriffen, die beiden Charterpiloten waren tot, und Hunter saß mit der Zivilistin Corinne Bishop in New Orleans fest. Derzeit hatten sie sich in einer Ruine, die von dem Hurrikan Katrina übrig geblieben war, verkrochen und warteten auf den Sonnenuntergang und Lucans Instruktionen.

Dann war da noch die nach wie vor ungelöste Angelegenheit von Sterling Chases Verschwinden. Lucan hatte den Krieger für suspendiert erklärt, seit er sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatte, aber Tatsache war, dass es ihn belastete, Harvard verloren zu haben. Es belastete sie alle, und seine Abwesenheit in der Runde am Tisch und auf den nächtlichen Missionen wurde vom ganzen Orden schmerzlich empfunden. Aber ihn zurückzuwünschen brachte ihn nicht zurück, und da es Chases Entscheidung gewesen war zu gehen, musste es auch seine eigene Entscheidung sein, wieder zu ihnen zurückzukommen.

Das einzig Positive derzeit im Hauptquartier war Brocks und Jennas Rückkehr aus Alaska letzte Nacht. Der hünenhafte Stammesvampir aus Detroit und seine hübsche Gefährtin saßen Lucan gegenüber am anderen Tischende und unterhielten sich mit Kade und Alex, Brocks lange dunkle Finger mit Jennas schlanken, blassen verschlungen. Die Tatsache, dass Jenna keine Stammesgefährtin war, schien für ihre Beziehung zu Brock keine Rolle zu spielen. Andererseits konnte man Jenna Darrow schon nicht mehr als Normalsterbliche bezeichnen, da sie seit ein paar Wochen ein winziges Körnchen außerirdischer DNA und Biotechnik in der Wirbelsäule mit sich herumtrug.

Und in ihren wenigen Tagen in Alaska hatte die kleine Dermaglyphe, die sich vor ihrer Abreise so unerwartet in ihrem Nacken gebildet hatte, begonnen, sich auf ihre Schultern auszubreiten. Es war schon verdammt seltsam, ein Hautmuster des Stammes auf der Haut eines Menschen zu sehen – und dann noch auf der einer Frau. Außerdem hatte Jennas Wundheilung sich inzwischen extrem beschleunigt, fast wie bei Angehörigen von Lucans Spezies, und sie verfügte über übernatürliche Kraft und Schnelligkeit – die ehemalige Polizistin aus Alaska mauserte sich definitiv zu einer erstklassigen Kriegerin.

Nur konnte niemand sagen, wie weit Jennas genetische Transformation noch gehen würde.

Herrgott, was für ein Höllentrip das doch gewesen war, dachte Lucan und sah in die um den Tisch versammelte Runde. Die meisten dieser Gesichter waren ihm vor anderthalb Jahren noch unbekannt gewesen, und nun waren sie ihm schon so vertraut wie Familienangehörige.

Selbst Lazaro Archer und sein Enkel Kellan kamen ihm nach den paar Tagen, die sie im Hauptquartier waren, kaum noch wie Fremde und fast schon wie Mitglieder der Ordensfamilie vor. Lazaro hatte sich als starker, ehrenhafter Mann erwiesen. Lucan war nach wie vor beschämt angesichts seines Angebots, dem Orden seine Festung in Maine als Übergangshauptquartier anzubieten. Es war eine Rettungsleine, die sie dringend brauchten und die er so bald wie möglich in Anspruch nehmen würde.

»Ich will dir noch einmal für dein Angebot danken, Lazaro«, sagte er und sah zu Archer hinüber, der an der linken Tischseite saß und mit einem müßigen Lächeln der lebhaften Diskussion zwischen seinem jungen Enkel und der kleinen Mira über ein Buch folgte, das sie kürzlich gelesen hatten.

