19

Corinne hatte bis in den späten Nachmittag durchgeschlafen. Und obwohl Hunter sich inzwischen am anderen Ende des kleinen Schlafzimmers auf den Boden gehockt hatte, konnte er immer noch die weichen Rundungen ihres Körpers an seinem spüren und roch immer noch den Duft ihres Haares und ihrer Haut von den Stunden, die er sie umarmt und über ihren Schlaf gewacht hatte.

Jetzt beobachtete er sie, wie sie ein- und ausatmete, wartete gespannt auf jedes langsame Atemholen, beobachtete gebannt, wie sich unter der zarten, alabasterweißen Haut an ihrem Halsansatz ihr Pulsschlag beschleunigte.

Trotz der körperlichen Distanz, die er zwischen sie gebracht hatte, hatte sein Hunger nach ihr nicht nachgelassen. Er begehrte sie auf eine Weise, die ihn verblüffte, die selbst den primitivsten Stammesdurst überstieg. Seine Sehnsucht nach ihr hatte ihn schon vorher beunruhigt, aber jetzt, nachdem er sie fast den ganzen Tag in den Armen gehalten hatte, beherrschte sie all seine Sinne. Und noch schlimmer, auch seinen Verstand. Er war damit beschäftigt gewesen, für ihre Bequemlichkeit zu sorgen, statt seine Erkundungsmission der heutigen Nacht vorzubereiten.

Er versuchte sich wieder auf den Anruf zu konzentrieren, den er vor ein paar Stunden vom Orden erhalten hatte. Sie hatten einen sicheren Unterschlupf für Corinne und ihn gefunden, etwa eine Stunde Fahrt westlich der Stadt gelegen. Nach Sonnenuntergang würde er sie dorthin bringen und dann alleine losziehen, um Henry Vachons Häuser zu überprüfen und hoffentlich zuverlässige Informationen zu finden, wo der Bastard steckte. In seiner Vorfreude, einen von Dragos’ Leutnants zu fassen zu bekommen, konnte das Raubtier in ihm die Abenddämmerung kaum erwarten.

Auf ihrer behelfsmäßigen Pritsche auf dem Boden stieß Corinne ein leises Stöhnen aus. Hunter sprang auf die Füße, Dragos und seine Kollegen waren schlagartig vergessen in dem Augenblick, als sie sich zu regen begann. Ihre Beine zuckten, kämpften heftig gegen unsichtbare Fesseln an, und ihr Mund verzerrte sich zu einer Grimasse, als sie keuchend nach Luft rang.

Hunter ließ sich hinter sie auf seinen Ledermantel gleiten und zog sie an sich. Er wusste nicht, was er ihr sagen sollte, um sie zu beruhigen. Diesbezüglich hatte er keinerlei Erfahrung, also schlang er einfach nur locker die Arme um sie und hielt sie fest, während sie sich wand und um sich schlug. Jetzt keuchte sie heftig und flüsterte unverständlich vor sich hin, und ihre Panik schien mit jeder Sekunde größer zu werden.

Er spürte das hektische Ticken ihres Pulses, und dann plötzlich schrie sie auf, keuchte ein einziges Wort, und vor Schreck wachte sie auf, ihr Gesicht keinen Zentimeter von seinem entfernt. Corinne riss die Augen auf.

»Keine Angst«, sagte er zu ihr, die einzigen Worte, die ihm einfielen, als er in ihre entsetzten blaugrünen Augen starrte. Langsam hob er die Hand und strich ihr eine dunkle Haarsträhne aus der feuchten Stirn. »Bei mir bist du in Sicherheit, Corinne.«

Sie nickte ihm schwach zu. »Ich hatte einen Albtraum. Ich dachte, ich wäre wieder dort … in diesem schrecklichen Kerker.«

»Nie wieder«, sagte er zu ihr. Das war ein Versprechen, und eines, für das er bereit war zu sterben, wie er jetzt erkannte. Sie zuckte nicht vor ihm zurück, als er ihr weiter über ihre zarte Wange und das Kinn streichelte, doch ihre Augen blieben unablässig auf ihn gerichtet und musterten ihn.

