27

Hunter stand mit dem Rücken an der Schlafzimmerwand in Amelies Haus gelehnt und beobachtete, wie das Mondlicht durchs offene Fenster über Corinnes nackten Körper spielte. In der Ferne hörte er die Nachtgeräusche der Sumpftiere, tödlicher nächtlicher Raubtiere wie ihm, gerufen von der Dunkelheit, auf der Suche nach frischer Beute. Sie würden jagen und töten, wenn sie Erfolg hatten, und am nächsten Abend ging dieser Kreislauf wieder von vorne los.

Sie folgten einfach ihrer Natur, taten, wozu sie geboren waren: Töten ohne Gnade oder Reue und ohne zu hinterfragen, ob es nicht anderswo ein anderes, besseres Leben für sie gab. Sie konnten sich gar nicht nach etwas anderem sehnen als dem, was schon immer so gewesen war.

Das war ein Leben, das Hunter kannte.

Er hatte genauso gelebt, solange er denken konnte.

Und er wusste es doch verdammt noch mal besser, als sich jetzt sinnlose Szenarien auszumalen, mit sich selbst in der Rolle des Helden. Des weißen Ritters aus irgendeiner unglaubwürdigen Legende, der sich geschworen hatte, zur Rettung der bedrängten Schönen herbeizueilen, so wie die, von denen er früher als Kind in diesem Farmhaus in Vermont gelesen hatte … bevor der Lakai, der ihn betreut hatte, alle Bücher aus seinem armseligen Quartier entfernt und ihn gezwungen hatte, sie zu verbrennen.

Er war kein Held, für niemanden, egal wie sehr er sich nach dem Zusammensein mit Corinne wünschte, einer zu sein.

Das lag zum Teil an seiner Blutsverbindung zu ihr. Sie war jetzt in ihm, ihre Zellen nährten seine und woben eine intuitive Verbindung, die all seine Gefühle für sie verstärkte. Zumindest sagte sein Verstand ihm das.

Lieber eine physiologische Erklärung als die andere, die viel beunruhigender war und ihm ständig im Kopf und im Herzen herumging, seit er Corinne vorhin in den Armen gehalten und auf dem abgetretenen gelben Linoleumboden von Amelie Duprees winziger Küche mit ihr getanzt hatte.

Wenn er irgendwie die Zeit hätte anhalten können, hätte er es getan. Ohne zu zögern hätte er sich damit zufriedengegeben, Corinne einfach nur so in seinen Armen zu halten, solange sie ihn haben wollte. Danach sehnte er sich selbst jetzt noch, nachdem sie zusammen die Küche aufgeräumt hatten, dann ins Bett gegangen waren und sich bedächtig geliebt hatten.

Bei diesem Gedanken wurde das wilde Hämmern in seiner Brust nur noch intensiver, vor allem jetzt, wo er sie auf seiner Haut riechen und auf seiner Zunge schmecken konnte. Er wollte sie wecken und ihr noch mehr Lust bereiten, wollte hören, wie sie seinen Namen keuchte, während sie sich in ihrem Orgasmus an ihn klammerte, als wäre er der einzige Mann, den sie jemals in ihrem Bett haben wollte.

Mit einer Wildheit, die er kaum begreifen konnte, wünschte er sich, sie sagen zu hören, dass er der einzige Mann war, den sie jemals lieben würde.

Und genau aus diesem Grund hatte er sich den Genuss versagt, neben ihr auf dem Bett zu liegen, während sie schlief. Er hatte sich schon mehr von ihr genommen, als ihm zustand. Er musste sich daran erinnern, wer er war. Oder vielmehr, wer oder was er niemals sein konnte.

In einer Hinsicht hatte ihre Gastgeberin recht gehabt. Corinne verdiente es, glücklich zu sein. Jetzt, wo ihre Erinnerungen in ihrem Blut ihm bis ins Detail gezeigt hatten, was ihr angetan worden war, konnte er nur staunen, dass sie das alles überlebt hatte. Ganz zu schweigen davon, dass es ihr gelungen war, aus diesem Gefängnis mit unversehrter Menschlichkeit hervorzugehen. Ihr Herz war immer noch rein, immer noch offen und verletzlich, obwohl man sie so abscheulich behandelt hatte.

