4

In einer dunklen Ecke der kleinen Kapelle des Hauptquartiers kauerte Chase allein im Dunklen.

Er wusste nicht, warum er in diesem stillen, kerzenerleuchteten Zufluchtsort gelandet war statt in seinem Privatquartier weiter unten auf dem Korridor. Er war nie einer gewesen, der den Rat oder die Vergebung einer höheren Macht suchte, und zum Beten war es für ihn wahrscheinlich auch zu spät.

Für ihn gab es keine Hoffnung auf Absolution. Nicht von oben und nicht von Lucan oder seinen anderen Brüdern im Orden, nicht einmal von sich selbst.

Stattdessen pflegte er seine Wut. Er genoss die Qual seiner Verletzungen, den feurigen Kuss seiner Schmerzen, die ihm das Gefühl gaben, lebendig zu sein. Das war so ziemlich das Einzige, was er überhaupt noch spüren konnte. Und so rücksichtslos und verzweifelt wie ein Junkie holte er sich dieses Gefühl so oft wie nur möglich.

Es war besser als die Alternative.

Schmerz war sein düsterer, perverser Kick, der ihn davor bewahrte, sich nach einer anderen, gefährlicheren Gebieterin zu verzehren.

Denn ohne Schmerzen blieb ihm nur noch sein Hunger.

Und wo das enden würde, wusste er.

Sein Verstand war noch nicht so verloren wie sein Körper oder seine Seele; er sagte ihm, dass seine Gier ihn eines Tages töten würde. Es gab Nächte – in letzter Zeit immer mehr –, in denen ihm das schlicht egal war.

»Sterling, bist du hier drin?«

Er sah abrupt auf, diese Frauenstimme forderte seine ganze Aufmerksamkeit, genau wie vorhin im Korridor vor dem Aufzug. Mit schief gelegtem Kopf folgte er ihren Bewegungen, selbst als der Junkie in ihm sich nach Einsamkeit sehnte und sich in der Dunkelheit vor ihren Blicken verbergen wollte.

Chase sammelte die Schatten um sich. Er griff tief in den Brunnen seiner übernatürlichen Gabe, die Dunkelheit seiner Umgebung anzuziehen und sich darin zu verbergen. Es kostete ihn Anstrengung, die Schatten herbeizurufen, und es fiel ihm noch schwerer, sie aufrechtzuerhalten. Schon einen Augenblick später ließ er sie wieder fallen und zischte einen heftigen Fluch. Sogar seine Schatten ließen ihn im Stich.

»Sterling?«, rief Elise leise in die Kapelle.

Vorsichtig trat sie ein, offenbar fühlte sie sich nicht ganz sicher mit ihm. Kluges Mädchen. Doch trotzdem blieb sie nicht stehen oder ging und ließ ihn allein, wie es ihm lieber gewesen wäre, sondern kam weiter auf ihn zu.

»Ich war gerade in deinem Quartier, also weiß ich, dass du nicht dort bist.« Sie stieß einen Seufzer aus, er klang verwirrt und sehr traurig. »Du kannst dich vor mir verstecken, aber ich spüre doch, dass du hier bist. Warum antwortest du nicht?«

»Weil ich dir nichts zu sagen habe.«

Harte Worte. Und völlig unverdient, besonders von der Frau, die seit einem Jahr Tegans Stammesgefährtin war, und lange davor die trauernde Witwe von Chases Bruder. Quentin Chase hatte unendliches Glück gehabt, als Elise sich ihn zum Gefährten erwählte – und hatte keine Ahnung gehabt, dass sein jüngerer Bruder sich insgeheim nach seiner Schwägerin verzehrte.

Wenigstens diese ungewollte Sehnsucht machte ihm inzwischen nicht mehr zu schaffen.

Er hatte sich seine Obsession abgewöhnt. Sein angeschlagenes Ehrgefühl wollte glauben, dass es ihm gelungen war, über Elise hinwegzukommen, die ihr Herz einem anderen geschenkt hatte – einem seiner Waffenbrüder, der für sie töten und für sie sterben würde, genau wie sie für ihn.

Tegans und Elises Liebe füreinander war unauflöslich, und obwohl Chase nie so weit gesunken war, das auszutesten, war die Sache einfach so, dass er Elise als eigentliches Objekt seiner Besessenheit durch seine Sucht nach Schmerzen ersetzt hatte.