»Wie lange bist du bei mir geblieben?«

»Eine Weile.«

Sie schüttelte schwach den Kopf und hatte offenbar nichts dagegen, dass seine Finger in die seidige Wärme ihres offenen Haares wanderten. »Du bist lange geblieben. Du hast mich festgehalten, damit ich schlafen konnte.«

»Du hast mich doch darum gebeten«, antwortete er.

»Nein«, antwortete sie sanft. »Ich habe dich nur gebeten, bei mir zu bleiben, bis ich eingeschlafen bin. Das war … sehr lieb von dir.« Ihre Augen waren in solch offener Dankbarkeit auf ihn gerichtet, dass es ihn beschämte. Als sie jetzt wieder sprach, war ihre Stimme leise geworden, als fiele es ihr schwer, die Worte zu finden. »Ich bin es nicht gewohnt, dass mich jemand im Arm hält. Ich kann mich kaum daran erinnern, wie es ist, liebevoll oder zärtlich berührt zu werden. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich mich fühlen soll.«

»Wenn es dir unangenehm ist …«

»Nein«, antwortete sie schnell, streckte die Hand aus und legte sie ihm leicht auf die Brust. Dort blieb sie liegen, ein schmaler Hitzefleck auf dem schweren Dröhnen seines Herzens. »Nein, du bist mir gar nicht unangenehm, Hunter. Gar nicht.«

Er runzelte die Stirn und sah zu, wie seine riesige Hand die unglaublich zarten Konturen ihres Gesichts streichelte. Seine Fingerspitzen waren schwielig von der Arbeit mit Waffen und Gewalt, rau gegen die samtige Vollkommenheit ihrer Haut. »Du bist das Zarteste, was ich je berührt habe. Ich will vorsichtig mit dir sein. Ich habe Angst, dass du mir in meinen groben Pranken zerbrichst.«

Ihre Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, und am liebsten hätte er sie geküsst. »Deine Hände sind sehr sanft. Und ich mag es, wie du mich gerade berührst.«

Ihr geflüstertes Lob schoss wie ein Blitzschlag durch seinen ganzen Körper. Sein Puls dröhnte ihm in den Ohren, Blut schoss durch seine Venen und Arterien wie ein plötzlich anschwellender Lavastrom. Die Spitzen seiner Fänge fuhren sich aus, reagierten so eindeutig wie auch ein anderer Teil seiner Anatomie. Er kämpfte gegen die fiebrige Reaktion seines Körpers an, sicher, dass er sie unterdrücken konnte, als er die Linie ihres Kiefers nachfuhr und dann mit dem Daumenballen über ihre sinnlich geschwungene Unterlippe strich. Gott, wie weich sie war. So wunderschön.

Sie stieß einen leisen wohligen Seufzer aus, während er sie weiter so mit seinen Händen und Augen studierte. »Bist du immer so vorsichtig und zärtlich mit deinen Frauen?«

Er zuckte die Schultern, hätte fast zugegeben, dass es keine anderen Frauen gegeben hatte – keine einzige. Man hatte ihn zur Maschine erzogen, ohne jeden Körperkontakt, außer wenn er bestraft wurde. Bis zu diesen letzten paar Tagen mit Corinne hatte er gar nicht gewusst, dass man auch anders leben konnte.

»Intimität hatte in meiner Ausbildung keinen Platz«, sagte er zu ihr. »Für diese Art von Kontakt bin ich nicht ausgebildet.«

»Nun, du machst das jedenfalls hervorragend, wenn du mich fragst.«

Wieder lächelte sie, und wieder reagierte sein Körper mit heißem Verlangen. Er wusste, dass sie die Vibration spüren musste, die durch jede Zelle seines Körpers summte. Sie musste die harte Beule seiner Erregung spüren, die sich beharrlich gegen ihren Schenkel presste, der irgendwie zwischen seine Beine geraten war, als sie so nebeneinander lagen, nicht einmal einen Zentimeter voneinander getrennt.