So wie er es sah, hatte sie viel Schlimmeres durchgemacht als er. Dragos hatte Corinne absichtlich und gezielt ihre Lebensgeister und ihre Seele genommen, während man Hunter von Anfang an verweigert hatte, überhaupt eine zu haben.

Als er sie das erste Mal getroffen hatte, hatte die zierliche junge Frau, die mit Feuer in den Augen aus Dragos’ Kerkerlabor gekommen war, ihn neugierig gemacht. Diese Neugier war zu einem seltsamen Gefühl der Verbundenheit geworden, zu einem unerwarteten Mitgefühl, als er zugesehen hatte, wie sie sich mühsam in einer Welt zurechtfand, die in ihren Grundfesten erschüttert worden war, als sie nach all der langen Zeit zum ersten Mal wieder versuchte, in ihr Fuß zu fassen, und nicht mehr wusste, wo sie hingehörte und wem sie vertrauen konnte. Da konnten selbst einem kampferprobten Krieger Selbstzweifel kommen.

Aber Corinne war nicht zusammengebrochen. Weder unter Dragos’ Grausamkeit noch unter Henry Vachons Verderbtheit. Nicht einmal, als Victor Bishop sie so skrupellos verraten hatte. Diese zierliche Frau von eins sechzig war ein mutiger Krieger im Miniaturformat.

Und das alles aus Liebe zu ihrem Kind.

Jetzt, wo Hunter die Quelle ihrer Entschlossenheit und ihres Mutes kannte, wuchs sein Respekt für sie nur umso mehr. Er wollte wirklich, dass sie glücklich war. Gegen alle Logik und Verstand hoffte er, dass sie ihren Sohn wiederfinden würde, ohne dass es zu all den prophezeiten Tränen, dem prophezeiten Leid kam.

Verursacht von seiner eigenen Hand.

Er stieß einen leisen Fluch aus.

Als quälte Miras Vision ihn nicht schon genug, hatte Hunter sich eine weitere Last auf die Schultern geladen, indem er von Corinne getrunken hatte. Er hatte ihr gesagt, dass ihr Blut ihm nichts Nützliches gezeigt habe, um ihren Sohn zu finden, aber da war … doch etwas gewesen. Nur ein kleines Detail, aber vielleicht ein entscheidendes. Was genau es war, dessen war er sich noch unsicher.

Eingeschlossen in ihren Erinnerungen an den Tag, an dem sie ihren Sohn geboren hatte, war eine Nummernfolge, die einer der Lakaien im Entbindungsraum laut aufgesagt hatte. Es war nur eine zufällige Aneinanderreihung von Zahlen gewesen und dazu noch unvollständig, denn man hatte Corinne kurz nach der Geburt ihres Babys ein starkes Schlafmittel verabreicht und sie aus dem Raum geschoben, sodass sie das Ende nicht mitbekommen hatte.

Was diese Zahlen bedeuteten, wusste Hunter nicht, sie konnten alles und nichts bedeuten. Aber er hatte sie Gideon gegeben, zusammen mit den verschlüsselten Daten und den eingescannten Laborberichten, und den Krieger angewiesen, sich zu melden, wenn die Zahlenfolge irgendetwas Brauchbares ergeben würde.

Hunter war sich nicht sicher, welches Ergebnis ihm lieber war: eine Bestätigung, dass sie Corinnes Sohn endlich aufgespürt hatten, oder das Fehlen einer brauchbaren Verbindung zwischen der Nummernfolge und ihrem Sohn. Nichtsdestotrotz hätte er Corinne erzählen sollen, was er gefunden hatte, auch wenn es falsche Hoffnungen in ihr weckte. Aber das wollte er ihr ersparen, wenn er konnte.