Und doch ertappte er sich immer noch dabei, dass er den Atem anhielt, als sie langsam immer weiter in die Kapelle kam und ihn in der hintersten Ecke auf dem Boden fand, den Rücken gegen die steinernen Wände gelehnt.

Schweigend ging sie das kurze Stück zwischen den beiden hölzernen Bankreihen hindurch, setzte sich auf die Kante der Bank, die ihm am nächsten war, und starrte ihn einfach nur an. Er musste nicht zu ihr hinübersehen, um zu wissen, dass ihr hübsches Gesicht Enttäuschung zeigte. Wahrscheinlich auch Mitleid.

»Vielleicht hast du mich nicht verstanden«, sagte er – kaum mehr als ein Fauchen. »Ich will nicht mit dir reden, Elise. Du solltest jetzt gehen.«

»Warum?«, fragte sie und rührte sich nicht vom Fleck. »Damit du in Ruhe schmollen kannst? Quentin wäre entsetzt, dich so zu sehen. Er würde sich für dich schämen.«

Chase stieß einen Grunzlaut aus. »Mein Bruder ist tot.«

»Ja, Sterling. Gefallen im Dienst für die Agentur. Er ist ehrenhaft gestorben, hat sein Bestes gegeben, um diese Welt sicherer zu machen. Kannst du das gerade von dir behaupten?«

»Ich bin nicht Quent.«

»Nein«, sagte sie. »Das bist du nicht. Er war ein außergewöhnlicher Mann, ein mutiger Mann. Und du hättest sogar noch besser sein können als er, Sterling. Du hättest so viel mehr sein können als das, was ich hier vor mir sehe. Ich habe auch gehört, wie du dich in letzter Zeit auf deinen Missionen aufführst, musst du wissen. Ich habe dich allzu oft in diesem Zustand heimkommen sehen, zerrissen und aufgeladen. So voller Wut.«

Chase stand auf und stapfte ein paar Schritte fort von ihr, am liebsten hätte er das Gespräch beendet. »Was ich tue, ist meine Sache. Dich geht das nichts an, und ich gehe dich auch nichts an.«

»Verstehe«, antwortete sie stirnrunzelnd. Sie stand von der Bank auf und näherte sich ihm, die schlanken Arme vor der Brust verschränkt. »Dir ist es lieber, wenn jeder, dem du etwas bedeutest, dich einfach in Ruhe bluten lässt, ja? Du willst, dass ich und alle anderen dich einfach irgendwo in einer dunklen Ecke sitzen und in Selbstmitleid versinken lassen?«

Er schnaubte verächtlich und warf ihr einen wütenden Blick zu. »Sehe ich so aus, als versänke ich in Selbstmitleid?«

»Du siehst aus wie ein Tier«, antwortete sie. Ihre Stimme war leise, aber nicht vor Angst, wie er wusste. »Du benimmst dich wie ein Tier, Sterling. Wenn ich dich in letzter Zeit anschaue, habe ich das Gefühl, ich kenne dich gar nicht mehr.«

Er hielt ihrem verwirrten Blick stand. »Du hast mich nie gekannt, Elise.«

»Wir waren mal eine Familie«, erinnerte sie ihn sanft. »Ich dachte, wir wären Freunde.«

»Es war nicht Freundschaft, was ich von dir wollte«, antwortete er knapp und sah zu, wie sie dieses unumwundene Geständnis aufnahm, um das er sich bis jetzt aus Mangel an Courage immer herumgedrückt hatte. Als sie wachsam einen Schritt in den Gang zwischen den Bankreihen zurückwich, kicherte er selbstzufrieden. »Jetzt kannst du meinetwegen vor mir davonlaufen, Elise.«

Sie rannte nicht fort.

Dieser eine Schritt zurück war ihr einziges Zugeständnis an die Situation. Tegans Gefährtin war nicht länger das behütete Frauchen, das Quentin Chase geheiratet hatte. Sie war eine starke Frau, die durch ihre persönliche Hölle gegangen und nicht daran zerbrochen war. Sie würde auch jetzt nicht wegen Chase zerbrechen, selbst wenn er noch so gewaltsam versuchte, sie aus seinem Leben zu stoßen.