Er wollte sie küssen, etwas von dem Schmerz lindern, der in ihm aufstieg, als er seine Hand um ihren zarten Nacken legte und sie näher an sich zog. Sie leistete keinen Widerstand, keine Sekunde lang.

Hunter bewegte sich auf sie zu und drückte seinen Mund auf ihren. Als sie sich letzte Nacht geküsst hatten, war es unerwartet gewesen, zart und zögerlich. Dieser Kuss war etwas völlig anderes.

Ihre Lippen verschmolzen, ihre Hände suchten und tasteten, sie hielten einander fest in den Armen. Dieser Kuss war hungrig und drängend, gierig in ihrem Verlangen. Hunter legte seine Hand um Corinnes Hinterkopf und zog sie fester an sich. Jeder Schlag seines Herzens schoss ihm wie Feuer durch die Adern. Seine Fänge pulsierten, schossen ihm in voller Länge aus dem Zahnfleisch und füllten seinen Mund aus. Sein Schwanz pulsierte an ihrem wunderbar weichen Körper, entzündete etwas Animalisches in ihm, das er nicht mehr kontrollieren konnte.

Er dachte nicht, dass sein Verlangen noch wilder werden könnte, aber dann spürte er, wie Corinnes Zunge über seine Oberlippe glitt und Einlass forderte. Er stöhnte etwas Unverständliches, unfähig, Worte zu bilden, wo er so kurz davor war, die Beherrschung über seinen Körper zu verlieren. Mit einem rauen Keuchen öffnete er den Mund und verlor fast den Verstand, als Corinnes Zungenspitze hineinschoss.

Sie küssten sich lange, sein ganzer Körper war steinhart vor Anspannung, während Corinne in seinen Armen immer weicher und gefügiger wurde, immer mehr dahinzuschmelzen schien. Er spürte ihre weichen Brüste, die sich an seine Brust drückten, und, neugierig geworden, griff er hinunter und rieb mit der Handfläche über den dünnen Stoff ihres Pullovers. Er umschloss einen der kleinen Hügel mit der Hand und staunte, wie erotisch es sich anfühlte, sie zu streicheln und ihr zitterndes, lustvolles Keuchen zu hören.

Jetzt konnte er ihr nicht nahe genug sein. Er brauchte mehr davon … mehr von ihr.

Sein Puls raste, und sein Verlangen tobte mit einer Intensität, die ihn fast überwältigte. Hunter rollte sie unter sich auf den Rücken und legte sich auf sie, presste den Mund in einem fordernden Kuss auf ihren und rieb seinen wild pulsierenden Schwanz an ihrem Becken.

Obwohl er noch nie einen Orgasmus gehabt hatte, schlug das Verlangen danach nun seine eisernen Klauen in ihn. Er spürte, wie Corinne sich unter ihm wand, hörte ihr Stöhnen, als er ihr mit den Händen die Arme hinaufstrich. Sein Herz hämmerte wild vor Gier, und sein Verlangen, sie zu besitzen, sie ganz für sich zu beanspruchen, überwältigte ihn.

Er brauchte einen Augenblick, bis er erkannte, dass Corinne immer noch stöhnte, aber nicht, weil sie denselben wilden Hunger spürte, der in ihm pulsierte. Es klang beunruhigend nach Angst.

Er hatte ihre Hände über ihrem Kopf festgehalten, die Finger wie Handschellen um ihre zarten Handgelenke geschlossen. Sie wand sich immer noch unter ihm, und durch den stumpfen Nebel seiner egoistischen Gier verstand er plötzlich, dass sie sich wehrte, sich vom unnachgiebigen Druck seines Körpers befreien wollte.