Am liebsten würde er ihr jeden Schmerz für den Rest ihres Lebens ersparen.

Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf und ließ sich in der Zimmerecke in die Hocke sinken. Da fiel ihm auf dem Boden direkt unter dem Fußende des Bettes ein dunkler rechteckiger Gegenstand auf.

Der lederne Aktenkoffer, den Corinne heute Morgen aus dem Laster geholt hatte.

Nach der nur allzu angenehmen Ablenkung durch Corinne hatte er ihn übersehen, als er sich wegen der anderen Labordaten im Hauptquartier gemeldet hatte. Jetzt griff er nach dem Koffer und zog seinen Inhalt heraus.

Das meiste war vergilbtes Papier mit handschriftlichen Notizen, aber es war das abgewetzte schwarze Bestandsbuch, das ihm besonders ins Auge fiel. Er legte den Koffer und die Aktenordner neben sich auf den Boden und schlug ihn auf. Über den oberen Teil der ersten Seite zog sich ein Eintrag in einer krakeligen Handschrift.

Subjekt Nr. 862108102484

Hunter starrte die Zahlenfolge an. Sie war ihm unbekannt; weder hatte er sie vorhin an Gideon weitergegeben, noch hatte er sie je zuvor gesehen.

Und doch stockte ihm das Blut in den Adern, und ihm wurde eiskalt.

Er blätterte zur nächsten Seite um.

Datum: 8. August 1956, 04:24 Uhr

Resultat: Erste erfolgreich ausgetragene Lebendgeburt eines Gen-Eins-Subjekts. Normale Schwangerschaftsdauer.

Status: Zuchtprogramm Hunter eingeleitet.

Hunter starrte die Seite an, bis ihm die Buchstaben vor den Augen verschwammen und sich in seinem Kopf ein wilder Lärm erhob. Er blätterte weiter in dem Bestandsbuch, überflog die späteren Einträge, sein Verstand absorbierte Daten und Fakten, selbst während sein Bewusstsein verzweifelt versuchte, die Details auszublenden.

Herr im Himmel …

Was er da vor sich hatte, war die Geburtsurkunde und der Entwicklungsbericht des allerersten Gen-Eins-Killers, der erfolgreich in Dragos’ Labor gezüchtet worden war.

Es war seine eigene Akte.

Corinne wachte auf und streckte den Arm im Bett aus, suchte Hunters warmen Körper.

Er war nicht da.

»Hunter?« Sie setzte sich in dem dunklen Schlafzimmer auf und hörte nichts als die vielstimmigen nächtlichen Sumpfgeräusche, die durchs Fenster hereindrangen. »Hunter, wo bist du?«

Als keine Antwort kam, stieg sie aus dem Bett und zog sich ihre Kleider über.

Ihre Schuhe lagen auf dem Boden am Fußende des Bettes … und nicht weit von ihnen befand sich der lederne Aktenkoffer mit Dragos’ Laboraufzeichnungen.

Sein Inhalt war chaotisch auf dem Boden verstreut, überall lagen in wildem Durcheinander Papiere herum.

Bei diesem Anblick hatte sie plötzlich einen seltsamen Kloß im Hals. Und weil Hunter gegangen war, ohne ihr etwas zu sagen.

Sie schlüpfte in ihre Schuhe und schlich sich leise aus dem Schlafzimmer. Hinter Amelies geschlossener Tür am Ende der Diele lief immer noch laut der Fernseher, aber der Rest des Hauses war stumm und leer.

»Hunter?«, flüsterte sie und wusste, wenn er da war, würde sein scharfes Stammesgehör selbst das leiseste Geräusch auffangen, als sie durch das Haus auf das Fliegengitter der Küchentür zuging.

Wo war er nur hin?