Lazaro Archers dunkelblaue Augen blickten Lucan feierlich an. »Bitte, kein Grund, mir zu danken. Ich schulde dir und dem Orden mehr, als ich euch jemals vergelten kann. Ihr habt Kellan das Leben gerettet und mir auch. Ich werde immer in eurer Schuld stehen. Außerdem«, fügte er hinzu und hob die massige Schulter, »steht mein Anwesen im Norden praktisch leer, seit ich es in den 1950ern gebaut habe. Eleanor fand die ganze Idee lächerlich – sie hat mich ausgelacht und gesagt, ich wäre verrückt, als ich ihr sagte, dass ich einen gesicherten Bunker unter dem Haus haben wollte wie so viele Menschen in der Zeit des sogenannten Kalten Krieges. Sie meinte, im Fall einer nuklearen Katastrophe wollte sie lieber wie der Rest der Bevölkerung in Flammen aufgehen, als unter unserem Haus zu schmoren wie Sardinen in der Büchse. Ich konnte sie nie überreden, dort oben auch nur eine einzige Nacht zu verbringen. Meine Ellie war so halsstarrig, wie sie schön war.«

Lucan sah die Wehmut in der Miene des Stammesältesten, als er von seiner Stammesgefährtin sprach. Es war praktisch das erste Mal, dass er ihren Namen erwähnte, seit sie und der Rest der Familie Archer bei dem Anschlag auf ihren Dunklen Hafen umgekommen waren. Eleanor Archer und alle anderen in dem privaten Anwesen waren auf Dragos’ Befehl in ihrem Anwesen verbrannt worden. So viele Todesopfer, nur weil Dragos den Orden zu fassen bekommen wollte.

Lazaro Archer stieß einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. »Ich hatte schon gar nicht mehr an diesen Ort gedacht – oder an Ellies Abneigung dagegen. Wie ich dir schon sagte, wenn du findest, dass das Anwesen euren Zwecken dienlich ist, gehört es euch.«

Lucan nickte ihm dankend zu. »Das werden wir heute Nacht entscheiden. Wir fahren rauf und sehen es uns an.«

Ein paar Plätze weiter auf der anderen Tischseite suchte Gideon Lucans Blick und meldete sich mit weiteren Details. »Ich habe jede Menge CAD- und Kommunikationssoftware auf einen Laptop gespielt, den nehmen wir mit. Wir fotografieren alles von innen und außen und importieren die Bilder, dann rechnet die Software sie uns sofort in Grundrisse und Diagramme um. Ich habe auch Satellitenempfänger eingepackt, damit wir gleich ein paar Kommunikationsgeräte anschließen und die Tests durchlaufen lassen können, die ich brauche, um den Umzug vorzubereiten.«

Lucan konnte ein Grinsen kaum unterdrücken, als Gideon begeistert in seinen Technikmodus schaltete. »Der ganze Hightech-Hokuspokus ist ganz allein dein Bier, solange wir da oben sind.«

Ihm fiel auf, dass Savannah neben Gideon sehr still wurde, als von der Planung ihres Trips diese Nacht in den Norden die Rede war. Auch Gideon war die Reaktion seiner Gefährtin nicht entgangen. Er drückte sanft ihre Hand auf dem Tisch. »Mach dir keine Sorgen, Schatz. Das ist doch bloß ein Erkundungstrip, keine Mission. Ganz ohne Waffen und Sprengstoff – zu dumm auch«, fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu.

Selbst von seinem Platz aus konnte Lucan sehen, dass Savannahs sanfte braune Augen ernst blickten. Mehr noch als das, ihr stand das helle Entsetzen in den Augen, und ihre Stimme war sanft und so verletzt, wie Lucan sie noch nie gehört hatte. »Verdammt, Gideon. Darüber kann ich keine Witze machen. Nicht mehr. Das wird mir alles viel zu real.«

Abrupt stand sie vom Tisch auf und begann, ihren leeren Teller und ihr Besteck abzuräumen. Wie in einer stummen Demonstration weiblicher Solidarität folgten Gabrielle, Elise und Dylan prompt Savannahs Beispiel, räumten ab, was sie konnten, und verschwanden dann hinter ihr durch die Schwingtür in der Küche nebenan.

