30

Es war schon nach vier am Morgen, als sie an dem Ort im ländlichen Westen von Georgia ankamen, zu dem Gideon sie gelotst hatte. Corinne war erschöpft von der langen Fahrt und dem heftigen Streit mit Hunter vor einigen Stunden.

Aber vor allem war es der Gedanke, tatsächlich angekommen zu sein – dass sie jetzt nur noch wenige hundert Meter von der alten Blockhütte am Flussufer entfernt war, wo Nathan vielleicht lebte –, der all ihre Nervenenden in helle Alarmbereitschaft versetzte.

Wenn sie vorher nervös gewesen war, den Augenblick kaum hatte erwarten können, endlich ihren Sohn zu sehen und ihm das Leben zu geben, das sie sich so verzweifelt für ihn wünschte, hatte sie jetzt Angst davor. Miras Vision hatte alles verändert – Hunters Rolle in dieser Vision hatte sie dazu gebracht, alles anzuzweifeln, dessen sie sich bisher so sicher gewesen war.

Alles, außer dass Hunter sie liebte.

Das war das Einzige, was ihr jetzt Halt gab, als er den Motor des Kastenwagens abstellte, sie in der dunklen Fahrerkabine saßen und durch einen Waldgürtel von zwei Hektar die schwach erleuchtete Hütte beobachteten.

»Du schwörst, dass du sofort zurückkommst?«, fragte sie ihn. Er hatte sie zu diesem Ort mitgenommen, aber ihr ausdrücklich verboten, ihn ins Haus zu begleiten. »Bitte sei vorsichtig.«

Er nickte und steckte zwei Klingen in das Oberschenkelholster, das er über seiner schwarzen Drillichhose trug. Das langärmelige Hemd, das sie noch bei Amelie für ihn gewaschen und getrocknet hatte, vervollständigte seine Rückverwandlung zum Krieger, der sie vor noch gar nicht so langer Zeit von Boston nach Detroit gebracht hatte.

Aber jetzt war Hunter alles andere als stoisch oder undurchdringlich. Seine goldenen Augen streichelten sie zärtlich, er zog sie mit seiner starken Hand an sich und küsste sie. »Ich liebe dich«, sagte er wild. »Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst.«

Sie nickte. »Ich liebe dich auch.«

»Bleib im Laster. Mach dich unsichtbar, bis ich wiederkomme.« Wieder küsste er sie, dieses Mal heftiger. »Es wird nicht lange dauern.«

Er ließ ihr keine Zeit, eine Diskussion anzufangen oder ihn hinzuhalten, sondern schlüpfte aus der Fahrerkabine und verschwand in der Dunkelheit.

Corinne saß da, wartete allein und bereute sofort, dass sie sich von ihm hatte überreden lassen, im Wagen zu bleiben. Was, wenn es Probleme gab? Wenn man ihn entdeckte, bevor er feststellen konnte, ob Nathan überhaupt in diesem Haus lebte? Wie lange sollte sie noch warten, bis …

In der nächtlichen Stille ertönte ein Schuss.

Corinne schreckte zusammen. Der plötzliche hellorange Lichtblitz explodierte ganz nahe bei der Vorderseite der Hütte, und das Geräusch hallte von den Bäumen wider wie ein Donnerschlag.

»Oh mein Gott. Hunter …«

Bevor sie sich davon abhalten konnte, kletterte sie auch schon aus dem Kastenwagen und rannte auf die Blockhütte zu. Sie hatte keine Ahnung, was sie machen würde, wenn sie dort ankam, nur dass sie sich irgendwie vergewissern musste, dass Hunter unverletzt war. So unbesiegbar er auch schien, er hielt ihr Herz in seinen Händen, und nichts hätte sie jetzt davon abhalten können, ihm zu folgen.

Sie roch den scharfen Geruch von Schießpulver, als sie sich der vorderen Veranda der Hütte näherte. Dort lag ein toter Mann ausgestreckt, ein langes, rauchendes Gewehr über der Brust. Sein Gesicht war zu einer erschrockenen Grimasse erstarrt. Man hatte ihm effizient das Genick gebrochen.

Hunter.

Er war hier vorbeigekommen.

Er war irgendwo in der Hütte.

Corinne schlich vorsichtig hinein. Sofort hörte sie Kampfgeräusche, die von unten kamen – aus dem Keller. Sie fand die Tür zur Treppe, die zu der Quelle der Unruhe hinunterführte, und als sie noch überlegte, wie idiotisch es wäre, da hinunterzugehen, explodierte die bemalte Holztür.