Ihr Stöhnen wurde zu einem Wimmern, dann zu einem atemlosen Schluchzen.

Sofort rollte Hunter von ihr herunter, angewidert von sich selbst. »Tut mir leid«, stieß er hervor und fühlte sich wie ein Vollidiot, als sie hastig vom Boden aufstand und die Arme wie einen Schutzschild vor der Brust verschränkte. »Corinne, ich wollte nicht … tut mir leid.«

Sie warf ihm einen niedergeschlagenen Seitenblick zu. »Du musst dich nicht entschuldigen. Ich hätte dich nicht lassen dürfen. Ich hätte wissen müssen, dass ich das nicht kann«, sagte sie und holte zitternd Atem. »Ich kann das nicht, Hunter. Vielleicht war es verrückt zu denken, dass ich es jemals wieder könnte.«

Als sie sich von ihm abwandte, versuchte er, schnell wieder einen klaren Kopf zu bekommen. »Ist es wegen Nathan?«

Ihr Kopf fuhr zu ihm herum. Ihre Miene war bestürzt, die Augen vor Schreck weit aufgerissen, ihre Stimme war fast unhörbar leise. »Was hast du da gesagt?«

»Nathan«, antwortete er. »Das ist der Name, den du im Schlaf gerufen hast, bevor du aus deinem Albtraum aufgewacht bist. Ist er der Grund, dass du es nicht kannst? Weil dein Herz einem anderen Mann gehört?«

Sie atmete nicht. Sie starrte ihn scheinbar eine Ewigkeit bewegungslos an. »Du hast keine Ahnung, wovon du redest«, antwortete sie schließlich, die Worte waren abgehackt und endgültig. »Ich habe keinen Namen von irgendjemandem im Schlaf gerufen. Das musst du dir eingebildet haben.«

Das hatte er nicht, aber er wollte sie nicht noch weiter reizen. Was eben noch zwischen ihnen gewesen war, war in diesem Augenblick vorbei. Obwohl sein Puls immer noch hämmerte, sein Schwanz immer noch steif war und Erlösung forderte, konnte er sehen, dass sie jetzt nichts mehr von ihm wollte. Ihr Schweigen zog sich immer länger hin, ihr Gesicht verschloss sich, als sie jetzt vor ihm zurückwich, argwöhnisch geworden. Der Ausdruck in ihren Augen wirkte irgendwie anklagend, als hätte sie sich plötzlich daran erinnert, dass er ein Fremder für sie war … vielleicht sogar ein Feind.

Er fühlte sich unbeholfen, beschämt und verwirrt, Gefühle, die ihm bis jetzt fremd gewesen waren und die diese Frau in ihm weckte, weil sie ihm etwas bedeutete und weil sie ihn jetzt so in die Enge getrieben ansah und noch weiter auf Distanz zu ihm ging.

Die Erinnerung an Miras Vision traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Corinnes Bitten. Ihre Tränen. Wie sie ihn anflehte, das Leben des Mannes zu verschonen, den zu verlieren sie nicht ertragen konnte.

Und jetzt war Hunter sicher, dass er auch seinen Namen kannte.

Nathan.

Er wusste nicht, warum er so die Zähne zusammenbiss, aber das tat er. Er presste den Kiefer so fest zusammen, dass seine Backenzähne schmerzten.

»Hunter«, setzte Corinne an und brach mit einem zittrigen Seufzer ab. »Was eben zwischen uns passiert ist …«

»Wird nicht wieder vorkommen«, beendete er den Satz für sie.

Seine Lust und sein Stolz verbissen sich in ihn wie Sporen, aber er zwang die nutzlosen Gefühle nieder und klammerte sich stattdessen an die eiserne Disziplin, mit der er immer so gut gefahren war – die ihn aber zu verlassen schien, als er jetzt den verwirrten, verletzten Ausdruck in Corinne Bishops wunderschönen Augen sah.