Gideon räusperte sich. »Da muss ich wohl etwas die Wogen glätten, bevor wir heute Nacht aufbrechen.«

Lucan stieß einen Grunzlaut aus. »Vielleicht auch ein bisschen zu Kreuze kriechen.«

»Sie macht sich eben Sorgen um dich«, sagte Tess zu Gideon, die Hand auf ihren riesigen Babybauch gelegt. »Wie sehr, wird sie dich nie merken lassen, weil sie weiß, dass sie für dich stark sein muss. Aber deshalb ist es trotzdem so.« Gideons nickte, und Tess warf ihrem eigenen Gefährten Dante, der neben ihr saß, einen zärtlichen Blick zu. »Jede von uns macht sich jedes Mal Sorgen, wenn einer von euch auf eine Mission hinausgeht. Jedes Mal, wenn ihr das Hauptquartier verlasst, nehmt ihr unsere Herzen mit.«

»Kostbare Ladung«, sagte Dante, hob ihre Hand von ihrem Babybauch und drückte die Lippen in ihre Handfläche.

Tess lächelte, aber dann verzerrte sich ihr Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse. Sie holte hastig Atem und stieß ihn mit einem leisen Zischen wieder aus. »Dein Sohn ist ganz schön unruhig heute Morgen. Ich sollte besser … in unser Quartier zurück und … mich etwas … hinlegen …«

Dante sprang sofort auf und half ihr behutsam beim Aufstehen, mit Renata, Jenna und Alex als Stützen. Lucan war auf den Füßen, bevor er es registrierte, genau wie alle anderen blutsverbundenen Stammesvampire im Raum, alle standen in nervösem Schweigen da und sahen vermutlich genauso hilflos aus, wie sie sich fühlten.

»Ist schon gut«, presste Tess hervor, zu atemlos für Lucans Geschmack. Sie ging langsam und vorsichtig, den einen Arm stützend um den Bauch gelegt, und klammerte sich mit der anderen Hand fest an Dante, der sie sanft vom Tisch wegführte. Eigentlich war sie erst in ein paar Wochen fällig, doch obwohl Lucan in diesen Dingen kein Experte war, sah es ganz so aus, als würden sie mit dem jüngsten Neuzugang des Ordens schon früher rechnen können als bisher angenommen.

»Schaffst du’s zum Sofa nebenan, Schatz?«, fragte Dante, angespannt und besorgt, ganz der hingebungsvolle zukünftige Vater.

Tess tat die Frage mit einem knappen Winken ab. »Ich will ein Stück gehen … es ist besser, wenn ich mich ein bisschen bewege. Wenn ich mich erst mal hinlege, stehe ich wohl so bald nicht mehr auf.«

»Okay«, sagte Dante. »Dann machen wir das jetzt schön langsam, ja? So ist’s gut, Schatz. Schön langsam. Du machst das super.«

Das Paar verabschiedete sich von den anderen und machte sich gemächlich auf den Rückweg in sein Privatquartier. Gerade als Tess und Dante gegangen waren, kam Gabrielle mit Savannah und den anderen wieder ins Esszimmer zurück. Nach einigen Minuten unbehaglichen Schweigens drehte sich Mira besorgt zu Renata um.

»Kommt Tess’ Baby schon?«

Renata betrachtete nüchtern die nervösen Gesichter im Raum, dann wandte sie sich mit einem mütterlichen, geduldigen Lächeln wieder Mira zu. »Ja, ich glaube schon, Mäuschen. Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis das Baby kommt.«

Mira runzelte die Stirn. »Hunter soll sich mal besser beeilen und heimkommen, sonst verpasst er das Baby. Wo ist er überhaupt?«

»Immer noch auf einer Mission«, schaltete sich Niko jetzt ein, ganz die Vaterfigur, die er für das kleine Mädchen geworden war. »Hunter hat ein paar wichtige Sachen in New Orleans zu erledigen, aber er kommt zurück, sobald er kann.«

»Na, aber hoffentlich«, erklärte Mira. »Denn vor Weihnachten muss er doch daheim sein. Wisst ihr, dass er noch nie Weihnachten hatte? Ich hab ihm versprochen, dass ich ihm Weihnachtsschmuck für sein Zimmer bastle.«

Als das Kind die bevorstehenden Feiertage erwähnte, vertiefte sich das Schweigen im Esszimmer noch. Lucan spürte, dass die Blicke der anderen ihm absichtlich auswichen, jeder wartete darauf, dass er jetzt den bösen Spielverderber machen und der arglosen Kleinen verkünden würde, dass es im Hauptquartier kein Weihnachten geben würde.