Aber eigentlich wusste sie es schon. Sie ging hinaus auf die Hintertreppe und spähte in die dunklen Sümpfe hinaus, wo in einigen Metern Entfernung der weiße Kastenwagen im Dickicht abgestellt war. Das Gras raschelte unter ihren Füßen, die Nachtluft war feucht und salzig in ihrer Nase. Sie ging mühsam und versuchte, sich die Kälte aus den Armen zu reiben, die ihr in die Knochen drang.

Als sie den Laster erreichte, sah sie, dass die Klappe aufstand. Die beiden verbeulten weißen Türflügel mit dem verblassten Schriftzug einer Speditionsfirma, bespritzt mit Dreck aus dem Sumpf und dem angetrockneten Blut der vorigen Nacht, standen weit auf, und dahinter war nichts als Dunkelheit. »Hunter, bist du da drin?«

Sie zog die Türflügel weiter auf und spähte hinein. Eine an der Decke montierte Glühbirne schaltete sich automatisch ein, und sie sah Hunter, der am hinteren Ende des Kastenwagens auf dem Boden saß, barfuß und ohne Hemd, die geborgte Nylonjogginghose reichte ihm nur halb über seine glyphenbedeckten Waden. Er hatte die Ellbogen auf die angezogenen Knie gestützt und ließ den Kopf hängen.

Dann sah er zu ihr auf, und der leere Ausdruck seiner goldenen Augen ließ ihr Herz sich unwillkürlich zusammenziehen. »Was ist los?«

Sie kletterte in den Kastenwagen hinauf und näherte sich ihm. Zwischen seinen Füßen lag ein Buch, eine Art Tagebuch mit weichem schwarzem Einband. »Was machst du hier draußen?«, fragte sie ihn und setzte sich ihm im Schneidersitz gegenüber. »Hast du noch was in Dragos’ Akten gefunden?«

Er hob das Tagebuch auf und gab es ihr. Als er redete, war seine Stimme völlig ausdruckslos. »Es war bei den Papieren in dem Aktenkoffer drüben im Haus.«

Corinne runzelte die Stirn, schlug das Buch auf und betrachtete den krakeligen handschriftlichen Eintrag auf der ersten Seite. »Ist es ein Laborbericht?« Als Hunter nicht antwortete, blätterte sie nach vorne und überflog Dutzende von Einträgen, Seite um Seite von handschriftlichen Aufzeichnungen. »Das ist ein Geburtszertifikat. Mein Gott, das ist die detaillierte Dokumentation eines Killers aus Dragos’ Gen-Eins-Zuchtprogramm.«

»Seines allerersten Killers«, antwortete Hunter.

Die Erkenntnis traf sie, noch bevor sie zu ihm aufblickte und die Trostlosigkeit in seinem Gesicht sah. Das war nicht einfach nur irgendein alter Laborbericht aus den Anfängen von Dragos’ perversem Zuchtprogramm … das war Hunters eigene Akte.

Mit angehaltenem Atem, unsicher, was sie da erwartete, blätterte Corinne weiter durch das Hauptbuch und las wahllos einen der vielen Einträge im ersten Viertel.

Hunter-Programm Jahr 4

Bericht: Höchstleistungen bei Erziehung und körperlichem Training; Prüfungsergebnis 50 Punkte über anderen fünf Subjekten im Programm.

Es überraschte sie nicht, dass Hunter in allem, was er tat, mit Bestnoten abschnitt, selbst als kleiner Junge. Sie hatte die Luft angehalten, jetzt entfuhr sie ihr mit einem kleinen Seufzer, und sie wandte sich einem Eintrag etwas weiter hinten zu.

Jahr 5

Bericht: Erste Konditionierung erfolgreich abgeschlossen; Subjekt aus Labor entfernt und in Einzelzelle verlegt; Grundversorgung und Disziplin von Betreuer (Lakai) überwacht.

Sie blätterte etwas weiter.

Jahr 8

Bericht: Körperliche Fitness und Intelligenz übertreffen alle Erwartungen; Aneignung diverser Exekutionstechniken in Theorie und Praxis erfolgreich absolviert; Betreuer empfiehlt Training am lebenden Objekt.