Von der Wucht der Explosion wurde sie nach hinten gegen die Wand geschleudert. Als sie nach dem Schock die Augen öffnete, starrte sie in ein Augenpaar, das genau wie ihr eigenes war – blaugrüne Iriskreise unter dunklen Wimpern und katzenartige, mandelförmige Lider. Die Augen sahen sie aus dem Gesicht eines Jungen an, eines schlanken, muskulösen Jungen von etwa eins siebzig, sein hübsches Gesicht war am Kinn immer noch kindlich gerundet.

Aber er war kein Junge, erkannte sie jetzt. Trotz der kalten Nacht trug er nur graue Trainingshosen und ein weißes Tank-Top. Sein Kopf war kahl rasiert, seine Haut von Dermaglyphen bedeckt. Und um den Hals trug er ein schreckliches, dickes schwarzes Halsband.

»Nathan«, keuchte sie.

Der Augenblick zog sich in die Länge. Er legte den Kopf schief, seine Miene war völlig ausdruckslos, zeigte keinerlei Wiedererkennen.

Doch dieses kurze Zögern hielt ihn auf, und nun war auch Hunter bei ihnen. Er hatte sich schneller bewegt, als Corinne wahrnehmen konnte, schien sich jetzt hinter Nathan praktisch aus dem Nichts zu materialisieren.

Die Sinne des Jungen waren so schnell wie seine Reflexe. Er fuhr zu Hunter herum, dann streckte er mit derselben übernatürlichen Geschwindigkeit wie der erwachsene Mann die Hand aus, und Corinne sah, dass er aus dem Kasten neben dem bauchigen Kamin einen langen, dünnen Schürhaken genommen hatte.

Statt jedoch das Eisen als Waffe zu benutzen, schlug der Junge es gegen das Ofenrohr.

Das metallische Scheppern hallte durch die ganze Hütte. Dann begann das Geräusch, lauter zu werden, sich auszudehnen. Sie spürte Nathans übersinnliche Gabe – ihre eigene, die ihr Kind von ihr geerbt hatte. Er packte die Schallwellen mit seiner Willenskraft und ließ sie zu ohrenbetäubendem Lärm anschwellen.

Sie hatte keine Zweifel gehabt, dass das ihr Junge war, aber jetzt überkam sie bodenlose Erleichterung und unendliche Freude. Das war ihr Sohn. Das war ihr Nathan.

Und dieser Junge – dieser gefährliche junge Stammesvampir – sammelte seine übernatürlichen Kräfte und ließ sie jetzt mit voller Kraft auf Hunter los, versuchte, seinen Gegner in die Knie zu zwingen. Hunter biss fest die Zähne zusammen, an Hals und Wangen traten die Sehnen hervor wie Kabel, als sich der Ansturm auf seine Trommelfelle immer mehr verstärkte.

»Nathan, hör auf!«, schrie Corinne, aber gegen die Gabe ihres Sohnes kam ihre Stimme nicht an. Sie versuchte, sie mit ihrer eigenen Gabe zu löschen, aber er war zu stark. Sie konnte ihn nicht zum Schweigen bringen.

Und in dem Höllenlärm, den er geschaffen hatte, sprang er Hunter an, in seinen gnadenlosen Augen glänzte die Mordlust. Er schlug mit dem Schürhaken nach ihm – eine schnelle Serie von Schlägen, von denen jeder einzelne Hunter den Schädel gespalten hätte, wenn er nicht blitzschnell ausgewichen wäre.

Und das war alles, was er tat, erkannte Corinne. Hunter schlug selbst nicht zu, auch wenn er den kleineren Gegner mühelos niedergestreckt haben könnte. Ihn jeden Moment getötet haben könnte, wenn er es gewollt hätte.

Aber Hunter verteidigte sich nur wie ein erfahrener alter Löwe, der geduldig ein rauflustiges Junges abwehrt, das spielen will. Corinne wusste, das hier war kein Spiel, es war viel gefährlicher. Auch Hunter wusste es, und obwohl der Junge weiter auf ihn einschlug, tat er nichts, um seinem Gegner Schaden zuzufügen.

Nie hatte Corinne ihn mehr geliebt als in diesem Augenblick.