Hölle noch mal, er war nicht einmal sicher, ob es zu Weihnachten überhaupt noch ein Hauptquartier geben würde – und verdammt, das waren keine zwei Wochen mehr.

Renata ging neben Miras Stuhl in die Hocke. »Ich habe eine Idee, Mäuschen. Zeigst du mir, was du für Hunter bastelst?«

»Okay«, antwortete sie und drehte sich mit einem fröhlichen Grinsen zu Kellan um. »Willst du’s auch sehen?«

»Klar.« Der Teenager zuckte die Schultern, als wäre es ihm völlig egal, aber er war schon aufgestanden und schlurfte schlaksig hinter Renata und Mira her.

»Renata hat recht, was das Baby angeht.« Savannah sprach zu allen im Raum. »Mütterlicherseits habe ich jede Menge Hebammen in der Familie und bin oft genug bei Geburten dabei gewesen. Wahrscheinlich handelt es sich nur noch um ein paar Tage, bis Tess in die Wehen kommt. So, wie sie sich bewegt, könnten es auch nur noch Stunden sein.«

Lucan runzelte die Stirn. »Tage oder Stunden? Wir brauchen noch ein paar Wochen.«

Lazaro Archer warf ihm einen weisen Blick zu. »Die Natur hat sich noch nie darum gekümmert, wann es uns passt.«

Lucan stieß einen Grunzlaut aus, sich dieser Wahrheit nur allzu bewusst. Er wusste auch, dass sie wertvolle Zeit gewinnen konnten, wenn sie es irgendwie schafften, Dragos einen empfindlichen Schlag zu versetzen und den Bastard wieder in den Untergrund zu treiben. Sie brauchten Zeit, um den vermutlich unumgänglichen Umzug des Hauptquartiers zu planen, und Tess und Dante hatten es verdient, ihr Baby unter zumindest annähernd normalen und friedlichen Bedingungen zu bekommen.

Er sah zu Gideon hinüber. »Was denkst du, wie schnell kannst du die ganze Technik wieder zum Laufen kriegen, wenn sich herausstellen sollte, dass ein Umzug in Archers Anwesen realistisch ist?«

»Das merken wir dort oben, ich nehme den Laptop mit. Wenn es keine Probleme mit der Satellitenverbindung gibt, kriege ich unser System in ein paar Stunden wieder in Gang. Aber das Komplettpaket mit Netzwerk, Telefon, Sicherheitskameras, Wärmesensoren, Bewegungsmeldern und so weiter dürfte mindestens ein paar Wochen dauern.«

Lucan seufzte einen Fluch. »In Ordnung. Also nicht die besten Bedingungen, aber wir müssen eben das Beste draus machen. Was ist mit Spuren zu Dragos?«, fragte er die versammelte Gruppe. »Wissen wir schon irgendwas Neues darüber, wo Murdock steckt?«

»Nichts Hundertprozentiges«, antwortete Tegan vom anderen Tischende. »Ich habe einige seiner bekannten Verbündeten verhört, aber sie wussten nichts. Seit dem Vorfall in Chinatown neulich hat ihn niemand mehr gesehen oder von ihm gehört. Seither streckt Rowan innerhalb der Agentur seine Fühler für uns aus. Wir finden den Bastard schon, so oder so.«

Lucan nickte grimmig. »Besser früher als später. Momentan ist er unsere beste Chance, Dragos zu fassen. Solange wir das weiterverfolgen, macht Hunter eine Erkundungsmission zu Henry Vachon in New Orleans. Mit seinem Angriff letzte Nacht hat Dragos uns seine Verbindung zu Vachon bestätigt.«