Und dann folgte eine Reihe Einträge, offenbar nur von wenig später, die Corinne das Blut in den Adern gefrieren ließen:

Jahr 8

Bericht: Erste Exekution erfolgreich absolviert; Ausbildung im Gelände an menschlicher Beute getestet (kein Zweikampf).

Bericht: Erfolgreiche Exekution von heranwachsendem zivilem Stammesvampir; angewandte Methoden: Nahkampf mit kurzen Dolchen (Subjekt und Zielperson gleich bewaffnet).

Bericht: Erfolgreiche Exekution von erwachsenem zivilem Stammesvampir; angewandte Methoden: Nahkampf mit kurzen/langen Dolchen (Subjekt unbewaffnet; Jagd- und Fangtechniken hervorragend, setzt Gelände und Training effizient ein).

Die Kälte, die sie vor einem Moment gespürt hatte, war jetzt zu einem Eisklumpen in ihrem Magen geworden. Übelkeit stieg in ihr auf beim Gedanken daran, wie abgrundtief böse jemand sein musste, um ein Kind zu einem seelenlosen Monster abzurichten, wie Dragos sie offenbar als seine Soldaten haben wollte. Sie sah auf zu dem stoischen Gen Eins, diesem erfahrenen Killer, der irgendwie ihr Freund und Geliebter geworden war, und sie spürte keine Angst oder Verachtung dafür, was man aus ihm gemacht hatte.

Er bedeutete ihr so viel.

Sie musste nicht erst ihr Herz befragen, um zu wissen, dass sie ihn liebte.

Mit brennenden Augen und von Emotionen zugeschnürter Kehle blätterte sie einige Seiten weiter in diesem schrecklichen Buch.

Jahr 9

Bericht: Betreuer meldet beunruhigenden Anstieg der Wissbegierde; Subjekt fragt häufig nach Lebenszweck und persönlicher Abstammung.

Bericht: Subjekt hat wahllos Bücher aus Betreuerquartier gestohlen und in Zelle versteckt; Belletristik, Biografien, Philosophie und Poesie.

Dieser spezielle Eintrag war mit einem wütend hingekritzelten Zusatz versehen.

Beschluss: Zugang zu anderer als programmrelevanter Lektüre unterbinden – nur technische Handbücher und Lehrbücher erlaubt.

Maßnahme: Betreuer angewiesen, verbotenes Material aus Zelle zu entfernen und von Subjekt verbrennen zu lassen.

Beachten: Im weiteren Verlauf des Programms Rebellion als Risikofaktor einkalkulieren. Subjekte hochintelligent, natürliche Raubtiere und Eroberer. Mit Disziplin allein voraussichtlich nicht kontrollierbar.

Prozessverbesserung: Technologieabteilung mit Entwicklung technischer Mittel beauftragen, um Gehorsamkeit und Loyalität der Subjekte im Killerzuchtprogramm sicherzustellen.

Corinne klappte das Bestandsbuch zu und setzte sich neben Hunter.

Sie war sprachlos, ganz überwältigt von Trauer um den Jungen, dem man nie erlaubt hatte, ein Kind zu sein, und beschämt von dem Mann, der in so einer einsamen, lichtlosen Hölle groß geworden war, ohne seine Fähigkeit zu Mitgefühl und Ehre zu verlieren.

Sie nahm sein Gesicht in die Hände und drehte es sanft, bis er sie ansah. »Du bist ein guter Mann, Hunter. Du bist so viel mehr, als Dragos wollte. Du bist besser als die Summe deiner Vergangenheit. Das weißt du doch, oder?«

Mit finsterem Gesicht entzog er sich ihrem Griff und schüttelte den Kopf. »Ich habe sie umgebracht.«

Er sagte diese schrecklichen Worte ganz ruhig, stellte einfach nur eine Tatsache fest.

»Wovon redest du?«

»Steht alles da drin«, sagte er und zeigte auf das schreckliche Bestandsbuch in ihrem Schoß.