Als wollte er sich das beweisen, ging er jetzt auf sie zu.

Er war voller Blut und restlos verdreckt, und er konnte seinen eigenen Gestank selbst kaum ertragen. Aber obwohl ihn nur noch ein Zentimeter von Elises makelloser Schönheit trennte, wandte sie sich nicht ab. Ihre Miene war traurig und erwartungsvoll, noch bevor er den Mund öffnete, um die Worte auszusprechen, die alle Brücken zu seiner Vergangenheit abbrechen würden.

»Das Einzige, was ich je von dir wollte, Elise, war, dich ordentlich durchzuvö…«

Sie schlug ihn hart ins Gesicht, das Geräusch hallte durch die stille Kapelle, und ihre hellen veilchenfarbenen Augen glänzten im Kerzenlicht von unvergossenen Tränen.

Keine einzige fiel, nicht für ihn.

Wahrscheinlich nie wieder, so verletzt, wie sie ihn jetzt ansah.

Chase zog sich einen Schritt zurück und hielt sich die Wange, ihr Schlag brannte immer noch heiß auf seiner Haut.

Dann, ohne ein weiteres Wort oder einen Gedanken daran zu verschwenden, was vor ihm lag, floh er vor Elises vernichtendem Blick und rannte mit der ganzen Geschwindigkeit seiner Stammesgene durch den Treppenschacht der Kapelle in die Winternacht hinaus.

Corinne stand am Rand einer weitläufigen Marmorterrasse mit Blick auf den schneebedeckten Garten auf der Rückseite des Anwesens. Einen Augenblick allein, während Gabrielle im Haus Mäntel für sie holte, legte sie den Kopf zurück und atmete die kalte Dezemberluft tief ein. Der Winterhimmel über ihr war dunkel und wolkenlos, ein unendliches Meer von Mitternachtsblau, gesprenkelt mit hellen, glitzernden Sternen.

Wie lange war es her, seit sie den kühlen, leicht rauchigen Geruch des Winters in der Brise gerochen hatte?

Wann hatte sie zum letzten Mal frische Luft auf ihren Wangen gespürt?

Die Jahrzehnte ihrer Gefangenschaft waren zuerst langsam vergangen, damals, als sie noch fest entschlossen gewesen war, den Überblick über die vergehende Zeit zu behalten und jede Sekunde zu kämpfen, als könnte sie ihre letzte sein. Nach einer Weile hatte sie erkannt, dass ihr Entführer nicht ihren Tod wollte; für seine Zwecke brauchte er sie lebend, auch wenn diese Existenz kein Leben war. An diesem Punkt hatte sie aufgehört, zu kämpfen und die Tage zu zählen, und ihr Zeitgefühl war zu einer einzigen, nicht enden wollenden Nacht verschwommen.

Und jetzt war sie frei.

Schon morgen würde sie zu Hause bei ihrer Familie sein.

Ihr Leben würde neu beginnen, und sie würde ein neuer Mensch sein. Sie hatte überlebt, aber in ihrem tiefsten Inneren fragte sie sich, ob sie jemals wieder wirklich heil sein konnte. Man hatte ihr so viel genommen, einiges davon würde sie nicht wieder zurückbekommen.

Und anderes …

Sie würde später Zeit haben, alles zu betrauern, was sie an Dragos’ dämonischen Wahnsinn verloren hatte.

Mit geschlossenen Augen atmete sie wieder die kalte, reinigende Nachtluft ein. Beim Ausatmen hörte sie plötzlich Kindergelächter und fuhr vor Schreck zusammen.

Zuerst dachte sie, ihr Verstand hätte ihr einen grausamen Streich gespielt, wie er es während ihrer langen Gefangenschaft im Dunklen so oft getan hatte. Doch dann brachte der Wind wieder dieses entzückte kleine Kichern aus dem weitläufigen Garten zu ihr herauf.

Es war das Gelächter eines kleines Mädchens – es musste etwa acht oder neun sein, schätzte Corinne und sah zu, wie das Kind glücklich durch den wadenhohen Schnee tobte, eingemummelt wie ein rosa Schneemann in einem dicken Anorak und passenden Hosen.