Er erntete einige ernste Blicke aus der Gruppe, sie wussten alle, wie knapp Hunter und seine zivile Begleiterin den Zusammenstoß mit einem von Dragos’ Killern überlebt hatten. Am betroffensten wirkte Brock. Was verständlich war, schließlich kannte er Corinne Bishop noch aus seiner Zeit im Dunklen Hafen ihrer Familie in Detroit, wo er als ihr Bodyguard angestellt gewesen war. Der Krieger war außer sich gewesen, als man ihm die Details von Corinnes verhängnisvollem Wiedersehen mit Victor Bishop erzählt hatte und zu welchen Enthüllungen es durch ihre Heimreise nach Detroit gekommen war. Er war immer noch sichtlich aufgebracht über diese Neuigkeiten.

»Henry Vachon ist Abschaum, mit oder ohne aktive Verbindung zu Dragos«, knurrte er wütend. »Der Bastard gehört gehängt, gestreckt und gevierteilt, aber die Vorstellung gefällt mir gar nicht, dass Hunter Corinne unbewacht lassen muss, solange er die Informationen sammelt, die wir brauchen.«

»Das macht mir auch Sorgen«, antwortete Lucan. »Hunter sagt, dass sie vorerst an einem sicheren Ort sind, aber sie brauchen einen besseren Unterschlupf. Die Hotels in der Stadt können wir nicht riskieren, und den Dunklen Häfen der Gegend können wir auch nicht trauen, denn es ist davon auszugehen, dass jemand in der Zivilbevölkerung da unten geheime Verbindungen zu Henry Vachon oder zu Dragos selbst unterhält.«

»Und was ist mit den Menschen?«, fragte Savannah, und sofort drehten sich alle zu ihr um. »Ich weiß jemanden, bei dem sie eine Weile sicher unterkommen könnten. Es ist nicht weit von der Stadt, aber so ziemlich der gottverlassenste Winkel, den man sich nur vorstellen kann.«

»Savannah«, warf Gideon langsam ein. »Wir können sie doch nicht bitten …«

»Wen meinst du?«, fragte Lucan.

Savannah sah ihm in die Augen. »Meine Schwester Amelie. Sie lebt seit über siebzig Jahren im Atchafalaya-Sumpf. Und sie ist absolut vertrauenswürdig. Dass Gideon und ich heute am Leben sind, haben wir allein ihr zu verdanken.«

Gideon nickte, wenn auch zögerlich. »Savannah und ich verdanken Amelie Dupree unser Leben. Sie ist absolut zuverlässig, Lucan. Darauf würde ich mein Leben verwetten. Das habe ich sogar schon getan.«

»Amelie weiß, was Gideon ist«, fügte Savannah hinzu. »Sie weiß Bescheid, seit er vor über dreißig Jahren eines Nachts bei ihr aufgetaucht ist und mich gesucht hat, und sie hat unser Geheimnis all die Zeit bewahrt.«

Lucan war alles andere als begeistert von der Eröffnung, dass ein Mensch in den Sümpfen von Louisiana von der Existenz des Stammes wusste. Trotzdem wäre es dumm, die Möglichkeit nicht in Erwägung zu ziehen, die Savannah und Gideon ihm eben angeboten hatten. Bündnisse mit Menschen waren kaum seine erste Wahl – was ihn anging, kamen Menschen als Bündnispartner an absolut allerletzter Stelle –, aber die Situation war heikel und die Zeit momentan definitiv nicht auf der Seite des Ordens. »Was denkst du, wie lange es dauert, deine Schwester zu kontaktieren?«

»Ich kann sie sofort anrufen«, sagte Savannah. »Ich weiß, dass sie uns helfen wird. Ich brauche ihr nur zu sagen, wann sie mit ihren Gästen rechnen kann.«

»Sag ihr, sie sind nach Sonnenuntergang da«, antwortete Lucan.