Nathan griff ihn weiter an, unerbittlich und berechnend, genau wie man ihn in seinem Training abgerichtet hatte. Wieder versuchte Corinne mit ihrer Gabe, den Lärm zu fassen zu bekommen, den er heraufbeschworen hatte, konzentrierte sich auf ihn und versuchte, ihn zu ihrem eigenen Werkzeug zu machen.

Sie erhaschte einen Blick auf Nathan, der mit dem langen Schürhaken einen Treffer auf Hunters Schulter landete. Oh Gott. Wenn einer dieser beiden das nicht überlebte, würde sie sterben.

Konzentrier dich.

Sie richtete ihre Willenskraft auf den Lärm, formte ihn und zog ihn langsam aus Nathans Reichweite, während seine ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet war, Hunter zu töten.

Corinne zog den Lärm in ihre eigene Gabe hinein, sammelte und formte ihn … und dann ließ sie ihn mit voller Kraft auf ihren Sohn los.

Abrupt riss er den Kopf hoch und starrte wütend zu ihr herüber. Hinter der grimmigen Entschlossenheit in seinem Blick flackerten Überraschung und Verwirrung auf. Sie konnte die Frage in seinen Augen lesen.

Wer bist du?

Aber das war ihm egal.

Er konterte ihre Attacke mit einer geballten Dosis seiner Gabe. Corinne schrie auf und griff sich an die Schläfen, ihr Schädel drohte zu zerspringen. Ihre Trommelfelle schmerzten und fühlten sich an, als wollten sie platzen. Sie fiel auf die Knie, der Schmerz war so heftig, dass er sie zu Boden zwang.

Im selben Augenblick hörte sie Hunter aufbrüllen. Sah, wie sich sein Gesicht vor Wut verzerrte. Und dann sah sie, wie Hunter mit der Faust ausholte und sie in Nathans Richtung schnellen ließ.

Nicht, schrie ihr Herz. Nicht!

»Nicht!«, schrie sie und erkannte, dass der entsetzliche Lärm abrupt verstummt war.

Hunter war an ihrer Seite. »Bist du verletzt? Corinne, bitte sag was.«

»Wo ist Nathan?«, murmelte sie. Sie blinzelte zu Hunter auf, entsetzt, was sie wohl in seinem Gesicht sehen würde. Aber dort war nichts als liebevolle Besorgnis, und alles davon nur auf sie konzentriert.

»Ihm fehlt nichts.« Hunter rückte zur Seite, sodass sie ihren Sohn sehen konnte, der wie schlafend auf dem Boden lag. »Ich habe ihm einen Schlag verpasst, aber er ist nur bewusstlos, das ist alles. Komm jetzt mit mir. Ich bringe ihn hier raus.«

»Mira, geh nicht zu weit weg mit den Hunden. Bleib da, wo Niko und ich dich sehen können.«

»Okay, Rennie!«, rief Mira durch den dunklen Garten hinter dem Anwesen des Ordens, ihre Stiefel knirschten beim Laufen im Schnee. Sie sah zu Kellan Archer hinüber und verdrehte die Augen. »Die denken, ich bin immer noch ein Baby.«

Sein olivgrüner Anorak knisterte, als er mit den Schultern zuckte. »Bist du doch auch.«

Sie blieb stehen, stemmte ihre Hände in den Fäustlingen in die Hüften und sah stirnrunzelnd zu ihm auf. »Falls du’s nicht weißt, Kellan Archer, ich bin achteinhalb.«

Seine Mundwinkel hoben sich, als hätte sie etwas Lustiges gesagt. Es war so ziemlich das erste Mal, dass sie ihn auch nur ansatzweise hatte lächeln sehen, und so lief sie wieder neben ihm her, als er jetzt weiterging, auch wenn sie den Witz nicht kapiert hatte. Sie folgten im verschneiten Hof der Spur der Hunde, die dem Stöckchen nachgerannt waren, das Kellan ihnen geworfen hatte. Mira musste sich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten, und kam sich ein wenig so vor wie der kleine Terrier Harvard, der der großen Wolfshündin Luna nachrannte. Mit ihren kurzen Beinen hatte sie es schwer, mit Kellans langen Schritten mitzuhalten, aber wo er einen Schritt machte, machte sie eben zwei, entschlossen, sich nicht abhängen zu lassen.

»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte sie ihn, und ihr Atem kam in kleinen Wölkchen heraus.