Nur wenige Schritte hinter ihr rannten zwei fröhlich hechelnde Hunde, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Corinne konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als der dicke braune Terrier verzweifelt versuchte, den größeren, eleganteren Hund zu überholen. Der rauflustige kleine Köter kläffte bei jedem gemächlichen Schritt des wundervollen weißgrauen Wolfshundes, versuchte sich an ihm vorbeizudrängeln und schoss schließlich zwischen seinen langen Beinen hindurch, um als Erster bei dem kleinen Mädchen zu sein.

Es quiekte vergnügt, als der kleine Hund fröhlich bellend an ihr hochsprang, und nun hatte auch der zweite Hund sie eingeholt und begann, dem Kind schwanzwedelnd das Gesicht zu lecken.

»Ist ja gut, jetzt reicht’s!«, kicherte das Mädchen. »Luna, Harvard – okay, ihr habt gewonnen, ich gebe auf!«

Als die beiden Hunde von ihr abließen und stattdessen knurrend miteinander rauften, kamen zwei Frauen aus einem anderen Teil des Gartens über den verschneiten Rasen. Die eine von ihnen war unter ihrem übergroßen Daunenmantel definitiv hochschwanger, sie ging langsam und vorsichtig neben einer groß gewachsenen, athletisch gebauten Frau her, die in ihrer behandschuhten Hand die beiden Hundeleinen hielt.

»Benimm dich, Luna«, rief sie dem größeren der beiden Hunde zu. Er reagierte sofort, ließ seinen Spielgefährten im Stich, kam zu ihnen herüber und rannte sichtlich begeistert im Kreis um sein Frauchen herum.

»Das ist Alex«, sagte Gabrielle und kam zu Corinne auf die Terrasse hinaus. Sie trug einen dunklen Wollmantel und hielt Corinne einen weiteren hin, der einen schwachen Duft nach Zedernholz verströmte und sich so kuschelig wie eine warme Decke anfühlte, als Corinne hineingeschlüpft war. »Alex ist Kades Gefährtin«, fuhr Gabrielle fort. »Sie war mit ihm unterwegs, als du angekommen bist, deshalb hast du sie noch nicht kennengelernt.«

»Ich erinnere mich aber an sie«, antwortete Corinne, in Gedanken wieder beim Abend ihrer Rettung. »Sie und ein paar andere Frauen haben uns aus diesem Kellerverlies herausgeholt. Sie haben uns gefunden.«

Gabrielle nickte. »Genau. Alex und Jenna waren dort, zusammen mit Dylan und Renata. Und wenn Tess nicht jeden Augenblick Dantes Baby kriegen würde, wäre sie sicher auch dabei gewesen.«

Corinne sah wieder in den Garten hinaus, die beiden Frauen hatten sie entdeckt und hoben grüßend die Hände. Das kleine Mädchen hatte wieder einen Kicheranfall und ließ sich in eine Schneewehe plumpsen, die beiden Hunde sprangen begeistert hinterher.

»Diese süße kleine Göre da drüben ist Mira«, sagte Gabrielle und schüttelte lächelnd den Kopf über den Zirkus, den das Kind veranstaltete. »Renata hat sich um sie gekümmert, als die beiden noch in Montreal lebten. Als sich Nikolai und sie letzten Sommer verliebt haben, haben sie Mira ins Hauptquartier mitgebracht. Die drei sind jetzt eine Familie.« Lucans Gefährtin sah sich strahlend zu Corinne um. »Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber ich liebe Happy Ends.«

»Die Welt bräuchte viel mehr davon«, murmelte Corinne, gewärmt von Miras Geschichte, auch wenn sich jetzt in ihrem Herzen ein kalter Schmerz auftat wie ein winziger Spalt. Sie schob das Leeregefühl beiseite, denn jetzt kamen Alex und Tess miteinander die breite Marmortreppe zur Terrasse hinauf.