»Bald geht die Sonne unter«, sagte er. »Dann fahren wir.«

Sie zuckte zusammen, jetzt wirkte sie besorgt. »Wohin?«

»Man hat uns ein sicheres Haus arrangiert. Dort bleibst du, solange ich meine Mission für den Orden fortsetze.«

Er drehte sich um und ließ sie allein im Raum zurück.

»Mr Masters, ich weiß die Großzügigkeit, die Sie meiner Kampagne gegenüber in den letzten Monaten bewiesen haben, außerordentlich zu schätzen. Ihre Firmenspende …« Der Senator hob eine sorgfältig gezupfte Augenbraue und sah erneut auf den dicken Scheck hinunter, den er soeben erhalten hatte. »Nun, Sir, um ganz ehrlich zu sein, eine Spende dieser Höhe ist beschämend. Noch nie da gewesen, um genau zu sein.«

Auf seinem edlen Besuchersessel legte Dragos unter seinem Kinn die Fingerspitzen aneinander und lächelte dem aufstrebenden Politiker zu, dem er an seinem Schreibtisch gegenübersaß. »Gott segne die Demokratie und das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten.«

»In der Tat.« Der Senator kicherte etwas unbehaglich, sein Adamsapfel drückte sich gegen den gestärkten weißen Kragen seines Smokinghemdes und die schwarze Fliege. Er trug sein makellos frisiertes goldblondes Haar locker aus dem gut aussehenden Gesicht zurückgekämmt, und seine leicht ergrauten Schläfen ließen ihn, der noch keine vierzig war, weise und gereift wirken.

Dragos fragte sich noch, ob diese distinguierten Silberfäden aus einem teuren Friseursalon stammten, dann entschied er, dass es ihm egal war. Es waren die Politik des Senators und seine Verbindungen zu den einflussreichen Kreisen der Menschen, an denen Dragos vor allem interessiert war.

»Es ehrt mich sehr, dass Sie und TerraGlobal solches Vertrauen in die Ziele meiner Kampagne zeigen«, sagte er und nahm eine ernsthafte Miene an, mit der er sich als Bostons charmantester, begehrtester Junggeselle wahrscheinlich alles eingeheimst hatte, was er in seinem privilegierten jungen Leben jemals hatte haben wollen. »Sie haben meine persönliche Garantie dafür, dass die von Ihnen gespendeten Mittel auch kluge und umsichtige Verwendung finden werden.«

»Diesbezüglich hege ich keinerlei Zweifel, Senator Clarence.«

»Bitte«, sagte der, ließ den Scheck in die obere Schreibtischschublade gleiten und verschloss sie, »nennen Sie mich doch Robert. Ach was, nennen Sie mich Bobby – das tun alle meine Freunde.«

Dragos erwiderte das aalglatte Lächeln. »Dann also Bobby.«

»Ich möchte, dass Sie wissen, Mr Masters, dass ich Ihr Engagement für die wirklichen Probleme, die solchen Einfluss auf unsere große Nation haben, teile. Ich habe versprochen, in Washington mein Bestes zu geben, damit wir endlich wieder den Platz einnehmen, der uns als erster Nation dieser Welt zukommt. Und ich möchte, dass Sie wissen, dass mein Kampf jetzt, wo ich die Ehre habe, dieses Amt zu einem so wichtigen Zeitpunkt unserer Geschichte einzunehmen, erst richtig beginnt. Ich bin hier, weil ich wirklich etwas bewegen will.«

»Natürlich«, sagte Dragos und wartete geduldig die patriotischen Highlights einer Standardrede ab, die er auf Bobby Clarence’ Wahlkampftour schon mehrfach gehört hatte. »Sie und ich haben viele gemeinsame Interessen. Beispielsweise Ihr aktives Engagement gegen den Terror. Ich bewundere Ihre Kompromisslosigkeit gegenüber denen, die sich an solch erbärmlichen Aktivitäten beteiligen. Ich rechne es Ihnen hoch an, dass Sie in Fragen der nationalen Sicherheit eine so unnachgiebige Haltung einnehmen.«