Ihr graute davor, welche Abscheulichkeiten sie noch in Hunters Kindheit und Jugend finden würde, aber offensichtlich hatte er das ganze Ding von vorne bis hinten durchgelesen. Sie nahm es wieder vom Boden und schlug es auf. Dieses Mal las sie langsamer, las die Details seiner Geburt und der Wochen und Monate danach, in denen er, anders als ihr Sohn, vom Blut seiner eigenen Mutter genährt wurde statt von Fremden. Ihr hatte man sogar diese kleine Freude versagt.

Und dann … sah sie es.

Bericht: Wenn von Mutter getrennt, zeigt Subjekt klare Trennungsangst; Schwäche diagnostiziert; Verhaltensstörung korrigieren.

Maßnahme: Kontakt zu Mutter abgebrochen; Nahrungsaufnahme auf andere menschliche Quellen und/oder Lakaien umgestellt.

Corinne blätterte einige Seiten weiter, angesichts einer unguten Vorahnung zitterten ihr die Finger, als sie den Eintrag fand, gegen den alle anderen harmlos wirkten:

Jahr 2

Bericht: Zufallsbegegnung mit Mutter im Labor; Subjekt reagiert emotional, als betreuender Lakai Kontakt verweigert; Subjekt beschädigt Laborausrüstung und zeigt klare Trotzhaltung.

Beschluss: Im Interesse der Ausbildung des Subjekts potenzielle Ablenkungen zukünftig ausschließen.

Maßnahme: Mutter getötet; Programmrichtlinien mit sofortiger Wirkung modifiziert, um Interaktion zukünftiger Subjekte und Mütter zu verhindern; Subjekte sind ausschließlich von Lakaien zu versorgen.

Corinnes Augen waren zu feucht, um weiterzulesen. Hasserfüllt stieß sie die Dokumentation von Dragos’ Wahnsinn von sich weg.

Hunters Stimme neben ihr klang hölzern. »Ich habe meine Mutter umgebracht, Corinne.« Er sagte es völlig ausdruckslos und schien gar nicht zu merken, dass ihm ein paar Tränen über sein steinernes Gesicht rannen.

»Du hast gar nichts dergleichen getan.« So zärtlich, wie sie nur konnte, streckte Corinne die Hand aus und strich mit dem Daumen über die feuchten Spuren auf seiner gerötete Wange und seinem angespannten Kiefer, und vor Kummer und Mitgefühl für ihn wollte ihr fast das Herz brechen. »Dragos hat das getan, nicht du.«

»Meine Mutter ist tot wegen mir, Corinne. Weil ich sie liebte.«

Die Schuldgefühle in seinen Augen waren so endlos, dass sie kaum Worte fand, um ihn zu trösten. Nichts, was sie sagte, konnte den Schmerz lindern, den er fühlen musste. Verlust tat immer weh, egal wie lange er schon zurücklag.

Corinne wusste aus erster Hand, wie seelenlos Dragos war, also hätte es sie nicht überraschen sollen, dass er die natürliche Bindung eines Kleinkindes an seine Mutter als Schwäche betrachtete. Als Verhaltensstörung, die sich in seinem sadistischen Programm mit einer einfachen, endgültigen Maßnahme korrigieren ließ.

Beim Gedanken, dass Hunter nach all dieser Zeit mit den Konsequenzen leben musste und auch noch glaubte, dass er schuld daran war, hätte sie Dragos am liebsten mit den Fingernägeln das rabenschwarze Herz herausgerissen und es in ihrer Faust zermalmt.

Stattdessen legte sie die Arme um Hunter und zog seinen riesenhaften Körper eng an sich. Sie küsste ihn auf den Kopf und wiegte ihn sanft, und ihre Arme spendeten diesem mächtigen Mann, der jetzt reglos auf ihrem Schoß lag und in tiefes Schweigen verfallen war, Schutz und Trost.

»Du hast nichts falsch gemacht«, versicherte sie ihm. »Es ist nie falsch, jemanden zu lieben.«