Gabrielles Atem bildete eine Wolke in der Dunkelheit. »Dir ist doch nicht zu kalt hier draußen, Tess?«

»Es ist herrlich«, antwortete die hochschwangere Schönheit, die neben Alex herwatschelte. Unter der dicken Kapuze ihres Anoraks waren ihre Wangen rosig. »Ich schwöre euch, wenn Dante versucht, mich noch einen Tag länger im Hauptquartier einzusperren, wird er die Geburt seines Sohnes nicht mehr erleben.« Diese Drohung wurde jedoch von ihren blitzenden aquamarinblauen Augen und ihrem sonnigen Lächeln entkräftet. Sie streckte ihre Hand aus, die in einem warmen Wollhandschuh steckte. »Hallo, ich bin Tess.«

Corinne schüttelte ihr kurz die Hand und nickte ihr grüßend zu. »Nett, dich kennenzulernen.«

»Alex«, sagte die andere Stammesgefährtin und gab ihr mit einem herzlichen Lächeln ebenfalls die Hand. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, dass du und die anderen, die Dragos entführt hat, in Sicherheit sind, Corinne.«

Sie nickte. »Und ich kann euch gar nicht sagen, wie dankbar ich euch allen bin.«

»Morgen Nacht geht Corinne nach Hause«, fügte Gabrielle hinzu.

»Morgen?« Alex sah fragend zu ihr hinüber. »Heißt das, Brock und Jenna sind schon auf dem Heimweg aus Alaska?«

»Sie sitzen dort immer noch im Schneesturm fest«, antwortete Gabrielle. »Aber Hunter hat sich freiwillig gemeldet, für Brock einzuspringen und Corinne nach Detroit zu begleiten.«

In dem langen Schweigen, das sich jetzt über die Frauen des Ordens senkte, erinnerte sich Corinne an den Augenblick, als der riesige, unheimliche Krieger mit der undurchdringlichen Miene mit dem Angebot herausgeplatzt war, sie nach Hause zu bringen. Sie hatte es mit Sicherheit nicht von ihm erwartet. Er wirkte nicht wie einer von der mildtätigen Sorte, nicht einmal in der Nacht ihrer Rettung, als er und einige andere Ordenskrieger Dragos’ befreite Gefangene zu dem Dunklen Hafen in Rhode Island gefahren hatten.

Hunter war in dieser Nacht kaum zu übersehen gewesen. Mit seinen abweisenden, wie gemeißelt wirkenden Gesichtszügen und seinem fast zwei Meter großen muskulösen Körper war er die Art Mann, der mühelos jeden Raum dominierte, ohne es auch nur zu versuchen. In den Stunden nach der Rettungsaktion, die für alle Beteiligten hoch emotional gewesen waren, hatte Hunter sich schweigend am Rand des Geschehens aufgehalten und seine Aufgaben mit stoischer Effizienz ausgeführt.

Später in dieser Nacht hatte eine der Frauen geflüstert, dass sie zufällig ein vertrauliches Gespräch von Andreas und Claire über Hunter mitangehört hatte. Offenbar sei er noch vor gar nicht langer Zeit in irgendeiner Weise mit Dragos verbündet gewesen. Corinne konnte nicht leugnen, dass sie sofort die Aura der Gefahr registriert hatte, die diesen mysteriösen Krieger umgab, und dass der Gedanke, ihm nahe zu sein, sie nach wie vor verunsicherte.

Es fiel ihr nicht schwer, sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, wie er vorhin unten im Hauptquartier ausgesehen hatte mit seiner blutgetränkten Kampfmontur und dem schrecklichen Waffenarsenal, das er um die schmalen Hüften trug. Und sie erinnerte sich nur allzu gut an die ungewöhnliche goldene Farbe seiner Augen und wie er sie angestarrt hatte, als er sie erblickte.

Sie hatte keine Ahnung, warum sie dermaßen seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie wusste nur, dass sie sich von seinem durchdringenden Blick gefangen fühlte, auf eine Art und Weise gemustert, durch die sie sich gleichermaßen belebt und verwundbar gemacht fühlte.

Selbst jetzt noch kribbelte ihre Haut bei der Erinnerung an ihn.

Sie zitterte, obwohl ihr in dem dicken Mantel alles andere als kalt war, und versuchte, das Gefühl wegzureiben, fuhr sich mit den Händen die Arme hinauf und hinunter, um dieses seltsame erhitzte Kribbeln ihrer Nervenenden zu vertreiben.

»Hunter!« Ohne Vorwarnung sprang die kleine Mira von ihrem Spiel im Schnee auf und rannte begeistert auf die Terrasse zu. »Hunter, komm raus zu uns!«

Corinne sah sich zusammen mit den anderen Frauen nach Mira um, die aufgeregt auf die verglaste Terrassentür des Anwesens zulief.