Hinter seinem Schreibtisch beugte sich Bobby Clarence vor und machte mit geübter Eindringlichkeit die Augen schmal. »Nur unter uns beiden, Drake – wenn ich Sie so nennen darf?« Dragos bedeutete ihm weiterzureden und lächelte in sich hinein, während er dem Menschen die Erlaubnis gab, ihn mit einem seiner vielen Decknamen anzureden. »Ganz unter uns gesagt, ich hätte nichts dagegen, wieder öffentliche Hinrichtungen einzuführen, um diesen ganzen Terroristenschweinen den Garaus zu machen, besonders unseren hausgemachten amerikanischen, die derzeit wie Unkraut aus dem Boden schießen. Diese Bastarde sollte man an ihren Eiern aufhängen und ein ausgehungertes Hunderudel auf ihre Eingeweide loslassen, das ist meine Meinung. Aber leider würden meine Berater mir davon abraten, denn so was macht sich im Wahlkampf nicht allzu gut.«

Er brach in kumpelhaftes Gelächter aus, und Dragos lachte mit, wenn auch nicht aus denselben Gründen – er lachte aus persönlicher Belustigung und seiner fast schwindelerregenden Vorfreude auf den Augenblick, da er endlich all die nötigen Knöpfe drücken würde, um ein für allemal über den Orden zu triumphieren.

Die Gegensprechanlage auf dem Schreibtisch des Senators summte. Er entschuldigte sich höflich, dann drückte er auf den Knopf. »Ja, Tavia? Mhm, in Ordnung. Ach verflixt, so spät ist es schon? Bitte rufen Sie das Büro des Vorsitzenden an und entschuldigen Sie mich, ja? Sagen Sie ihm, ich bin in meiner letzten Besprechung des Tages, und er soll schon mal ohne uns zu der Benefizgala gehen. Wir kommen so bald wie möglich nach. Ja, ich weiß, wie sehr er Planänderungen in letzter Minute hasst, aber ich fürchte, da muss er jetzt durch.« Bobby Clarence zwinkerte Dragos verschwörerisch zu. »Sagen Sie ihm, ich werde noch von einer Angelegenheit der nationalen Sicherheit aufgehalten. Das sollte ihn vorerst besänftigen, bis wir da sind.«

Der Senator beendete das Gespräch mit seiner Assistentin und hob entschuldigend die Schultern. »Niemand hat mir gesagt, dass so ein Wahlerfolg der einfachste Aspekt eines öffentlichen Amtes ist. Ich schaffe kaum, meinen Terminkalender einzuhalten, besonders um diese Jahreszeit. Ich sage Ihnen, im letzten Monat habe ich mehr Zeit in einem verdammten Smoking verbracht als im Schützengraben, wo ich hingehöre.«

»Sie sind eben ein viel gefragter Mann«, antwortete Dragos und spürte, dass die Erbitterung über Bonzenpartys und die gesellschaftlichen Anlässe der oberen Zehntausend auch nur zur öffentlichen Fassade dieses jungen Aufsteigers gehörte. Bei den Wahlen hatte sich das sicher gut gemacht, und das war alles, worauf es Dragos ankam. Schließlich hatte er eine Menge Geld investiert, damit dieser Überflieger aus Cambridge ihn mit den wahren Mächtigen der Menschheit bekannt machte.