Wieder sein typisches Schulterzucken. »Vierzehn.«

»Ach.« Mira rechnete im Kopf ihren Altersunterschied aus. »Da bist du schon ganz schön alt, was?«

»Nicht alt genug«, sagte er, und von ihrem Blickwinkel aus wirkte sein Gesicht sehr ernst. »Heute habe ich Lucan gefragt, ob ich dem Orden beitreten kann. Er hat mir gesagt, ich muss warten, bis ich mindestens zwanzig bin, bevor ich auch nur daran denken darf, ihn noch mal zu fragen.«

Mira starrte ihn mit offenem Mund an. »Du willst ein Krieger werden?«

Er presste die Lippen zusammen, seine Augen wurden schmal und sahen in die Ferne. »Ich will meine Familie rächen. Ich muss meine Ehre zurückgewinnen, die Dragos mir gestohlen hat.« Er stieß ein freudloses Lachen aus. »Lucan und mein Großvater sagen, das sind nicht die richtigen Gründe, um in den Krieg zu ziehen. Wenn das keine sind, dann weiß ich auch nicht weiter.«

Mira musterte Kellans Gesicht, das Herz tat ihr weh von der Traurigkeit, die sie in ihm spürte. In den wenigen Tagen seit seiner Ankunft im Hauptquartier hatte Kellan ihr nicht viel von seiner Familie erzählt und wie sehr er sie vermisste. Ein paarmal hatte sie ihn allein in seinem Quartier weinen sehen, aber das wusste er nicht.

Er wusste auch nicht, dass sie es zu ihrer Mission gemacht hatte, sich mit ihm anzufreunden, ob es ihm passte oder nicht. Jeden Abend sprach sie ein kleines Gebet für ihn. Dieses Ritual hatte sie schon begonnen, sobald sie gehört hatte, dass der Junge aus seinem Dunklen Hafen entführt worden war. Und auch nach seiner Rettung hatte sie weiter für ihn gebetet, denn sie hatte den Eindruck, dass er diese Extrahilfe brauchte, um wieder gesund zu werden. Inzwischen war es für sie zur Gewohnheit geworden, und sie würde erst damit aufhören, wenn sie Kellan ansah und sein Kummer wieder ein wenig aus seinen Augen verschwunden war.

»Hey«, sagte sie und lief mühsam neben ihm her, tiefer in den Garten, den Hunden nach. »Vielleicht frage ich Lucan auch, ob ich irgendwann dem Orden beitreten kann.«

Kellan lachte – warf ihr tatsächlich einen überraschten Blick zu und lachte laut heraus. Er hatte ein nettes Lachen, erkannte sie, es war das erste Mal, dass sie es hörte. Er hatte auch Grübchen, eines in jeder seiner schmalen Wangen, und die kamen jetzt zum Vorschein, als er kicherte und den Kopf über sie schüttelte. »Du kannst dem Orden nicht beitreten.«

»Warum nicht?«, fragte sie verletzt.

»Weil du ein Mädchen bist.«

»Renata ist doch auch eins«, bemerkte sie.

»Renata ist … anders«, antwortete er. »Ich habe gesehen, was sie alles mit ihren Klingen anstellen kann, sie ist schnell und absolut treffsicher. Sie ist echt knallhart.«

»Ich bin auch knallhart«, sagte Mira und wünschte sich, ihre Stimme würde nicht so verletzt klingen. »Pass mal auf, ich zeig’s dir.«

Sie verließ den Weg, um sich etwas zu suchen, das sich werfen ließ, einen Ast oder einen Stein – irgendetwas, das sich einsetzen ließ, um Kellan mit ihren Fähigkeiten zu beeindrucken. Mira lief durch die abgedeckten Blumenbeete und die mit Jutesäcken verhüllten Büsche in das Labyrinth von Statuen und immergrünen Hecken, das sich über den langen Hinterhof des Anwesens erstreckte.

»Moment«, rief sie ihm aus dem Schutz der Gärten zu. »Ich bin gleich … wieder da …«

Zuerst war sie nicht sicher, was sie da vor sich sah. Auf dem mondhellen Boden lag im Schatten der Kiefern und Büsche eine riesige, dunkle Gestalt, und Luna und Harvard liefen unruhig um sie herum und schnüffelten an ihr. Der kleine Terrier winselte, als Mira langsam näher kam.

»Kommt her«, befahl sie den Hunden und wartete, bis beide zu ihr herübergekommen waren. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Sie sah hinunter auf die Hunde, die nervös um ihre Beine strichen. Ihre Pfoten hinterließen dunkle Flecken im Schnee.

Blut.

Mira schrie.