Drinnen stand Hunter.

Seine blutgetränkte schwarze Kampfmontur hatte er inzwischen abgelegt und war frisch geduscht. Nun trug er weite Jeans und ein weißes Hemd, das ihm über die Hose hing und das kunstvolle Muster der Dermaglyphen auf seinem Brustkorb und Rumpf durchschimmern ließ. Trotz der Jahreszeit war er barfuß, und sein kurzes hellbraunes Haar hing ihm feucht in die Stirn.

Und er musterte sie wieder … oder immer noch. Wie lange er wohl schon so dastand?

Corinne versuchte, den Blick von ihm abzuwenden, aber seine durchdringenden goldenen Augen wollten sie nicht loslassen. Sein Blick wich nicht einmal von Corinne, um das Kind zu begrüßen, das auf ihn zugerannt kam, bis zum allerletzten Augenblick, als sich Mira in seine starken Arme warf.

Er hob das kleine Mädchen mühelos hoch, hielt sie in seiner linken Armbeuge und hörte ihr zu, als sie ihm lebhaft von ihren Abenteuern des heutigen Tages erzählte. Corinne konnte kaum hören, was sie redeten, aber es war offensichtlich, dass er das Kind sehr gern hatte, so leise und gutmütig, wie er mit ihm sprach.

In der kurzen Zeit, die er sich mit ihr unterhielt, huschte ein seltsamer Ausdruck über sein sonst so unergründliches Gesicht, und plötzlich erstarrte er.

Während er das Kind langsam wieder auf dem Boden absetzte, warf er einen letzten Blick in Corinnes Richtung – einen langen Blick, der ihr durch und durch ging. Dann drehte er sich um und verschwand wieder im Haus.

Selbst nachdem er fort war, selbst nachdem Mira wieder zu den Hunden zurückgerannt war und im schneebedeckten Garten mit ihnen spielte und die anderen Stammesgefährtinnen ihre eigene Unterhaltung wieder aufgenommen hatten, konnte Corinne immer noch die verwirrende Hitze von Hunters Blicken auf ihrem Körper spüren.

Er hatte Corinne Bishops Gesicht schon einmal gesehen.

Nicht bei ihrer Rettung aus Dragos’ Kerkerverlies. Auch nicht in dem Dunklen Hafen in Rhode Island, wohin man sie und die anderen befreiten Gefangenen in Sicherheit gebracht hatte.

Nein, er hatte die junge Frau schon vor Monaten gesehen, da war er sich jetzt sicher.

Die Erkenntnis hatte ihn getroffen wie ein körperlicher Schlag, als er vor ein paar Minuten die kleine Mira hochgehoben hatte. Was seiner Erinnerung auf die Sprünge geholfen hatte, war ein Blick in das unschuldige Gesicht des Kindes gewesen – in die Augen der kleinen Stammesgefährtin, die einem die Zukunft zeigen konnten.

Normalerweise trug Mira ihre speziell angefertigten Kontaktlinsen, die ihre Gabe dämpften, so auch heute Nacht. Aber vor Monaten hatte Hunter unbeabsichtigt in ihren spiegelartigen Augen eine Frau gesehen, die ihn um Gnade anflehte und ihn bat, nicht der Killer zu sein, zu dem er geboren war.

In der Vision war ihm die Frau in den Arm gefallen und hatte ihn verzweifelt gebeten, dieses Leben zu verschonen – nur dieses eine, nur für sie.

Lass ihn los, Hunter …

Bitte, ich flehe dich an … tu es nicht!

Kannst du das nicht verstehen? Ich liebe ihn! Er bedeutet mir alles …

Lass ihn einfach gehen … du musst ihn am Leben lassen!

In der Vision hatte sich das Gesicht der Frau vor Angst und Schrecken verzerrt, als sie erkannte, dass er sich nicht beeinflussen ließ, nicht einmal für sie eine Ausnahme machte. Und einen Augenblick später hatte sie in unendlichem Kummer aufgeschrien, als Hunter ihr seinen Arm entriss und zum tödlichen Schlag ausholte.

Die Frau war Corinne Bishop.