»Sie haben Termine, und ich sollte Sie nicht länger aufhalten«, verkündete Dragos und erhob sich vom Besuchersessel, obwohl ihm der Senator eilfertig versicherte, dass er alle Zeit der Welt für ihn hätte. »Ich danke Ihnen, dass Sie mich so kurzfristig und so spät am Tag noch empfangen konnten.«

Senator Clarence kam um den Schreibtisch und half Dragos in seinen Kaschmirmantel, dann schüttelte er ihm freundlich die Hand. »Es war mir ein Vergnügen, Drake. Kommen Sie bald wieder, ich bin jederzeit für Sie da.«

Er ging mit Dragos zur Tür hinüber und öffnete sie für ihn. Auf der anderen Seite stand eine sehr groß gewachsene, äußerst attraktive junge Frau in einem anthrazitgrauen Businesskostüm und hochgeschlossener beigefarbener Bluse, die Hand eben zum Anklopfen erhoben. Ihr dichtes dunkelbraunes Haar trug sie im Nacken zu einem langen Pferdeschwanz zusammengefasst, keine einzige Strähne fehl am Platz. Insgesamt war das ein Look, der an einer weniger schönen Frau vielleicht unattraktiv gewirkt hätte, aber nicht an ihr.

»Ach, Tavia«, rief Bobby Clarence, als Dragos direkt vor ihr stehen blieb; er war hingerissen vom Anblick der jungen Frau, die nur wenige Zentimeter vor ihm stand. Sie wich sofort einen Schritt zurück, ihr intelligenter Blick wanderte von Dragos’ fasziniertem Lächeln zum glatten Grinsen ihres Chefs. Der Senator legte Dragos die Hand auf die Schulter. »Drake, haben Sie meine persönliche Assistentin Tavia Fairchild schon kennengelernt?«

»Es ist mir ein Vergnügen«, schnurrte der und senkte grüßend den Kopf.

»Mr Masters«, antwortete sie, nahm seine ausgestreckte Hand und schüttelte sie mit einem geschäftsmäßigen Händedruck. »Wir hatten noch nicht die Gelegenheit, uns kennenzulernen, aber ich kenne Ihren Namen aus diverser Korrespondenz des Senators.«

»Tavia hat ein unheimliches Gedächtnis für Namen und Gesichter«, prahlte ihr stolzer Chef. »Sie ist meine Geheimwaffe, sorgt immer dafür, dass ich pünktlich und auf dem Laufenden bin. Oder versucht es zumindest.«

»Davon bin ich überzeugt«, antwortete Dragos und verschlang sie mit den Augen.

Ihre hellgrünen Augen blickten fast etwas nervös, und sie schlug die dunklen Wimpern nieder, bevor sie ihre Aufmerksamkeit von ihm abwandte, und er fragte sich, ob die Frau instinktiv spürte, dass er unter seinem konservativen Anzug und dem Kaschmirmantel mehr war, als er zu sein vorgab. Dragos beobachtete bezaubert, wie sie sich jetzt dem Senator zuwandte und ihm ein kleines Päckchen in Geschenkpapier reichte, verziert mit einer roten Schleife und einem fröhlichen Stechpalmenzweig. »Für die Gattin des Vorsitzenden. Eine antike Brosche, die ich letztes Wochenende in einem Laden auf der Newbury Street gefunden habe. Ich dachte mir, da sie Kameen sammelt …«

»Was habe ich Ihnen gesagt, Drake?«, sagte Bobby Clarence und zeigte mit seinem perfekten eckigen Kinn in ihre Richtung, nahm das Geschenk und schüttelte es ein wenig. »Geheimwaffe. Sie schafft es immer, mich besser aussehen zu lassen, als ich wirklich bin.«

Tavia Fairchild schien das Lob zu überhören und blieb unerschütterlich bei der Sache. »Soll ich in der Garage anrufen, damit sie den Wagen für Sie vorfahren, Senator Clarence?«

»Das wäre wunderbar, Tavia. Danke.« Der Senator gab Dragos einen kameradschaftlichen Klaps auf die Schulter, als sich seine hübsche Assistentin wieder zu ihrem Schreibtisch umdrehte und ihr Telefon abnahm, um seinem Fahrer Bescheid zu geben. »Kann ich Sie überreden mitzukommen, Drake? Dann könnten wir uns noch etwas länger unterhalten, und ich würde Sie mit Vergnügen einigen der guten Leute auf der heutigen Benefizgala der Rettungseinsatztruppen vorstellen. Ich glaube, Sie werden dort eine Menge Gleichgesinnter treffen, die sich sicher gerne mit Ihnen über einige der Fragen austauschen, die wir eben besprochen haben.«

Dragos gestattete sich ein mildes Lächeln. »Ich fürchte, ich bin leider schon anderweitig beschäftigt.« Er hatte weiß Gott dickere Fische im Visier als die Hinterwäldler von der Bostoner Feuerwehr- und Polizeigewerkschaft. »Danke für das Angebot, aber ich sollte jetzt wirklich gehen.«

»Sind Sie sicher?«, drängte der Senator mit einem gewinnenden Grinsen. »Allein schon das Essen dürfte es wert sein. Diese Jungs mögen gutes Essen, und gut dürfte es schon werden, wenn die Portion fünfhundert Mäuse kostet und vom besten italienischen Sternekoch von North End zubereitet wird.«

»Ich bin wirklich untröstlich«, sagte Dragos. »Aber ich halte eine sehr strenge Diät, die italienische Cuisine bekommt mir nicht.«

»Tut mir leid zu hören.« Bobby Clarence ging kichernd zu einem Schrank in der Nähe hinüber und fuhr in seinen sündhaft teuren seidengefütterten Mantel. »Aber Sie kommen doch morgen zu meiner kleinen Weihnachtsfeier, nicht?«

Dragos nickte. »Die würde ich mir um nichts in der Welt entgehen lassen.«

»Ausgezeichnet. Tavia hat sich wirklich selbst übertroffen, sie hat die ganze Sache für mich auf die Beine gestellt – bis hin zu den handgeschriebenen Einladungskarten.«

»Was Sie nicht sagen.« Dragos sah sich mit einem taxierenden Blick zu der jungen Frau um, die sich inzwischen ebenfalls Mantel und Handtasche geholt hatte und gerade dabei war, ihren Computer herunterzufahren und das Bürotelefon auf Anrufbeantworter umzustellen.

»Ich soll das ja nicht herumerzählen«, fügte Senator Clarence hinzu, »aber wir haben morgen Abend einen besonderen unangekündigten Ehrengast. Ein guter Freund und Mentor von mir aus meinen Cambridge-Zeiten. Ich bin sicher, ihn kennenzulernen dürfte interessant für Sie sein, Drake.«

Obwohl der junge Politiker so auf diskret machte, brauchte Dragos keine weiteren Hinweise, um zu erraten, dass der VIP und gute Freund von Bobby Clarence kein anderer als sein ehemaliger Collegeprofessor war, der sich an einen weiteren aufgehenden Stern der Politik gehängt hatte und so zum zweitmächtigsten Mann des Landes aufgestiegen war. Genau diese Verbindung war es, die Bobby Clarence für Dragos so wichtig machte.

Schon morgen Nacht würde Dragos den Verstand – und die Seelen – beider Männer besitzen.

»Bis dann also«, sagte er und schüttelte dem arglosen Senator begeistert die Hand. Dann sah er sich zu Bobby Clarence’ hübscher Assistentin um und nickte ihr höflich zu. »Miss Fairchild, es war mir ein Vergnügen, Sie endlich auch persönlich kennenzulernen.«

Während sie ihm mit ihren scharfsinnigen Augen nachsah und das optimistische »Wiedersehen!« des Senators bis ins Foyer hinaushallte, verließ Dragos das Büro und ging auf den Lift zu. Bis er unten angekommen und in seine eigene wartende Limousine gestiegen war, tat ihm von seinem breiten, zufriedenen, gierigen Lächeln schon der Kiefer weh.